Hundert Jahre Herzwerk

Das Unternehmen Stockmar begeht das erste Jahrhundert getreu seiner Philosophie und Kultur als «Verabredung mit der Zukunft».


Hans Stockmar kann man wohl zurecht als einen Weltbürger im besten Sinne bezeichnen. Seine frühen Jahre sind geprägt von einer starken geografischen Bewegung – 1890 in Sydney geboren, verbringt er die ersten Schuljahre in Kairo, San Francisco, London und Montreux. Eine kaufmännische Ausbildung in Bremen bricht er ab und besucht die Schauspielschule in Berlin. Auch wenn er in der Schauspielerei zumindest nicht beruflich Fuß fasst, so kann man doch sagen, dass er in diesem Umfeld erstmals so etwas wie eine innere, seelische Heimat findet. Auch wenn er immer noch nicht seinen Lebens-‹Ort› gefunden hat.

Nach dem kurzen Besuch einer Landwirtschaftsschule wandert er mit seiner späteren Frau Vilma nach Neuseeland aus. Dort wird mit dem Aufbau einer Großimkerei der Grundstein für das später entstehende Unternehmen Stockmar gelegt. Aus der mit der Imkerei verbundenen Wachsgewinnung entsteht die Kerzenproduktion, die im Übrigen noch heute zum Sortiment gehört. Auch im Firmenlogo findet sich die Bienenwabe und wird somit nicht nur Lebensinhalt, sondern auch Sinnbild für Hans Stockmars Verbundenheit mit diesem Naturschatz – weit über den eigenen Lebensfaden hinaus.

© Enno Kapitza

Das Leben mit den Bienen wird zum Lebensinhalt. In der Arbeit mit diesen wunderbaren Geschöpfen werden schon früh prägende Impulse für Stockmars weitere Arbeit und sein Vermächtnis sichtbar. Noch heute sind Lebendigkeit, Gemeinschaft und Verwandlung zentral beim Unternehmen Stockmar. «Stockmar ist eigentlich Bienenwachs», so sagte es Peter Piechotta einmal. Bienen sammeln Licht und schwitzen Wachs aus und schaffen somit aus Licht etwas Materielles. «Allein der Prozess der Entstehung von Bienenwachs – ein Werkstoff, der aus Licht, Wärme und Liebe entsteht –, das hat für mich eine große Faszination», sagt die Geschäftsführerin Inke Kruse.

Bienen bilden ganz besondere Gemeinschaften, die den Prinzipien des Miteinanders und Füreinanders folgen. Sie sind äußerst sensible Wesen und reagieren unmittelbar auf äußere Einflüsse. Selbst bei größtmöglicher Sorgfalt und Hingabe gelingt es nicht immer, ein Bienenvolk durch den Winter zu bringen. Diese Wesen stehen also auch für das Rätsel der Schöpfung und sind ein Gleichnis für die Unverfügbarkeit des Lebens. Sie schenken uns, was sie aus Licht, Wärme und Liebe produzieren, und dienen damit als Vorbild für eine Arbeitsweise, die auch in wirtschaftlichen Zusammenhängen zukunftsfähig sein kann. Wie aber können diese Qualitäten auch zu unternehmerischen werden?

Licht

Licht ist Voraussetzung alles Lebendigen und stand am Ursprung der Schöpfungsgeschichte. Doch in Zeiten künstlichen Lichts, das die Nacht zum Tag machen kann, fühlt sich ein Leben wider die natürlichen Rhythmen erschöpfend an. Aber nicht nur im Außen streben wir nach dem Licht, wir sehnen uns danach, es auch in unserem Inneren zu entfachen: durch die liebevolle Hinwendung zu dem, was wir und wie wir es tun, durch die Hinwendung zum anderen. Licht wird aber vor allem wahrnehmbar durch seinen Gegenpol, in der Abgrenzung zum Dunkel. Und es wird in seiner Wirkung verstärkt, wenn es uns an Orten erwischt, an denen wir nicht mit ihm gerechnet haben. An den Bruchstellen. Oder wie Leonard Cohen es so schön formulierte: «There’s a crack in everything. That’s how the light gets in.»

Diese Kontraste erzeugen eine Raumwirkung, welche sich die Malerei und Fotografie zunutze machen. Sie dienen also dazu, den Raum zu öffnen und von einer Zweidimensionalität in die Tiefe zu gehen. Zudem erzeugt die Abstufung sowohl Farbtiefe als auch Transparenz, holt also ‹Licht ins Dunkel›. Auch Goethe beschäftigte sich in seiner ‹Farbenlehre› – die er im Übrigen für sein wichtigstes Werk hielt – mit den Polen Hell und Dunkel. Ausgehend von den drei Grundfarben Gelb (hell), Rot und Blau (dunkel) entstehen alle übrigen Farben des sogenannten Farbkreises zwischen den Polen – in der Vermischung der Grundfarben. Oder: Vielfalt durch Komposition! Jeder Farbe wird hierbei eine bestimmte ‹Charaktereigenschaft› zugeschrieben. Farbe wirkt! Diese Erkenntnisse gehören bei Stockmar zur DNA und gehen auch bei den Produkten bis an die Substanz.

Aber auch (unternehmerische) Transparenz bringt Licht ins Dunkel. Das Selbstverständnis des Unternehmens Stockmar entspricht einem Dreiklang von Ökonomie, Ökologie und Sozialem. So ist es selbstverständlich, dass ein Teil der Gewinne über die Neuguss-Verwaltungsgesellschaft gemeinnützigen Zwecken zugeführt wird. Dass sich das Unternehmen für Biodiversität und die Erhaltung der ökologischen Landwirtschaft einsetzt. Und dass im Unternehmen selbst eine ästhetische Unternehmensführung etabliert ist und fortwährend wirkt, die beweglich genug ist, den jeweiligen individuellen Bedürfnissen aller Mitarbeitenden und Partner aufs Neue gerecht zu werden. Und dabei dennoch erfolgreich wirtschaftet.

«Das Herz wird zum Ort, von dem Zukunftskräfte in die Welt hinaus­strahlen – wenn unser Tun zu wirklichem ‹Herzwerk› wird.»

Jelle van der Meulen

Wärme

Kälte und Wärme spielen bei der Produktion von Wachsprodukten eine wesentliche Rolle. So muss das Wachs zunächst geschmolzen werden, um anschließend in die gewünschte Form gebracht zu werden. Wärme verflüssigt, macht formbar, flexibel. Kälte erhärtet, stabilisiert, gibt Form. Diese Technik liegt den Ursprüngen, der Wachsgießerei zugrunde. Und sie findet noch heute Anwendung in den manufakturartigen Herstellungsverfahren des Unternehmens. In der ausgleichenden Mitte dieser Prozesse steht der Mensch. Das Naturprodukt Bienenwachs unterliegt sensiblen Schwankungen. Und so ist es elementar, dass die Produktionsprozesse durch den Menschen begleitet werden. Die Kunst des Ausgleichs, des richtigen Moments, der richtigen Textur und Farbe obliegt dem Menschen an der Maschine. «Wer mit seinen Sinnen, seinem Kopf und seinem Herzen arbeitet, ist ein Künstler», sagte Franz von Assisi.

Der Werkstoff Wachs ist aber gleichermaßen auch zu verstehen als Gestaltungsauftrag. Es braucht für die Begegnung mit dem Produkt die Wärmequalität. Es braucht den (Gestaltungs-)Willen des Schaffenden, um Form annehmen zu können. Die lebendigen Materialien Wachs und Farbe sind Lehrmeister für unternehmerische und soziale Prozesse. Das künstlerische, kreative Tun hat im Hause Stockmar Tradition. Es findet sich einmal in der Ausrichtung auf Prozesse und Produkte. Es lebt in Kooperationen mit Ausbildungsstätten und Hochschulen. Und ebenso strahlt es nach innen. Mitarbeitende können sich nicht nur in regelmäßigen Workshop-Angeboten künstlerisch betätigen. Auch der Stockmar eigene Thinktank schafft ‹Raum für Kreativität›.

Aber Kunst ist hier nicht nur im Sinne von bildender Gestaltung zu verstehen. Vielmehr richtet sich der schaffende Prozess auch darauf aus, «dass sich Fruchtbares für die Welt im Tun verwirklichen kann». Ein- und Ausatmen in Bezug auf Produkt, Mitwelt, Lieferanten ist ein künstlerischer Prozess, der bewusst gepflegt wird. Kunst macht nicht nur Sinn, sie berührt auch alle Sinne. Indem der Mensch künstlerisch tätig wird, erfährt er sich als schöpfender, schaffender Mensch. Zudem ist Kunst auch gesellschaftlich relevant – das wissen wir spätestens seit Beuys. Nicht nur mit seinen Produkten, sondern vor allem auch mit seiner Haltung will Stockmar unterstützen helfen, dass Kunst und Sinnstiftung zueinanderfinden, damit heilsame Impulse für die Gesellschaft entstehen. Art makes sense (Kunst macht Sinn).

© Enno Kapitza

Liebe

In Vorbereitung des diesjährigen Jubiläums trat im Unternehmen immer wieder die Frage auf, was genau es anlässlich von 100 Jahren Stockmar eigentlich zu feiern gibt. Natürlich schaut man zunächst bei solchen Anlässen auf das Gewordene. Aber tatsächlich gilt der Unternehmensimpuls der Zukunft. Er richtet sich aus Tradition auf das Wohlergehen heutiger und zukünftiger Generationen aus. Bei der Frage, wer zukünftig die Welt gestaltet, sind wir ganz schnell beim Kind. Stockmar-Produkte sind in ihrer Beschaffenheit so angelegt, dass sie genau dieses Erleben von ‹Ich kann gestalten!› unterstützen. Die Produkte folgen damit einem Impuls, der im zurückliegenden Jahrhundert aus den Waldorfschulen kam. Aber auch über die Produkte hinaus versteht sich das Unternehmen als verantwortlicher Teil dieser Welt, und deshalb sind alle Blickrichtungen auf das Kind, also die Zukunft auszurichten und es gilt verantwortungsvoll im Sinne des Gemeinwohls zu agieren. Das kann man als Grundgeste des Hauses Stockmar bezeichnen.

Hans Stockmar hat nicht nur einen ganz besonderen Betrieb mit den heute bekannten Produkten hinterlassen. Er hat diesem Haus, den Produkten und der damit verbundenen Haltung seinen Namen geliehen. Stockmar ist im Verlauf von 100 Jahren zu einer eigenen Persönlichkeit geworden. Zu einem Sinnbild, zu einem geflügelten Wort, zu einem Wert, der eine Lebensweise ausdrückt, die sich mit Respekt, Wertschätzung, Dialog und an der Zukunft ausgerichtetem Gestaltungswillen zeigt. Diese Haltung ist es, die Stockmar mit Partnern, Partnerinnen, Freunden und Freundinnen des Hauses verbindet. Das Jubiläum, das Feierliche an 100 Jahren Stockmar ist so etwas wie die ‹Verabredung mit der Zukunft›. Als eine Gemeinschaft, die von dem unbedingten Willen getragen ist, zu wirtschaften, um sozial wirksam zu sein. Diese Zukunftsausrichtung ist getragen von Demut und Dankbarkeit. Aber auch von der Gewissheit, dass die Zukunft es nicht nur wert ist, sondern auch, dass es schaffbar ist, sie zu gestalten.


Alle Foto: © 2022 Hans Stockmar GmbH & Co. kg, Kaltenkirchen.

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