Eine neue Politik für Europa und die Welt

«Wir alle sind Spieler an Bord des Schiffes Erde, und wir dürfen nicht zulassen, dass es zerstört wird. Eine zweite Arche Noah wird es nicht geben», so Michail Gorbatschow in seinem Buch ‹Perestroika› (Umgestaltung, Neuordnung), das er nach seinem Amtsantritt als Generalsekretär der Kommunistischen Partei 1985 geschrieben hat (S. 12).


Der Untertitel des Buches war vielversprechend: ‹Die zweite russische Revolution. Eine neue Politik für Europa und die Welt›. Für die Generation, die miterlebt hat, dass Gorbatschows Worten unmittelbar auch Taten folgten, grenzte dies an ein Wunder: Der Kalte Krieg mit seinem gnadenlosen Wettrüsten, der seit Jahren Europa in Angst und Schrecken hielt, wurde beendet. Danach war plötzlich auch der Weg frei für eine mögliche Wiedervereinigung Deutschlands und die Neuordnung Europas. Der bisherige Sowjetstaat zerfiel – man konnte mit einem Mal problemlos nach Russland reisen, und umgekehrt begegnete man überall in Europa begeisterten Touristinnen und Touristen aus Russland.

Das deutsche Wochenmagazin ‹Die Zeit› nannte Gorbatschow anlässlich seines Todes am 30. August 2022 «eine Ausnahmeerscheinung der Geschichte». Elena Chizhova, Schriftstellerin in Sankt Petersburg, schrieb für die ‹Neue Zürcher Zeitung› ein Feuilleton mit der Überschrift: ‹Und aus dem Osten kam ein Mensch› (‹NZZ›, 2.9.2022). Darin berichtet sie: «Natürlich war die Mehrheit unserer Bürger absolut sowjetisch geblieben. Aber meine eigene Welt veränderte sich mit kosmischer Geschwindigkeit. Im Jahr 1989 überschritt ich erstmals die Grenze der Sowjetunion. Im Zug von Leningrad nach Helsinki hatte ich ein Gefühl, das mit Worten nur schwer zu beschreiben ist: als würde ich mich beim Überqueren der stilisierten Linie des Eisernen Vorhangs nicht nur im Raum bewegen, sondern nach langjähriger hoffnungsloser Verbannung in eine ungeheuer große Welt zurückkehren. Ich glaube, in jenen Jahren entdeckte auch Gorbatschow für sich die große Welt und die westlichen Menschen. Ich erinnere mich an seinen Gesichtsausdruck, als er aus dem Auto stieg und Margaret Thatcher entgegenging: mit einem leicht befangenen, aber zugleich aufrichtigen Lächeln. In dem Moment kam mir der ‹Sozialismus mit menschlichem Antlitz› in den Sinn – ein sowjetisches Mythologem, auf das Gorbatschow in seinen Reden häufig zurückgriff. In dem Augenblick war er selbst die Verkörperung dieses Ausdrucks. Kein Wunder, vertraute ihm Margaret Thatcher: Zum ersten Mal in 70 Jahren war ‹aus dem Osten› kein abstrakter Staatsmann gekommen, leblos und undurchdringlich wie alles Sowjetische, sondern ein lebendiger Mensch.» Als Gorbatschow in Moskau im Haus der Gewerkschaften aufgebahrt war, haben sich in langer Schlange Tausende seiner Mitbürgerinnen und Mitbürger von ihm verabschiedet – darunter auch erstaunlich viele junge Menschen. (Markus Ackeret aus Moskau in der NZZ vom 5.9.2022)

Gorbatschows Vision

So sehr auch der Westen von Gorbatschows politischem Engagement profitiert hat, so wenig nachhaltig war sein Engagement im eigenen Land, und er musste mit ansehen, dass gerade jetzt, am Ende seines Lebens, die Kluft zwischen West und Ost erneut tief aufgerissen ist. Wie hatte Gorbatschow es vermocht, diese Kluft während seiner Amtszeit zu überbrücken? Was war seine Vision?

Gorbatschow hatte sich mit seinem Buch ‹Perestroika› auch direkt an die Bürgerinnen und Bürger seines Landes und darüber hinaus «der ganzen Welt» gewandt mit den Worten: «Ich habe dieses Buch geschrieben, weil ich an Ihren gesunden Menschenverstand glaube.» Eine Brücke zwischen Ost und West zu bauen, ein europäisches Haus, in dem Selbstbestimmung und Frieden herrschen, das war seine Vision! Und er öffnete dafür die Türen unfassbar weit – das war so unerwartet und überraschend, dass es die verantwortlichen Politiker in Deutschland und den USA zunächst nicht glauben konnten. Will er tatsächlich die Deutschen selbst entscheiden lassen, ob sie sich dem westlichen Bündnis anschließen wollen oder aber vorziehen, nach der Wiedervereinigung ein neutraler Staat zu sein wie Österreich oder Finnland – die Option, die Gorbatschow empfohlen hatte. Sowohl Helmut Kohl und sein Außenminister Genscher als auch George Bush senior und die damalige US-Außenministerin Condolezza Rice glaubten, sich bei den Verhandlungen verhört zu haben – er musste es dreimal wiederholen. Erst dann glaubten sie, dass er seine Worte ernst meinte und Deutschland und Osteuropa die strategische Autonomie tatsächlich gewähren wollte – bedingungslos!

«Wir sind alle Schüler, und unsere Lehrer sind das Leben und die Zeit.»

Das neue Denken

Er wollte tatsächlich den Kalten Krieg beenden und keine neuen Fronten schaffen. Er suchte nach einem neuen Denken, nach einem demokratischen Sozialismus ohne Feindbild, nach einer neuen sozialen Ordnung, die ein friedliches Miteinander der Völker dieser Erde, aber insbesondere der europäischen Länder ermöglicht: «Das Wettrüsten kennt wie der nukleare Krieg keinen Gewinner. Die Fortsetzung eines solchen Wettlaufs auf der Erde und seine Ausdehnung auf den Weltraum würde nur die Anhäufung und Perfektionierung nuklearer Waffen beschleunigen, die ohnehin bereits mit fieberhafter Geschwindigkeit vor sich geht. Es könnte so weit kommen, dass die Weltlage nicht länger von Politikern abhängig ist, sondern Gefangene des Zufalls wird. Wir alle stehen vor der Notwendigkeit, zu lernen, wie man in dieser Welt in Frieden leben kann. Wir müssen uns eine neue Denkweise aneignen, denn die Bedingungen, unter denen wir heute leben, sind völlig verschieden von denen, die 30 oder 40 Jahre zurückliegen. Es ist an der Zeit, damit aufzuhören, die Außenpolitik als Träger einer Politik der Stärke zu betrachten. […] In der Perspektive einer langfristig, in großen Zeiträumen denkenden Politik kann keiner andere unterwerfen. Deshalb gibt es nur eine Alternative – Beziehungen gleichberechtigter Partner. […] Wäre es nicht richtiger, dass wir uns über die uns trennenden Dinge erheben, den Interessen der Menschen insgesamt und dem Leben auf der Erde zu Liebe? […] Die Menschen sind der Spannungen und Konflikte müde. Sie möchten sich lieber auf die Suche machen nach einer sichereren und vertrauenswürdigeren Welt, einer Welt, in der jeder seine philosophischen, politischen und ideologischen Überzeugungen und seine Lebensart beibehalten kann (S. 176 ff.). Dialektisch geschult, wie er war, war es für ihn denkbar, dass jedem Gegensatz, jeder Verschiedenheit der Völker untereinander die dialektische Einheit der Gegensätze innewohnt, weswegen bei gutem Willen eine friedliche Koexistenz in der internationalen Völkergemeinschaft möglich sein muss. Krieg war für ihn keine Fortsetzung mehr der Politik mit anderen Mitteln. In dieser Hinsicht war er Pazifist, tief überzeugt davon, dass es ein neues Denken, eine «Philosophie des Friedens» braucht.

Nie wieder Krieg

Gegenüber dem Wettrüsten und der Kriegsgefahr sah er als einzigen Ausweg, die internationalen Beziehungen humaner zu gestalten. Sein Bekenntnis war: Fortschritt durch kulturelle Entwicklung: «Wir sind alle Schüler, und unsere Lehrer sind das Leben und die Zeit. Ich bin davon überzeugt, dass mehr und mehr Menschen erkennen werden, dass durch die ‹Umgestaltung› im weitesten Sinne des Wortes die Unversehrtheit der Welt garantiert werden wird. Wenn wir uns bei unserem hauptsächlichen Lehrmeister – dem Leben – gute Noten verdient haben, werden wir gut vorbereitet ins 21. Jahrhundert gehen und sicher sein, dass es noch einen weiteren Fortschritt geben wird. […] Der Weg dorthin führt über eine atomwaffenfreie, gewaltfreie Welt.» (S. 334 f.) Seine Hoffnung war: «Wenn führende Politiker diesen Standpunkt erkennen und ihn in die Tat umsetzen, wird dies ein großer Sieg der Vernunft sein. […] Wir wollen, dass im heraufziehenden 21. Jahrhundert überall in der Welt Freiheit herrscht. […] Wir haben diesen Weg eingeschlagen, und wir fordern andere Länder und Nationen auf, dasselbe zu tun.» (S. 335) In dieser Botschaft ließ er sich nicht beirren trotz aller Widerstände und Demütigungen, die er auch in seinem eigenen Land im weiteren Verlauf der Geschichte erfahren hat. So wendet er sich 2017 nochmals mit einem Appell an die Welt: ‹Kommt endlich zur Vernunft – nie wieder Krieg!› Und im September 2019 mit dem Bestseller: ‹Was jetzt auf dem Spiel steht. Mein Aufruf für Frieden und Freiheit›. 2014 erscheint seine Biografie ‹Alles zu seiner Zeit. Mein Leben›, 2001 und 2015 die beiden Russland gewidmeten Bücher, durch die er weiter hoffte, seine Landsleute für das neue Denken zu gewinnen.

In seinen Ausführungen ‹Die Christenheit oder Europa› schreibt Novalis: «Nur Geduld, sie wird, sie muss kommen, die heilige Zeit des ewigen Friedens.» (S. 750) An Gorbatschow konnte man die Begeisterung für ein solches Ideal erleben, aber auch Geduld und die Einsicht, dass ein solches Ziel nur erreichbar ist, wenn es in vielen Menschen lebt und aktiv realisiert wird. Angesichts des Krieges in der Ukraine wirkt ein solches Ideal irgendwie kindlich naiv – die unerträglichen Begleiterscheinungen der kriegerischen Auseinandersetzungen zeigen jedoch klar: Es braucht solche historischen Ausnahmeerscheinungen wie Gorbatschow – Menschen, die von ihrer inneren Freiheit Gebrauch machen und aus dem Rad von Machtpoker und Vergeltung aussteigen. Dann werden friedensfähige Verhandlungen möglich – inspiriert von humanen Werten. Es ist zu hoffen, dass Michail Gorbatschows Gedanken für den Bau des europäischen Hauses weiterhin wirksam bleiben.

Wie verschieden eine solche Lebenshaltung gelebt werden kann, hat Königin Elizabeth II, die neun Tage nach Michail Gorbatschow über die Todesschwelle gegangen ist, in ihrer 70-jährigen Regentschaft gezeigt. Als ihr Weltreich zerfiel, hielt sie es umso kraftvoller moralisch überall dort zusammen, wo man mit ihr als Königin in Verbindung bleiben wollte. Und als der Brexit die britischen Inseln weiter isolierte, trug sie – die Kraft ihres Amtes im Gegensatz zur Gorbatschow kein Buch über ihre eigenen Ansichten schreiben konnte – bei der Parlamentseröffnung am 21. Juni 2017 einen blauen Hut mit gelben Blumen – die Farben der EU-Flagge!

Es ist zu hoffen, dass Michail Gorbatschows Gedanken für den Bau des europäischen Hauses und das weltumspannende versöhnliche Herz von Elizabeth II für uns im Leben Stehende weiterhin Inspirationsquelle bleiben werden. Seinen ‹Chor der Toten› schließt Conrad Ferdinand Meyer mit den Worten: «Wir suchen noch immer die menschlichen Ziele – Drum ehret und opfert, den unserer sind viele!» Eine gedeihliche Zukunft der Menschheit braucht die Zusammenarbeit mit den Verstorbenen.


Bild Michail Gorbatschow, 1987. rian-Archive, cc by-sa 3.0.

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