Editionsqualität

2016 beschloss die Rudolf-Steiner-Nachlassverwaltung im Rahmen ihrer Abschlussplanung der Gesamtausgabe die vollständige, ungekürzte und chronologisch geordnete Neuherausgabe sämtlicher Briefe. 2021 erschien der erste Band einer Edition, die neue Maßstäbe setzt, auch über Steiner hinaus.


«Die Briefe Rudolf Steiners gehören neben den geschriebenen Werken zu den wertvollsten, unmittelbarsten und authentischsten Zeugnissen seines Lebens und Schaffens. In seinen Briefen vertraute sich Steiner den jeweiligen Korrespondenzpartnern an, er berichtet über seine geistige Entwicklung, legt Zeugnis ab über seine schriftstellerische und editorische Tätigkeit, gibt Auskunft über sein Verständnis der eigenen Werke, nimmt Stellung zu sozialen und spirituellen Fragen, ringt gemeinsam um den inhaltlichen und organisatorischen Aufbau seiner anthroposophischen Geisteswissenschaft und beantwortet Sachfragen oder gibt Anleitungen zur spirituellen Schulung.» (David Marc Hoffmann, Martina Maria Sam, Péter Barna1)

Ausgewählte Briefe Rudolf Steiners wurden bisher in zwei Editionen der Rudolf- Steiner-Nachlassverwaltung (1948/53 bzw. 1985/87) herausgegeben, darüber hinaus in zwei Briefwechsel-Bänden der GA (mit Marie Steiner-von Sivers und Edith Maryon) und in Bänden zur Geschichte der Theosophischen und Anthroposophischen Gesellschaft sowie der Esoterischen Schule. Die bisher ca. 700 Briefe der GA-Bände 38 und 39 werden nun durch eine kommentierte sechsbändige, chronologische Edition von ca. 2500 Briefen ersetzt – auf der Basis einer Neutranskription der Handschriften, einem kompletten Erfassen der Briefentwürfe und Brieffragmente in Notizbüchern und Notizzetteln und einer systematischen Sichtung der Briefe an Rudolf Steiner, die Hinweise auf seine Anschreiben enthalten.

2021 erschien der erste der sechs Bände (Wiener Zeit. 1879 – 28. September 1890) und zeigt auf, welches wissenschaftliche Niveau der Herausgabe hier realisiert wird und worin der Gewinn der neuen Editionsprinzipien besteht. Die in den Notizbüchern und Notizzetteln aufgefundenen Briefentwürfe und Fragmente sind inhaltlich wichtig und literarisch bemerkenswert – seien es die Schreiben an Gideon Spicker anlässlich der Übersendung der ‹Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung› (Herbst 1886) oder Steiners erster Entwurf eines Schreibens an (vermutlich) Eduard von Hartmann zum Erscheinen des ersten Bandes von Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften (1. Mai 1884), in dem er auf Goethes ‹Theorie des Organischen› bzw. seine Begründung einer «selbständigen Wissenschaft» der Organik als «Wendepunkt in der Geschichte des geistigen Lebens» einging. Rudolf Steiner entfaltete diese Gedanken auch an anderen Orten, nicht zuletzt in seinen Publikationen (sowie seinen abgesandten Briefen). Dennoch sind die Fragmente von Wert; sie brechen aus unbekannten Gründen ab, haben skizzenhaften Charakter und eine eigene Qualität – so auch Steiners unterstützender Briefentwurf in Bleistift an den engen persönlichen Freund Moritz Zitter vom April 1886, der sich in einer Lebens- bzw. Partnerschaftskrise befand. Wie wichtig die dialogische Qualität des Briefmediums ist, erweist die Berücksichtigung der Schreiben an Rudolf Steiner, die in Anmerkungen zu einzelnen Briefen eingearbeitet wurden. Steiner befand sich mit seinen Korrespondenzpartnern in einem Gespräch, in Rede und Gegenrede, Frage und Antwort, und verfasste keine solistischen Stellungnahmen. Er bewegte sich in der Sphäre der Dialogik und des Zwischenmenschlichen – und viel Wichtiges wird aus den Briefen der anderen deutlich (so, dass sich Steiner 1884 intensiv mit dem Problem des Antisemitismus beschäftigte). Die auszugsweise zitierten Briefe der Freunde zeigen ihn im Spiegel der Anderen, in seinem Sein, seiner Ausstrahlung und seinem Verhalten, auch wenn sie in der Edition nur Aufnahme finden, wenn sie indirekte Hinweise auf verschollene Briefe Steiners geben bzw. den Kontext seiner Schreiben verdeutlichen. Sein ehemaliger Geschichts- und Geografielehrer Albert Löger, der als Altkatholik mit «religionspolitischen Tendenzen» aus dem Schuldienst entlassen wurde, dankte Steiner im Januar 1887 für sein Protestengagement (offenbar in Form eines Artikels).

Martina Maria Sam, David Marc Hoffmann, Péter Barna (Hg.) unter Mitarbeit von Taja Gut: Rudolf Steiner, Sämtliche Briefe, Band 1: Wiener Zeit 1879–28. September 1890. Rudolf-Steiner-Verlag, Dornach 2021

Die wenigen Abbildungen des Bandes sind aussagekräftig und nicht lediglich illustrativ – darunter ein faksimilierter Brief, der sehr wahrscheinlich an Rudolf Rons­perger nach dem Suizid des Vaters hätte gehen sollen, aber in seiner Tendenz zum «Verstummen» (Celan) offensichtlich einbehalten wurde («ich weiß nicht, was ich schreiben soll», 17. Oktober 1881). Einem Brief an Radegunde Fehr legte Steiner ein unvollständig erhaltenes Porträt von sich bei – in der Wirklichkeit des gelebten Lebens und der geführten Beziehung. Man findet in der Briefedition auch ein abgebildetes Blatt, auf das Steiner lediglich «Sehr geehrte Redaktion!» schrieb und das er danach für Studiennotizen über den Magnetismus weiterverwandte – möglicherweise hatte er sich mit einem Manuskript an die Redaktion der ‹Neuen Freien Presse› in Wien Ende 1880/Anfang 1881 gewandt, die seinen Text jedoch ablehnte und zurücksandte (15. Januar 1881). Großartig humorvoll auch Steiners undatierter Briefentwurf «An seine Excellenz dem Herrn Botschafter der Republik Neostadia» – sehr wahrscheinlich an seinen Freund Josef Köck in Wiener Neustadt (Neostadia), mit dem er sich in einem vorübergehenden Disput («bedrohter Friede») befand. Er zeichnete als «Minister der auswärtigen Angelegenheiten Sr Majestät des Königs von Brunn» Ritter von Reniets (Steiner von rückwärts gelesen).

Liest man den gesamten Band durch, die alten und die neu zum Abdruck kommenden Briefe und Briefentwürfe, die sachlichen Anmerkungen und alles, was auf den knapp 500 Seiten zu finden ist, so bleiben tiefe Eindrücke von der menschlichen Werk- und Werde-Welt, die sich schrittweise erschließt. «Ich verfolge ein ganz bestimmtes Ziel, ein ideales Ziel, die Erkenntnis der Wahrheit», schrieb Steiner zwanzigjährig, und das «Feuer der hingebenden Liebe», von dem er seinem Freund Rudolf Ronsperger am 3. August 1881 sprach, lebte in ihm. Eindrucksvoll, wie früh und konsequent er sich an seine wissenschaftlichen und wissenschaftsmethodischen Fragestellungen und Herausforderungen machte, mochte er persönlich auch noch nicht ganz gefestigt und in jeder Hinsicht in Entwicklung sein. («Es ist wahr, ich verspreche und halte nichts, doch nehme meine Versicherung zugleich dass ich nicht versprechen würde, wenn ich nicht den besten Willen hätte alles zu halten», heißt es in einem Freundschaftsbrief ca. 1882/83). Dass viele von Steiners Briefen erhalten blieben und zum Rudolf-Steiner-Archiv gelangten, ist ein Glück. In den Anmerkungen zu einzelnen Korrespondenzen wird vermerkt, auf welchen Wegen die Briefe in Nachlässen gefunden wurden und nach Dornach kamen – so diejenigen an seinen jüdischen Freund Rudolf Ronsperger, die aus den USA über einen Neffen Ronspergers, den Arzt Karl Kautsky, ins Archiv gelangten, so die umfangreiche Korrespondenz mit Joseph Kürschner über den Priester der Christengemeinschaft in Thüringen Ernst Weidauer, der sie in einem Gartenhaus fand. Besonders erfolgreich im Entdecken von Steiner-Briefen waren Emil Bock und Walter Beck; Letzterem gelang es u. a., in einem Wiener Antiquariat den ersten, von Rudolf Steiner herausgegebenen Band der Naturwissenschaftlichen Schriften Goethes (Kürschners ‹Deutsche National-Litteratur›) mit zwei eingeklebten Briefen Steiners an Albert Löger aufzufinden. Indem die neue Ausgabe nicht nur den Standort der Originalbriefe vermerkt, sondern in Einzelfällen auch die Geschichte ihrer Wiederentdeckungen, ist man nicht nur in Steiners Lebensschicksal, sondern auch in das Schicksal seines Nachlasses einbezogen. Freilich wird auch deutlich, wie vieles in der Briefsammlung fehlt («Zu den spezifischen Eigenheiten der Gattung ‹Brief› gehört, dass Briefe abgeschickt werden und damit nicht mehr im Besitz des Urhebers sind», schreiben die Herausgeber des Steiner-Archivs). Moritz Zitter teilte am 28. April 1897 Rosa Mayreder mit, dass er im Besitz von ca. 60 Briefen Steiners an seine enge Freundin und offensichtlich auch Verlobte Friederike (‹Fritzi›) Weiß2 aus den Jahren 1889–1891 sei, und wollte die Briefe mit Mayreder durchgehen, weil sie ihm so wichtig für Steiners Entwicklung schienen («Übrigens könnten wir auch die Rückgabe an Steiner besprechen.») Das weitere Schicksal dieser Briefe ist bis heute unbekannt.

Der bleibende Wert der Edition erschließt sich nicht bei der ersten oder wiederholten Lektüre. Der Leser ist zwar dankbar über die Wiederherstellung der Originalschreibweise, die Aufnahme der Briefentwürfe und Brieffragmente, dankbar für die indirekt ‹erschlossenen› Briefe und die Anmerkungen zur Überlieferung und zum Briefinhalt, auch für das Register der Briefempfänger, die Skizzierung der Editionsgeschichte und die klare Benennung der Editionskriterien. Er ist froh über die Neutranskription der Briefe – auf ihrer Grundlage weiß er nun, dass Steiner dem von ihm hochgeachteten Dorfschullehrer Johann Wurth in seiner Lebensskizze nicht das «Nüsselesen» bescheinigte (Ausgabe 1985), sondern das «Messelesen» (als kindliches Spiel). Der Leser versteht nun auch, dass Steiner in seinem berühmten Brief vom 13. Januar 1881 über eine bedeutende geistige Erfahrung nicht davon sprach, dass er «voriges Jahr» – so die bisherige Transkription – um den inneren Verständnisschritt rang, sondern «von jeher». Insgesamt aber dient eine solch genaue und umfängliche Ausgabe mehr der Zukunft als den Bedürfnissen des Hier und Jetzt. Sie stellt das dokumentarische Material in Gänze und ohne Vorbehalt professionell zur Verfügung; welche Fragen und Aufschlüsse sich daran in welcher Studien- und Forschungssituation ergeben werden, gehört der Welt des Kommenden an.


Grafik Fabian Roschka

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Footnotes

  1. Rudolf Steiner, Sämtliche Briefe, Bd.1, GA 38/1, Rudolf-Steiner-Verlag, Dornach 2021, S. 453.
  2. Vgl. Martina Maria Sam, Rudolf Steiner. Die Wiener Jahre. 1884–1890. Dornach 2021, S. 343–353.

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