Der Zauber des Anfangs

Die Aufnahmen des James Webb-Teleskop zeigen ausgereifte Galaxien in frühster Zeit des Universums. Ist am Anfang schon alles vorhanden?


Entwicklung hat zwei Überraschungen parat. Die erste erfährt man, wenn man zum Beispiel eine Fremdsprache lernt. Wort für Wort, dann Satzteil für Satzteil übt man und dann – häufig über Nacht – löst sich die Zunge, fließt die Sprache. Entwicklung springt. Sie verläuft nicht linear.

Die zweite Überraschung ist geheimnisvoller, ja widersprüchlicher: Auf sie stößt man nicht selten in der ganz persönlichen Entwicklung. So führt innere Versenkung, meditative Praxis dazu, dass man demütiger wird, dass in der Seele die Devotion wächst. Zugleich gilt, dass Demut die Voraussetzung ist, um überhaupt in eine meditative Verfassung zu kommen. Als würde sich die Zeit umkehren, ist das Ergebnis zugleich Voraussetzung, ist das Ziel Bedingung. Ist man hier einmal aufmerksam geworden, begegnet einem dieses Rätsel immer wieder. Im Bildband ‹Das offene Geheimnis› stellt Walter Schels Neugeborene und sehr alte Menschen fotografisch gegenüber und zeigt, wie viel vom Ausdruck bei den Kleinsten schon da ist.

Beethoven und Neugeborene zeigen es

Im großen Maßstab sind die Pyramiden Beispiel dieser Verschränkung der Zeit – was menschlich gilt, spiegelt sich menschheitlich. Aus der Mastaba, dem ägyptischen trapezförmigen Grabhügel aus Stein, schufen der Pharao Djoser und sein Arzt und Bauherr Imhotep die Pyramide Saqquara – sechs übereinandergefügte Mastaba-Trapeze. Schon 50 Jahre später entsteht aus dieser Urform der Pyramide unter dem Pharao Snofru unweit von Kairo die klassische Pyramide als Rote Pyramide und Knickpyramide und Snofrus Sohn Cheops baut die größte und vollkommenste Pyramide in Gizeh. Natürlich gab es auch wirtschaftliche Gründe, dass im weiteren Verlauf des alten Reiches Ägyptens die Pyramiden nicht mehr diese Perfektion erreichten und aus Ziegeln statt aus Stein gebaut wurden. Und doch zeigt sich, dass die großartigsten Pyramiden nicht am Ende einer Entwicklung, sondern vielmehr fast an deren Anfang standen. Nicht ein kontinuierliches Wachstum, bei dem jeder Schritt vollkommener als der vorangehende ist, sondern vergleichbar einer Intuition, einem Sprung, scheint am Anfang alles gesagt, wie bei der 3. oder 5. von Beethovens Sinfonien. In den ersten Takten erklingt das Motiv und dann durchwandert man es musikalisch – das Urbild bleibt dem Anfang vorbehalten.

Spiegel des James Webb Teleskops. Foto: NASA Goddard

Junge ausgewachsene Galaxien

Ähnliche Fragen stellen sich die Astrophysiker, nachdem das James-Webb-Teleskop seit vergangenem Sommer nun erste Bilder zur Erde sendet. Das Weltraumteleskop kreist in 1,5 Millionen Kilometern über der Nachtseite der Erde. Geschützt von einem Sonnenschirm, vermag das Teleskop Licht am roten Ende des Spektrums einzufangen. Dazu ist die Apparatur auf eine Restwärme von 3 Grad über dem absoluten Nullpunkt abgekühlt, um Spuren von Wärmestrahlung im Kosmos zu empfangen. Wie ein wegfahrendes Fahrzeug tiefer klingt als ein herbeifahrendes, weil sich einmal die Wellen stauchen und dann dehnen, so leuchtet ein fortstrebender Stern rötlicher als ein auf die Erde zueilender. Christian Doppler, der das Phänomen beschrieb, gab ihm auch seinen Namen. Gemäß der Urknalltheorie strebte am Anfang, vor 15 Milliarden Jahren, die Materie am schnellsten auseinander und verlangsamte sich dann durch die gegenseitige Anziehungskraft. Aus diesem Gedanken folgt, dass diejenigen Sterne und Galaxien am rötlichsten erscheinen und somit am schnellsten fliehen, die am ältesten, am nächsten an dem Schöpfungsmoment vor den errechneten 15 Milliarden Jahren sind.

Das James-Webb-Teleskop fand nun Galaxien mit einer solchen Rotverschiebung, dass davon auszugehen ist, dass sie 350 Millionen Jahre nach dem errechneten ersten Schöpfungsmoment des Universums schon existiert haben müssen. Ivo Labbé und seine Mitarbeitenden von der Swinburne University in Melbourne schreiben in der Zeitschrift ‹Nature›, dass die galaktischen Objekte so groß und ausgereift seien, wie es gemäß der bisherigen Theorie kaum denkbar sei. Die Bilder aus der Urzeit des Universums belegen, dass nach nur drei Prozent von dessen Alter bereits milchstraßengroße Galaxien bestanden haben.

Vollkommenheit am Anfang

Die Raum- und Zeitvorstellungen heutiger Kosmologie fußen auf dem Grundsatz, dass überall und zu jeder Zeit die gleichen Naturgesetze gelten. Wie hier und heute Salz kristallisiert, ist in 100 Millionen Lichtjahren Entfernung und 10 Milliarden Jahren Vergangenheit nicht anders. Wenn in den Anfangsgründen die Naturgesetze ebenfalls in Entwicklung waren, ändern sich alle Zeit- und Raumbestimmungen. Was sich nicht ändert, sind die Beobachtungen des James-Webb-Teleskops, dass nahe am Ursprung von Zeit und Raum schon manche Welten vollkommen waren und dann andere, unsere, diesen Welten folgten. Wenn es so wäre, was würde das heißen? Im Anfang ist schon etwas von der Gegenwart enthalten. Nichts anderes sagt das sogenannte starke anthropische Prinzip der Kosmologie, wenn es um uns Menschen geht: die Wahrscheinlichkeit, dass auf einem Planeten menschliches Leben entstehen konnte, ist so gering, dass das schon am Anfang als Ziel existiert haben muss.


Titelbild Nahinfrarotbild des Galaxienhaufens SMACS 0723; Geschafft mit James Webb Teleskop in Juni 2022. Foto: NASA/ESA/CSA/STScI

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  1. Herzlichen Dank für diese Darstellung! Ein weiterer anschließender Gedanke wäre noch, dass das sich entfernende Fahrzeug mit zunehmender Geschwindigkeit den Dopplereffekt verstärkt und irgendwann die Schallmauer durchbricht und anschließend einen Inversen Klang erzeugt. Bei zunehmender Expansionsgeschwindigkeit der Galaxien treffen wir in dem Moment des Erreichens der Lichtgeschwindigkeit auf eine “Lichtmauer”, deren Durchbrechung mit einer Urknallähnlichen Intensität jederzeit in der Peripherie erlebbar werden kann, so dass der Urknall sowohl vom Punkt, als auch von der gegenräumlichen Peripherie her gedacht werden kann. Jenseits dieser “Lichtmauer” existiert eine Reziproke Zeit, so dass Entwicklung und das chronologische Nacheinander nur noch als Projektion der “kosmischen Idee” in einen beschränkten Beobachtungsraum gelten können. Das Ziel ist der Ursprung…

    1. Stephan Thilo: Herzlichen Dank für diesen brillianten Kommentar, re: ‘Lichtschranke’ und ‘reziproke Zeit’. Wûrde mich sehr interessieren, darüber, falls möglich, mehr zu hören oder zu lesen. Gibt es dazu evtl. Literatur und Kosmologen, die sich damit beschäftigen? Danke für weitere Hinweise. Hugo LUEDERS/Brüssel hlueders@outlook.com

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