Marie Steiner-von Sivers als Bühnenpionierin

Marie Steiner-von Sivers, ausgebildet in Schauspielkunst, arbeitete mit Rudolf Steiner künstlerisch unermüdlich bis zum sogenannten ‹Dramatischen Kurs› von 1924. Nach diesem Kurs und dem Tod Rudolf Steiners ein halbes Jahr später setzte sie ihre künstlerische Suche intensiv und in neuer Form fort: als Pionierin der Regiekunst.


Marie Steiner-von Sivers lernte die Bühnenkunst zwischen 1894 und 1901 durch drei Kulturen, drei Großstädte, drei Frauen, drei Stile und drei Geschichten. Zuerst studierte sie in Paris bei Madame Favart (1833–1908), der sogenannten Königin der Comédie Française. Dann setzte sie ihre Ausbildung in Sankt Petersburg bei der Virtuosin Maria von Strauch-Spettini (1847–1904) vom Kaiserlich Deutschen Theater fort. Schließlich lernte sie in Berlin bei der Österreicherin Serafine Détschy (1858–1927), der besten Spezialistin für Sprachtechnik. So konnte sie ganz verschiedene Theaterkulturen kennenlernen.

1900 begegnete sie Rudolf Steiner in Berlin bei einem seiner Vorträge, was den Beginn einer lebenslangen Zusammenarbeit markierte. Bald darauf entwickelte sich eine künstlerische Beziehung, die auf dem anthroposophischen Erkenntnisweg, der Kosmologie und dem daraus resultierenden Menschen- und Weltbild basierte. Aus diesem Zusammenwirken entstanden Experimente und Praktiken wie die Kunstzimmer, die Inszenierung von Dramen Eduard Schurés, die Mysteriendramen und die Entwicklung der Eurythmie in Verbindung mit der Sprache einschließlich der Sprachgestaltung als Sprachkunst. Sie ebneten den Boden für den Kurs von 1924.1 Marie Steiner-von Sivers suchte intensiv nach den theoretischen und praktischen Grundlagen für eine spirituelle Theaterreform.

Die transformative Kraft des Kurses von 1924

Der von Rudolf Steiner und Marie Steiner-von Sivers im September 1924 gegebene ‹Kurs für Sprachgestaltung und Dramatische Kunst› markierte einen zentralen Wendepunkt für Marie Steiner-von Sivers. Sie wandelte sich von einer Schauspielerin zur Regisseurin. Nach Rudolf Steiners Tod intensivierte sich ihr Bestreben, die gemeinsam begonnene Arbeit fortzusetzen. Dies führte zu etwa 23 Jahren ununterbrochener künstlerischer Forschung, zusammen mit dem neu gegründeten Ensemble, damals ‹Thespiskarren›2 genannt. Von diesem Zeitpunkt an wurde das Wissen ausschließlich an die Mitglieder des Ensembles weitergegeben, das in diesen 23 Jahren auf 48 Mitglieder anwuchs.3

Der Höhepunkt in der Theaterkarriere Marie Steiner-von Sivers’ sowie des Schauspielensembles am Goetheanum war die in der gesamten Theatergeschichte erste Gesamtinszenierung von Goethes ‹Faust I› und ‹Faust II›. ‹Faust I› wurde am 7. und am 9. Mai 1937 in Straßburg in einer ungekürzten Fassung aufgeführt. Am 20., 22. und 24. Oktober 1937 wurden Szenen aus ‹Faust I› und ‹Faust II›, ‹Hieram und Salomo› von Albert Steffen und ein Eurythmie- und Sprechchorprogramm an der 19. Weltausstellung in Paris während der ‹Semaine Artistique du Goetheanum› aufgeführt. In diesem Kontext erhielt Marie Steiner-von Sivers die Möglichkeit, als künstlerische Leiterin Verantwortung für einen offiziellen Beitrag der Schweiz zu übernehmen.4

Eine Pionierin in mehrfacher Hinsicht

Die Rolle der Regisseurin, die sie viele Jahre lang innehatte, machte sie zu einer Pionierin der Schauspielregie. «The woman director as specialist was a rarity until the 1930s»5 und Frauen in männlich-dominierten Positionen tauchen im Allgemeinen erst mit dem kulturellen Wandel der 1970er-Jahre in den Geschichtsbüchern auf, obwohl sie in jeder historischen Periode und in allen kulturellen und wissenschaftlichen Kontexten immer präsent und aktiv waren. Regie zu führen war und ist immer noch weitgehend als männliche Tätigkeit konzipiert.6

Pionierin war sie auch in Bezug auf den Aspekt der Regie als Beruf, der erst um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert aufkam7 und darin bestand, Regie als Kunst zu begründen und von einem organisatorischen zu einem ästhetischen Vorgang aufzuwerten. Denn bis zu diesem Zeitpunkt wurde die Regie als Büro- und Organisationsarbeit verstanden.

Hinzu kommt, dass der Kurs für ‹Sprachgestaltung und Dramatische Kunst› für die im selben Jahr gegründete Sektion für Redende und Musizierende Kunst8 sowie für Fachleute der darstellenden Künste gedacht war. Als Leiterin der Sektion für Redende und Musizierende Kunst an der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft bis 1948 spielte Marie Steiner-von Sivers auch in diesem Sinne eine Pionierrolle: eine Frau auf einer Professur, noch dazu in einer leitenden Position, war damals Science-Fiction pur.9 Weiblich besetzte Professuren sind auch heute noch ein Thema in der akademischen Welt.

Wieso brauchen wir eine feministische Perspektive?

Marie Steiner-von Sivers hätte sich selbst wahrscheinlich nicht als Feministin definiert, obwohl viele Aspekte ihrer Biografie und ihrer Arbeit in der Gegenwart aus einer feministischen und theatergeschichtlichen Perspektive verstanden werden können – insbesondere ihre Position als Frau im Theaterbereich sowie im historischen Kontext der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Europa.

Ein grundlegender Aspekt, der in den dominierenden Erzählungen unterschlagen wird, betrifft den von Rudolf Steiner und Marie Steiner-von Sivers gemeinsam entwickelten Arbeitsprozess selbst, der schon immer weit weg von patriarchalen Machtdynamiken stattgefunden hat, wie Rudolf Steiners Korrespondenzen und Schriften zeigen. Ferner, als weiteres Beispiel, kann aus den Korrespondenzen abgeleitet werden, dass Rudolf Steiner die an ihn gerichteten Briefe an Marie Steiner-von Sivers weiterleitete, sie als Ansprechpartnerin für alle Fragen der Sprache und der Schauspielkunst nannte und forderte, dass man sich direkt an sie wenden solle.10 In vielen Fällen antwortete sie selbst auf die an Rudolf Steiner gerichtete Korrespondenz. Trotzdem wurde ihre gemeinsame Tätigkeit bis heute unter Annahme patriarchaler Normvorstellungen rezipiert und kritisiert. Zum Beispiel steht in einem Brief aus dem Archiv am Goetheanum, datiert vom Mai 1949, von Herrn Alfred Meebold an Herrn Rösch: «Frau Dr. war eine große Frau, aber sie war eine Frau. Sie hat nicht richtig verstanden im Lauf der Zeit, dass der Dr. sie nur wegen der Passschwierigkeit heiratete.»11 Obwohl Rudolf Steiner von Anfang an betonte, dass der ‹Dramatische Kurs› von ihm und Marie Steiner-von Sivers entwickelt würde12, wird dies immer noch nicht ausreichend dargestellt und so bleibt Marie Steiner-von Sivers oft nur die zweite Instanz. Im Angesicht patriarchaler Narrative zeigt das Bedürfnis nach neuen Erzählungen, wie das Archivieren, Sammeln und Wiederholen von neuen Erzählungen ein zentraler Akt einer feministischen Historiografie werden kann.13

Es scheint heute notwendig, die historische Rolle, das Werk und die Absichten von Marie Steiner-von Sivers zu beleuchten. Ziel ist es, Quellen aus einer feministischen Perspektive zu lesen und aus diesem Blickwinkel eine neue Erzählung zu entwickeln. Der Anspruch besteht darin, eine Gegenerzählung über Marie Steiner-von Sivers zu formulieren. Eine feministisch informierte theaterhistoriografische Perspektive kann dabei als Aufgabe verstanden werden, dem Schaffen von Marie Steiner-von Sivers sowie den Menschen, die ihr Leben geprägt haben, einen Platz im theatergeschichtlichen Kanon zu verschaffen. Beides wurde ihnen bisher nicht zugestanden.


Bild Marie Steiner-von Sivers bei der Probenarbeit im Saal der Rudolf Steiner-Halde Anfang der dreißiger Jahre (20. Jh.), links Edwin Froböse, Foto: Werner Teichert.

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Footnotes

  1. Hella Wiesberger, Aus dem Leben von Marie Steiner-von Sivers. Biographische Beiträge und eine Bibliographie. Dornach 1956, S. 19–23.
  2. Nach Ende des ‹Dramatischen Kurses› im September 1924 wurden Schauspielerinnen und Schauspieler von Rudolf Steiner und Marie Steiner-von Sivers eingeladen, in Dornach weiterzustudieren. Sie schlossen sich unter dem Namen ‹Thespiskarren› zusammen.
  3. Vgl. Beatrice Albrecht, Wegbereiter. Anfänge und Verbreitung des Sprachimpulses von Marie Steiner, Wald 2009.
  4. Vgl. Martina Maria Sam, Rudolf Steiners Faust-Rezeption. Interpretationen und Inszenierungen als Vorbereitung der Welturaufführung des gesamten Goetheschen Faust 1938, Basel 2011, S. 218.
  5. «Eine Frau als Regisseurin war bis in die 1930er-Jahre eine Seltenheit.» In: Cheryl Black, The Women of Provincetown, 1915–1922. University of Alabama Press, 2002, S. 94.
  6. Vgl. Nora Steiner, Regie als Kunst des weissen Mannes? Wie der moderne Regisseur als weisses und männliches ‹Genie› konstituiert ist. Institut für Theaterwissenschaft Universität Bern, Bern Open Publishing BOP, 2023, S. 6.
  7. Vgl. Jens Roselt, Regietheorie. Regie im Theater. Geschichte – Theorie – Praxis, Berlin 2015.
  8. Vgl. Christiane Haid, Constanza Kaliks, Seija Zimmermann (Hrsg.), Goetheanum – Freie Hochschule für Geisteswissenschaft. Geschichte und Forschung der Sektionen, Dornach 2017, S. 187–207.
  9. Neben der Pionierrolle von Marie Steiner-von Sivers sind hier Dr. Ita Wegman (1876–1943), Dr. Elisabeth Vreede (1879–1943), Mathematikerin, Astronomin, Dr. Maria Röschl (1890–1969), Germanistin, Philologin und die früh verstorbene Bildhauerin Edith Maryon (1872–1924), zu nennen. Sie waren alle Pionierinnen in ihren Studien und gewählten Berufen.
  10. Rudolf Steiner Archiv, Briefe von Gottfried Haaß-Berkow an Marie Steiner-von Sivers, 1. Juli 1923. «[…] Herr Dr. [Steiner], hat mich auf meine Anfragen um einem Kursus an Sie, verehrte Frau Doctor, gewiesen.»
  11. Dokument aus den Sammlungen des Archivs am Goetheanum.
  12. Rudolf Steiner, Sprachgestaltung und Dramatische Kunst. GA 282, 4. Aufl. 1996, Rudolf-Steiner-Verlag, Basel 1926, S. 53–55.
  13. Vgl. Blossom Stefaniw, Feminist Historiography and Uses of the Past. In: Studies in Late Antiquity, 3/2020, S. 282.

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