Der Geist – wirkende Wesenheit

Der Geist ist ein Ereignis. Durch ihn ergreift das Ich sich selbst.


‹Geist› ist ein so großes Wort, dass es allzu leicht ziemlich abstrakt bleibt: Geistige Welt, Weltengeist, der Geist in allen Dingen, der Geist der Zeit – all das bezeichnet etwas, was uns sachgemäß nicht fassbar ist. Wir haben eine Ahnung, aber keine konkrete Vorstellung davon. Konkret wird es allenfalls dann, wenn von bestimmten ‹geistigen Wesenheiten› die Rede ist, die die geistige Welt ‹bevölkern› oder die Verhältnisse der sinnlichen Welt ‹von oben her› inspirieren und leiten. Aber sind solche Wesen nicht schon wieder zu sehr in Analogie zur physischen Welt gedacht, um einen Begriff vom Geistigen zu geben? Wenn vom Wesen Anthroposophia oder etwa vom Rechtswesen im Sinne einer handelnden Wesenheit die Rede ist, dann stellt man sich doch leicht ein menschenähnliches Individuum mit Kopf, Rumpf und Gliedmaßen vor – im ersteren Fall weiblich, in letzterem könnte es auch männlich sein –, das handelt und Einfluss nimmt. Aber ist es geistgemäß, sich solche Bilder zu machen? Geht es in der geistigen Welt so ähnlich zu wie in der physischen? In welchem Verhältnis steht überhaupt Geistiges zu Physischem?

Die Geisterfahrung liegt auf der Schwelle

Geist offenbart sich im Physischen, aber nicht als rational und intentional handelndes Subjekt, sondern jenseits von Subjekt- und Objektverhältnissen, immer irgendwie unverfügbar, aber auch nicht willkürlich. Gleichwohl kann es so aussehen, als würde ein natürliches Wesen vollbewusst und zielgerichtet handeln. In jüngerer Zeit wurde beobachtet, dass Pflanzen sich anscheinend intentional und kommunikativ verhalten, etwa wenn sie sich mit Duftstoffen gegenseitig vor Fressfeinden warnen. Oder wenn der Rosenkohl, an dem Schmetterlinge ihre Eier abgelegt haben, mit speziellen Düften Schlupfwespen anlockt, ‹damit› diese die Eier fressen und den Rosenkohl vor dem Untergang bewahren. Hier offenbart sich etwas Geistiges in der Natur, und zwar gerade deshalb, weil der Kohl kein Bewusstsein von dem hat, was er da tut. Ja, er handelt nicht eigentlich, aber es sieht so aus, als täte er es. Die Intentionalität gehört hier in den Bereich des Als-ob, denn Pflanzen handeln nicht willentlich wie wir Menschen, aber es geschieht etwas Sinnvolles – es liegt Geist darin. Wir bewundern diese Fähigkeit der Pflanzen gerade deshalb, weil sie nicht wirklich Handelnde sind. Ergreift ein Mensch Maßnahmen, um sich vor seinem Feind zu schützen, so ist dies eine bewusst-rationale, dem Zweck der Selbsterhaltung dienende Handlung. In ihr offenbart sich nichts Geistiges, sondern etwas Zweckdienliches, wie es eben ein Verstand bewerkstelligen kann. Ein solcher Verstand ist technisch, aber nicht geistig.

Was uns an Offenbarungen des Geistes fasziniert, ist das Sinnvolle, wie wir es in der Natur erleben können. Tatsächlich braucht der Geist die Natur, um in Erscheinung zu treten. Das rein Geistige bleibt im Hier und Jetzt eine Abstraktion. Eine existenzielle Geisterfahrung machen wir an der Schwelle zwischen der Welt der Sinne und der des Geistes, und diese ist für jedes Menschenleben geradezu garantiert. Aber – und hier tritt eben jenes Unbewusste ein, das auch den Rosenkohl die ihn fressenden Larven abwehren lässt – diese Grenze wird unwissentlich, absichtslos überschritten. Das wird in jedem Menschenleben deutlich, denn der physische Leib des Menschen wird durch das Ich zum Organ der Öffnung für Geistiges, und zwar ohne, dass das Ich jene Offenbarung des Geistes bewusst herbeiführt. Ja, in gewisser Weise ist es noch gar nicht da. Es ist dem Menschen aber zugedacht, wenn er jene drei so spezifischen Fähigkeiten ausbildet, die ihn als geistiges Wesen im Irdischen auszeichnen: die Aufrichte, die Sprache und das Denken. Sie werden ihm geschenkt, und zugleich muss er sie ergreifen. Mit ihnen tritt sein Ich auf den Plan, das Geistige im Menschen, das nur durch den physischen Leib zu sich selbst kommen kann. Es spiegelt sich an ihm und kommt zu Bewusstsein.

Der Geist ereignet sich jenseits der Nützlichkeit

Mit dem Bewusstsein aber tritt eine Ambivalenz ins Leben: Mit ihm wird der Mensch vollends des Denkens mächtig, aber dieses Denken tötet auch. Es wirkt abbauend auf den physischen Leib. Es fragt nach Gründen. Es rationalisiert die Welt und macht skeptisch. Wie ein Schlafwandler, der zu Bewusstsein kommt, auf dem Dachfirst keinen Fuß mehr vor den anderen setzen kann und abzustürzen droht, so verliert der sich bewusst werdende Mensch jene Sicherheit, die Pflanze oder Tier eignet. Mit dem Bewusstsein tritt er in die Sphäre des Instrumentellen und Technischen ein. Er erforscht die Welt im Hinblick auf Ursachen und wendet bestimmte Mittel zu bestimmten Zwecken an. All das ist praktisch und lebensdienlich und hat seine absolute Berechtigung, aber Pragmatisches ist seinem Wesen nach nicht geistig. Für das Geistige bedarf es eines anderen als des pragmatischen oder nützlichen Bewusstseins, eines Bewusstseins, das jenseits unseres Willens, jenseits von Zweck-Mittel-Relationen liegt. Ein solches entzieht sich uns immer wieder; gleichwohl kennen wir es gut. Es zeigt sich in den höchsten, alles Menschliche auszeichnenden Verhältnissen wie etwa der Liebe, des Vertrauens oder des Verzeihens.

Die Liebe ist ein Urbild der Überschreitung aller grammatischen und vorsätzlichen Verhältnisse. Man kann sie nicht erzwingen. Und wenn sie da ist, so kann man nichts und doch alles dafür. Liebe ist ein Ergriffensein und Ergreifen in einem, und genau in dieser Ambivalenz gehört sie einem höheren Bewusstsein an, das ganz und gar geistig ist. Dieses Bewusstsein zeichnet den Menschen vor Pflanze und Tier aus, bei denen das Geistige allein im Unbewussten liegt.

Ähnliches gilt für das Vertrauen, das wir als ein Urvertrauen nur bewusstlos haben. Sobald aber das Bewusstsein eintritt, fragen wir nach Gewissheit und verlieren es. Mit dem Bewusstsein können wir zwar freie Entscheidungen im Bereich des Pragmatischen treffen, haben aber nicht die Freiheit, ganz zu vertrauen. Wir können uns ihm zu öffnen suchen, werden es aber nicht unter Garantie erlangen. Wo wir es aber erlangen, stehen wir außerhalb jedes rechnenden Bezugs zur Welt: Es muss sich nicht lohnen. Hier treten wir in die Sphäre des Geistes ein, aus der sich uns ein Weltbezug zuspricht, mit dem wir das Wagnis des Lebens übernehmen können. Die Geborgenheit in der Schutzlosigkeit zu erleben, ist ein Geistereignis, mit dem wir die Schwelle zu einem höheren Bewusstsein überschreiten. Möglicherweise gilt hierfür, dass sich das Verhältnis von Zentrum und Umkreis umkehrt: Wie beim Eintritt ins Nachtodliche machen wir eine Erfahrung, in der wir ein neues, entängstigendes Gefühl der Geborgenheit und des Heilseins erleben, ganz gleich, was passiert. Dieses Vertrauen, das wir nur leisten können, wenn es uns auch gegeben ist, ist eine Erfahrung des Geistes.

Auch der Akt des Verzeihens ist wesentlich eine Tat an der Schwelle. Das zeigt sich darin, dass man zwar verzeihen will, es aber nicht kann. Zum Gelingen gehören eigene Anstrengung und die Gnade der Befähigung. An diesem Punkt überschreiten wir die Schwelle zum Geistigen oder umgekehrt: der Geist des Verzeihens tritt zu uns über. Der Geist ist der Funke, der unser höheres Bewusstsein entfacht. Das geschieht nicht voraussetzungslos, ist aber auch nicht einfach machbar. Hier waltet das Mysterienprinzip des Zirkels in der Sehnsucht nach der Befähigung, denn irgendwie muss man schon verziehen haben, um verzeihen zu können.


Malerei Cornelia Friedrich, ‹Räume›, 120 cm × 110 cm, Tusche und Acryl auf Leinwand, 2021.

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