Gerard Wagners Farbempfinden

Ein prachtvoller Bildband mit Schwerpunkt auf den Übungsreihen, die für den Maler Gerard Wagner charakteristisch waren.


Der umfangreiche Textteil ist angenehm zu lesen und kann durchaus als Ergänzung und Erweiterung der ausführlichen Biografie Gerard Wagners von Caroline Chanter aufgefasst werden. Man lernt Wagner in diesem Band von seiner Vorgehensweise als Maler kennen und ist gleichsam eingeladen, ihm diesmal in sein Atelier zu folgen und ihm beim Malen über die Schulter zu sehen. Chanters Stil bleibt dabei wohltuend beschreibend, sachlich und einfühlsam. Sie beweist in ihrer Auswahl der herangezogenen Bilder und Zitate eine breite und fundierte Kenntnis des Werkes. Es werden nicht Verallgemeinerungen geliefert, auch keine Anleitungen zum Bildaufbau vorgemalt, sondern einfach Bildbeispiele, vorwiegend Metamorphosen, aus Wagners Werk vorgestellt und mit knappen Vorgehenshinweisen kommentiert. Ob dies jeweils nachvollziehbar wird oder nicht, bleibt glücklicherweise der lesenden Person überlassen. Man ist aufgefordert, innerlich aktiv in die Bildfolge hineinzuspüren und den Vorgang anhand der Farbveränderungen nachzubilden. Dabei kann eine meditativ verdichtete Betrachtungsweise entstehen, die innerlich lebendig wird. Rezepte entstehen auf diese Weise keine. Man darf in ein intensiv betrachtendes Gespräch mit den zahlreichen, vielfach bisher unbekannten Bildreihen eintreten und gewinnt viele von ihnen lieb.

Wagners wach empfindende, forschende Art, mit Farbe umzugehen, wird an den Bildbeispielen eindrucksvoll deutlich und mit sorgfältig ausgewählten Texten von ihm selbst unterstrichen. Dies werte ich als besonderen Verdienst dieses Buches. Es wird ein Weg sichtbar, der sich auf eine bemerkenswert sorgfältige, systematische Weise an den von Rudolf Steiner gegebenen Angaben und Beispielen zum Malen orientiert, und so lernt man, ganz nebenbei, obwohl es eigentlich um Wagner geht, auch wesentliche Aspekte von Steiners Anliegen bezüglich der Malerei kennen. Dies vor allem, indem einige der Motive Steiners durch Gerard Wagners Metamorphosen in Beziehung miteinander treten, diese Beziehungen an den Farbveränderungen nachempfunden werden können und so die Einzelmotive von innen her, vom Farbempfinden her, neu verstanden werden können. Dies verleiht dem Buch einen besonderen Wert.

Im zweiten Teil des Buches, der sich vertieft mit der Methode Wagners auseinandersetzt, wird exemplarisch der Bildaufbau eines Steiner-Motivs anhand eines ausführlichen Brieftextes von Wagner entwickelt. Hier wird der besondere Ansatz, der strikt von einem im wachen Farberlebnis verkörperten Gleichgewichtsempfinden ausgeht, in besonderer Prägnanz deutlich. Dieser Ansatz wird auch in Beziehung gesetzt zum Goetheanum-Bauimpuls, der den Menschen als Grundmaßstab hat. Die Art, wie dies geschieht, lässt die Aktualität des anthroposophischen Kunstimpulses deutlich werden. Wieder ein Verdienst dieses Bandes.

Mit dem im Anhang abgedruckten Referat der Farbvorträge Steiners von Albert Steffen ist man etwas allein gelassen. Man muss die Bezüge zu den Bildern von Wagner selbstständig suchen. Hier fallen etwa die Übungen zu den Farbgesten ins Auge. Oder es kann auffallen, dass die vier Bildfarben im ausführlich besprochenen Bildbeispiel als Gesamtheit auftreten. Außerdem kann das von Steiner über die Tier- und Pflanzendarstellung Gesagte anhand der zahlreichen entsprechenden Bildbeispiele verfolgt werden, aber man muss es selber suchen.

Insgesamt bildet das Buch eine wertvolle und wesentliche Ergänzung zu den bereits veröffentlichten, grundlegenden Bildbänden und der ausführlichen Biografie Wagners von Caroline Chanter.


Buch Caroline Chanter, Aus der Farbe zur Form – Einblicke in Gerard Wagners Umgang mit Rudolf Steiners Hinweisen zum Malen, Verlag am Goetheanum, 2023

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