Wie verhalten sich Waldorfpädagogik und Anthroposophie zueinander?

Teil 3 – In der Begründung der Waldorfpädagogik werden anthroposophische Kernthemen zu Grundlagen.


In den folgenden Abschnitten wird auf einige rein anthroposophische Themen in den pädagogischen Darstellungen Steiners eingegangen. Es geht eher um eine elementare Auflistung dieser Themen, ohne sie an dieser Stelle gründlich herzuleiten oder umfassend zu erörtern. Es handelt sich um Themenkomplexe, die nicht für einen öffentlichen Diskurs bestimmt waren und sind, wohl aber für die Lehrerinnen und Lehrer des (ersten) Waldorfschulkollegiums. Die folgenden Ausführungen sollen beschreiben, in welchem Zusammenhang diese Themen in den pädagogischen Vorträgen Steiners auftauchen. Nicht gesagt ist damit, welchen Stellenwert sie heute in welchem Zusammenhang einnehmen sollen. Das hat jede Ausbildungsinstitution, jedes Kollegium und vor allem jede Pädagogin, jeder Pädagoge frei für sich zu entscheiden.

Kernthema I: Reinkarnation und Karma

Zu der differenzierten Anschauung des Menschen mit seiner gegliederten Leiblichkeit und ebenso gegliederten Geistigkeit gehört der Entwicklungsaspekt der wiederholten Erdenleben. Das Ich des Menschen bildet die Leiblichkeit um und es bildet in der Auseinandersetzung mit der Leiblichkeit wiederum seine Geistigkeit aus. Ein Erdenleben reicht bei dieser Aufgabe nicht aus. Bereits in dem pädagogischen Erstlingsaufsatz Steiners ‹Die Erziehung des Kindes…› taucht an zwei Stellen der Aspekt der Wiederverkörperung auf (Steiner, GA 24, S. 317 und S. 318).

Immanent ist in der Wiederverkörperungsanschauung der Aspekt der Vorgeburtlichkeit und der Nachtodlichkeit enthalten. Mit Nachdruck wird für die ersten Lehrerinnen und -lehrer die Notwendigkeit geschildert, die Präexistenz des Menschen in das Menschenverständnis einzubeziehen, um mehr Selbstlosigkeit in die Zivilisation einfließen zu lassen. Der pädagogische Prozess selbst wird als «Fortsetzung» der Präexistenz geschildert. Zugleich betont Steiner den grundlegenden Unterschied des vorgeburtlichen leibfreien Zustandes und des verkörperten Zustandes nach der Geburt. Die Verkörperung (Inkarnation) und die damit verbundene Umkleidung mit dem von den Eltern geerbten stofflichen Leib ist ein großer Eingriff, der einer «Krankheit» gleichgesetzt werden kann. «[O]hne solche radikalen Vorstellungen kommt man nicht hindurch zu der Realität dessen, was Erziehen heißt. Erziehen muss etwas haben vom Heilen.» (Steiner, GA 302a, S. 125) Der Aspekt der Vorgeburtlichkeit soll einen besonders empathischen interessierten «lesenden» Blick fördern, eine «physiognomische Pädagogik» begründen (Steiner, GA 296, S. 82). Steiner betont, dass es ihm um eine spezifische «Augenorientierung» (Steiner, GA 305, S. 55) für die seelischen und geistigen Aspekte des Kindes gehe, also um eine Wahrnehmungsfähigkeit, nicht um eine theoretische Begründung. Indem Steiner ausführlich die karmischen Aspekte des Menschenlebens anhand von bekannten Persönlichkeiten (Goethe, Schiller) oder Personen aus seinem eigenen Freundeskreis (L. Jacobowski) im pädagogischen Vortragskurs aus Arnheim (Steiner, GA 310) behandelt, versucht er damit auch nicht irgendwelche Theorien oder Glaubensbekenntnisse zu vermitteln, sondern in Lehrkräften eine Stimmung zu erzeugen, in der «jedes Menschenleben ein heiliges Rätsel» wird (ebenda, S. 36), in der die Herzen der Lehrerinnen und Lehrer «so weit vertieft [werden], dass aus ihnen heraus die Liebe zum Kinde erwächst» (ebenda, S. 37).

Die Anschauung von Reinkarnation und Karma ist in der Anthroposophie immer mit dem Aspekt der Weiterentwicklung, des Lernens und der Bildung verbunden und ist dadurch mit dem Pädagogischen eng verwandt. Sie kann in der Seele der Pädagoginnen und Pädagogen in verschiedenen Formen aufleben. Sicher ist nicht gemeint, dass problematische Situationen im Leben eines Kindes oder Jugendlichen als karmische Strafe aufzufassen sind, auch nicht in einem entschuldigenden Sinne, dass sich Menschenseelen problematische Verhältnisse (z. B. als Missbrauchsopfer ihrer Eltern u. ä.) ‹selber› ausgesucht hätten. Vielmehr geht es um die Beziehung der Pädagoginnen und Pädagogen zu den Kindern, verbunden mit der Frage: Wie kann ich dich verstehen? Was sind dein Wesen und deine Begabungen? Wie kann ich dir bei der Realisierung deiner in dir unbewusst wirkenden Intentionen helfen? Und wie kann ich dich auf deinem biografischen Weg unterstützen? Kann es sein, dass ich mit dir (schicksalshaft) verbunden bin? Durch solche Fragen – ohne jegliches Spekulieren, sondern in echter Offenheit – kann sich ein pädagogisches Verständnis erschließen und vertiefen.

Zeichnung von Anuck, 5 Jahre, Kassel

Kernthema II: Kosmologie

Zur Entwicklung des Menschen gehört in der Anthroposophie der Wechsel einer verkörperten physisch zentrierten und auf die Erde gebundenen Daseinsform und einer entkörperten Existenz, die sphärisch mit dem Kosmos verbunden ist. Die rein geistige Existenz des Menschen ist mit dem Kosmischen genauso untrennbar verknüpft wie seine verkörperte Existenz mit der Erde. Auf diesem Wechsel beruht nicht nur die Wirklichkeit von einem Menschen, sondern auch von großen Entwicklungsräumen, in denen sich der Mensch und die Naturreiche in einer gegenseitigen Abhängigkeit voneinander und in Wechselwirkung entwickelt haben. Die Kenntnisse über die kosmologische Entwicklung und die kosmischen Aspekte des Menschseins («umfassende Anschauung über die Gesetze des Weltenalls», Steiner, GA 293, S. 45) gehören eminent zur Waldorfpädagogik dazu. Zu den im engeren Sinne kosmologischen Themen, die im ersten Kurs für Lehrerinnen und Lehrer behandelt werden, gehört das Verhältnis des Ich zu den anderen Wesensgliedern (Steiner, GA 293, S. 98) und das Verhältnis der Evolution des Menschen und der Tiere (Steiner, GA 293, S. 52, S. 157, S. 160 f., S. 172 f.) Nach Steiner ist der Mensch «Schauplatz der Welt, auf dem sich die großen kosmischen Ereignisse immer wieder und wieder abspielen» (Steiner, GA 293, S. 59). In diese Worte und Bilder kleidet er die Botschaft einer Wertschätzung von allen Wesen und einer Verantwortung für die Erde.

Noch wichtiger als die kosmologischen Bezüge, die Steiner in seiner Schrift ‹Die Geheimwissenschaft im Umriß› (Steiner, GA 13) darstellt und ausführt, sind ihm insbesondere in Bezug auf die Waldorfpädagogik die Erscheinungen der physischen Existenzform des Menschen, welche auf die Wirksamkeit des Kosmischen hinweisen. Diese Erscheinungen findet man sowohl im Seelischen wie auch im Körperlichen, worauf ich im Weiteren eingehe.

Im ersten Kurs für die Lehrkräfte entwickelt Steiner die menschenkundliche Basis für die Waldorfpädagogik. Er beschreibt, dass es innerhalb der körperlichen Gesamterscheinung des Menschen eine besondere Gestaltbildung gibt, nämlich die kugelig-sphärische Form des Gehirnschädels. In mehrfacher Hinsicht unterscheidet sich der Kopf vom Rest des Körpers: in der Art der Knochenbildung, in seiner Form und im Tempo des Wachstums. In unzähligen Darstellungen schildert Steiner, wie die Sphärenform des Kopfes auf die Ausdehnung von leibbildenden Kräften in die kosmische Sphäre und deren Zusammenziehung und Verdichtung zum (physischen) Kopf – zurückgeführt werden kann. Dies ist ein Beispiel dafür, wie man sich üben kann, selbst eine so elementare Tatsache (wie die Kopfform) in Anschauung und im Erleben mit einer kosmischen Perspektive zu verknüpfen. Für die Pädagogik brauche es das Gefühl «einer unendlichen Verehrung» (Steiner, GA 294, S. 33) gegenüber dem Kind. Jedes Kind sei «ein kosmisches Rätsel» (ebenda) und mit «großen kosmischen Gefühlen» (Steiner, GA 293, S. 159) zu betrachten. Eine einmalige bildhafte Schilderung findet sich in dem Vortrag vom 1. September 1919 in ‹Allgemeine Menschenkunde› über das Rätsel der Kugelform im Zusammenhang mit dem Menschenkörper.

Einen anderen Hinweis zu der Wirksamkeit des Kosmischen im physischen Menschen gab Steiner in Bezug auf die menschliche Atmung. Indem wir in der Minute ca. 14 bis 18 Mal ein- und ausatmen, atmen wir im Jahr 20 160 bis 25 920 Mal. Diese Zahl steht in einer kosmischen Korrelation. Es dauert ca. 25 700 Jahre, bis die Erdachse präzediert, d. h. der sog. Frühlingspunkt alle zwölf Tierkreiszeichen durchlaufen hat. Teilt man 25 920 Jahre durch 360 Grad, kommt man auf 72 Jahre. Ein Weltentag entspricht demnach der Länge eines durchschnittlichen Menschenlebens. Jeder Mensch stellt sozusagen einen ‹Atemzug des Kosmos› dar. Es gibt etliche weitere Stellen im Vortragswerk Steiners, in denen er auf die Zahl des Weltenjahres eingeht. Unter anderem am zweiten Tag für die angehenden Lehrerinnen und Lehrer: «wir sind dadurch, dass wir mit unserem Lebenslauf eingegliedert sind in die Verhältnisse des Weltenjahres, kosmische Menschen» (Steiner, GA 294, S. 32). Am ersten Tag stellt er bereits die Frage, «welche kosmische Bedeutung der Atmungsprozeß und seine Umwandlung für die Erziehung hat» (Steiner, GA 293, S. 27). Steiners Hinweis soll die Pädagogen und Pädagoginnen in aller Bescheidenheit zu einer ehrfürchtigen Stimmung dem Menschenwesen, insbesondere dem Kinde gegenüber führen, die in der Pädagogik einen großen Stellenwert einnimmt.

‹Das Kosmische› ist unverzichtbar für die Waldorfpädagogik. Nur schwer erreichbar und kaum realisiert, bleibt das Streben und die Aufgabe bestehen.

‹Das Kosmische› ist in diesem Sinne als ein unverzichtbares grundlegendes Element in der Waldorfpädagogik präsent. Wohl nur schwer erreichbar und sicher nur in kleinen Anfängen als Fähigkeit bisher realisiert, bleibt das Faktum der angestrebten Fähigkeitsentwicklung und Aufgabenstellung nach wie vor bestehen. Die geistige und übersinnliche Welt ist kosmisch: «Der Lehrer muss durchdrungen sein von dem Zusammenhang des Menschen mit den übersinnlichen Welten. […] Als Frage der übersinnlichen Welt an die sinnliche, so sollte eigentlich vor dem Gemüte des Lehrenden oder Erziehenden jedes Kind stehen.» (Steiner, GA 296, S. 69) Kaum an einer anderen Stelle verwendet Steiner so starke Worte wie in diesem Zusammenhang: «Der Aufgang der Erdenkultur […] kann nur gesucht werden in der Durchdringung unseres Erziehungsimpulses mit der Empfindung von der kosmischen Bedeutung des ganzen Menschen.» (Steiner, GA 294, S. 34) Diese Empfindung «durchheiligt alle einzelnen Vornahmen des Unterrichts» (Steiner, GA 293, S. 158). Es geht jedoch auch in diesem Fall nicht um eine «anthroposophische Theorie», sondern um einen Teil des Gemüts, der Empfindung und der erlebten Anschauung. Deswegen ist Steiner in seinen Ausführungen eher andeutend. Alles Wesentliche zu diesem Thema wurde in anderen Zusammenhängen von ihm schon geschrieben oder gesagt und die Zielgruppe der Waldorflehrerinnen und -lehrer war anthroposophisch gebildet. Jetzt geht es Steiner aber darum, Anthroposophie in diesem Fall zu einer pädagogisch praktizierten Lebensrealität zu machen.


Über die Behandlung von geistigen Wesen in der Ausbildung für Lehrerinnen und Lehrer von Rudolf Steiner und wie Anthroposophie als Inhalt und Methode differenziert werden kann, lesen Sie im letzten Teil dieser Reihe (Heft 31-32).

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