100 Jahre ‹Sprachgestaltung und Dramatische Kunst›

Eine berstende Schreinerei: Der geplante Fachkurs für Schauspiel im September 1924 stößt im Umkreis auf so großes Interesse, dass Rudolf Steiner nichts anderes übrig bleibt, als die Tore für alle 700 Interessierten – Profis und Laien – zu öffnen. Ein Wahrbild für die Bühnenkunst?


Sprachgestaltung geht uns alle an – die Dimension des Wortes ge-‹hört› zu den zentralen Anliegen der Anthroposophie. «Wer hören lernt, lernt sprechen», formuliert Rudolf Steiner in GA 280. Das Hören fordert eine andere Aufmerksamkeit als das Sehen. Es bringt uns in unser Umkreis-Ich, es schafft Raum für noch nicht Dagewesenes, es hat zutiefst mit unserer Willenssphäre zu tun. Die Orakel in Delphi wurden ‹gehört›, die Göttersprache in Samothrake nach Rudolf Steiner aus dem aufsteigenden Rauch aus den Kabiren-Tongefäßen vernommen (ein lesendes Aufnehmen, ein inneres Hören).

Es braucht nicht nur geniale, inspirativ arbeitende Künstlerinnen und Künstler auf der Bühne, es braucht auch künstlerisch interessiertes und im besten Falle ein künstlerisch geschultes Publikum. Nur so kann es zum ‹Gugelhupf-Prinzip› zwischen Bühne und Publikum kommen, nur so wird die Schnittstelle zwischen Publikumsraum und Bühnenraum zum Ereignisraum, erinnernd an das Doppelkuppel-Prinzip des auch 1924 noch in Schutt und Asche liegenden Ersten Goetheanum. Dieser Gedanke schmälert nicht das Grundanliegen, die Kunst möge uns unmittelbar berühren, unmittelbar wirken, unmittelbar die im Inneren schlummernden Kräfte in Bewegung bringen. Stellt sich doch die Frage immer neu: Aus welchen Quellen schöpfen wir bei einer Inszenierung als Regisseurin, als Regisseur, als Schauspie­lende? Aus welchen Quellen erarbeiten wir uns unser Instrument, damit sich auf der Bühne etwas noch nie Dagewesenes ereignet, etwas das anschließen darf an die alte Mysterienkunst, um zum heute aktuellen, neuen Mysterium zu werden. Sprachgestaltung ist ein Begriff, den es im deutschsprachigen Raum, zum Beispiel in Österreich, schon gab, bevor Marie von Sivers und Rudolf Steiner 1919 erste Sprachgestaltungskurse für Redner der Dreigliederung des sozialen Organismus oder für angehende Waldorflehrerinnen und -lehrer der ersten Waldorfschule in Stuttgart gaben. Marie von Sivers hatte, bevor sie Rudolf Steiner und durch ihn der Anthroposophie begegnete, die Kunst der Rezitation und Deklamation in St. Petersburg und in Paris studiert. Sie musste aber erkennen, dass das Erlernte nicht Anklang fand. Ab 1912, als Rudolf Steiner von Lory Maier-Smits gefragt wurde, ob man Anthroposophie auch tanzen kann, entwickelten Marie und Rudolf Steiner gemeinsam das Sprechen, das für diese neue Kunst der Eurythmie erforderlich war: die Kunst der Sprachgestaltung.

Im Jahre 1924 schließlich traten Schauspieler an Rudolf Steiner heran mit der Bitte, auch für ihre Profession Anregungen aus der Anthroposophie zu geben. Daraufhin wurde der Fachkurs für September 1924 angekündigt: ‹Sprachgestaltung und Dramatische Kunst› (GA 282). Es wurden, wie eingangs erwähnt, auf Drängen der Menschen alle zugelassen: Die Bühnenkunst als Zusammenklang von Sprachgestaltung, Schauspiel und Eurythmie nahm ihren Anfang – ein Vermächtnis von Marie und Rudolf Steiner. In 19 Vorträgen, zu denen Marie Steiner-von Sivers rezitierte, entwickelte Rudolf Steiner Aspekte zu den menschenkundlichen Grundlagen des Sprechens, zu den Sprechstilen, zu der Schulung durch die fünf Disziplinen der griechischen Gymnastik und der daraus zu entwickelnden faktischen Gebärde. Er zeigte auf, dass allem Sprechen eine Gebärde zugrunde liegt. In den Vorträgen geht es auch um das Vokalisieren und Konsonantieren, um den Umgang mit Träumen, Lautstimmungen und ihren Verläufen innerhalb eines Dramas und um die Regie bis zur Esoterik des Bühnenkünstlers.

Alles liegt in der Sprache

Was hat mich im Studium besonders angesprochen? Als Schülerin der 7. Klasse der Freien Waldorfschule Mannheim erlebte ich bereits an Dora Gutbrod, die 1924 19-jährig am ‹Dramatischen Kurs› teilgenommen hatte, und später im Studium bei Ursula Ostermai, bei Erika Pommerenke, bei Caroline Wispler, bei Karin Hege, bei Mirjam Hege oder bei Sighilt von Heynitz etwas, was mich faszinierte, etwas, was mich über mein bisheriges Hörerlebnis, meine Liebe zur Sprache weit hinausführte. Scheinbar alltägliche Situationen öffneten mir beim Zuhören dieser Meisterinnen einen bis dahin ungeahnten Erlebnisraum. So wurden zum Beispiel Zeilen vom Zuschieben eines Türriegels in Conrad Ferdinand Meyers ‹Die Füße im Feuer› oder in Hilde Domins ‹Nur eine Rose als Stütze› für mich im Zuhören ein magisches Moment:

Fest riegelt er die Tür

C. F. Meyer

Ich will den Sand unter den kleinen Hufen spüren
und das Klicken des Riegels hören,
der die Stalltür am Abend schließt

Hilde Domin

«Das Was bedenke, mehr bedenke Wie» lässt Johann Wolfgang von Goethe seinen Homunkulus in ‹Faust II› sagen. Ja, das durfte ich erleben. Durch das Wie der Rezitierenden erlebte ich das entschlossene, Sicherheit ersehnende Zuriegeln der Tür durch den von Todesangst gequälten Kurier, es ereignete sich im Sprechen und Hören zugleich. Auch durch das Wie des sehnsuchtsvoll erwarteten und Geborgenheit versprechenden Klickens des Stalltürriegels ging mir eine Innenwelt auf. Rilke nennt diese Welt «Weltinnenraum», diesen Ereignisraum, der «sich im Staunen öffnet und der alles bewegt, mich dort sein lässt» und mir zugleich schenkt, dass ich «mich selber erst ganz empfinde», wie es Rudolf Steiner im sogenannten Altsprachenspruch formuliert. (GA 40) Zwei scheinbar paradoxe Beispiele: In der sinnlichen Welt wird etwas geschlossen (der Riegel der Tür) und über das Sprechen und somit über das Sinneserlebnis des Hörens, des Sprachwahrnehmens usw. erschließen, ja, eröffnen sich Räume, Erlebnisräume, neue Dimensionen. Alles liegt in der Sprache!

Atmen in einem neuen Raum

Während meines Studiums der Sprachgestaltung (1989–1993) besuchte ich oft und gerne die lyrischen und epischen Lesungen, die Schauspieler und Schauspielerinnen des Theater Basel im Foyer nachts um 23 Uhr zum Besten gaben – im Anschluss an die üblichen Theaterabende. Es berührte mich, wie ihre Liebe und Hingabe zu den jeweiligen Texten erlebbar wurde, wie sich ihre Seele frei äußerte durch die selbst gewählten Texte. Hier ereignete sich für mich meist mehr als in den geschlossenen Theateraufführungen. Auch die Lesungen von Hans-Dieter Jendreyko und seine Inszenierungen hatten für mich stets diese Anziehungskraft. Ähnlich elektrisiert saß ich in den Inszenierungen von Peter Brook, ich wollte keine Aufführung in Basel, Bern und anderswo verpassen. Aber auch die Inszenierung ‹Der Dibbuk› von Salomon An-ski mit Miriam Goldschmidt und Urs Bihler wirkte magisch auf mich – es war zum Luftanhalten und ließ mich doch weiteratmen, aber auf eine vorher nicht gekannte Weise, in einem neuen Raum. Heute realisiere ich, dass diese Kunsterlebnisse etwas in mir öffnen, was ich vom Meditieren kenne und was sich mir immer mehr im Leben zeigt: eine Art ‹Berührtsein von einem Höheren›, das sich zumindest ahnend empfinden lässt. Das Instrument, die Durchlässigkeit kann ich mir erwerben durch etwas Mitgebrachtes (auch Begabung genannt) und durch langes Üben und Dranbleiben, um durch sie zu einem neuen «Habitus» (GA 280), einem «zweiten Menschen» (GA 282), wie Rudolf Steiner es nannte, zu gelangen. Erst dann kann ich inspiriert, ja intuitiv spielen, kann die andere Seite begnadend mitwirken.

Mein Weg mit dem Vortragszyklus ‹Sprachgestaltung und Dramatische Kunst› begann im Studium: In einer freien Initiativgruppe trafen wir Studierende der Sprachgestaltung uns an einem Abend der Woche und studierten gemeinsam den ‹Dramatischen Kurs›. Ob es Anregungen Rudolf Steiners zur Regie oder für die Ausbildung zum Sprachgestalter, zur Schauspielerin waren, alles wurde im Gespräch bewegt und erörtert, auch heftig diskutiert und im Buch zum leichteren Wiederauffinden am Rand vermerkt. Fasziniert hat mich zum Beispiel die Angabe, wie unterschiedlich es wirkt, von welcher Seite ich auf die Bühne trete, und was dies beim Publikum jeweils anspricht. Der Zusammenhang mit unseren unterschiedlich aufnehmenden Augen ließ mich experimentieren und noch heute nutze ich Gelegenheiten, Unbefangene in diese Forschung miteinzubeziehen. Dass mein Weg seinen Schwerpunkt in der Sprachgestaltung gefunden hat, ist offensichtlich. Dass Sprachgestaltung und Dramatische Kunst ‹eine› Kunst sind, darf ich mehr denn je anhand des neuen, in diesem Jahr eröffneten Studiengangs ‹Bühnenkunst amwort› erfahren, in der lange ersehnten, engen Zusammenarbeit mit Kollegen für Schauspiel und Eurythmie. Im Fachkolloquium, das anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des Vortragszyklus im Anschluss an vier volle Tage Theateraufführungen im Juli 2024 am Goetheanum stattfindet, möchten wir gemeinsame Impulse und Forschungsvorhaben herausarbeiten, mit denen wir das neue Jahrhundert unserer Kunst einläuten können.


Siehe auch Rundbrief der Sektion für Redende und Musizierende Künste, Ostern 2024, Beiträge vieler Kolleginnen und Kollegen zum ‹Dramatischen Kurs›.


Bild ‹Ein Volksfeind› von Herik Ibsen, 2007. Thomas Stockmann: Torsten Blanke, Hovstad: Matthias Hink, Aslaksen: Thomas Autenrieth. Foto: Charlotte Fischer.

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