Die Kunst der Wahrnehmung

«Dich verwirret, Geliebte, die tausendfältige Mischung», beginnt Goethe sein Gedicht ‹Die Metamorphose der Pflanzen›. Auch die Vielfalt moderner Kunst kann einen unbefangenen Museumsbesucher gelegentlich erschlagen oder verwirren. Goethe empfiehlt, die Pflanze werdend zu betrachten. Bei der Kunst legt Autor Alexander Schaumann die Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmung nahe.


Von Alexander Schaumann ist im Verlag am Goetheanum das Buch ‹Kunst und Wahrnehmung› erschienen. Es beschreibt, wie sich mit der modernen bildenden Kunst ein neues Wahrnehmungsvermögen entwickelt hat, das ein Licht auf die Vorgehensweise der einzelnen Kunstschaffenden wirft. Diese aufschlussreiche Beobachtung wird einer genauen Betrachtung der Kunstwerke entnommen und erklärt verschiedene Stile. Das Buch schildert, wie Piet Mondrian primär Flächenkräfte wirksam machte, während Wassily Kandinsky vor allem die Kraft der Farbe entfaltete, und wie vorher Paul Cézanne die Kräfte der Fläche und Vincent van Gogh die der Farbe entdeckte – beide Maler noch dem Ideal der Naturnachahmung huldigend.

Verschiedene Schichten vieler Werke der Malerei, der Bildhauerei und der Architektur werden eingehend beschrieben, um die ganze Kunstentwicklung zu beleuchten. Durch ein Beachten des Wahrnehmungswandels wird moderne Kunst aufgeklärt, ohne dass behauptet würde, dass die neue Wahrnehmungsfähigkeit die individuelle Eigenart einer Epoche oder einzelner Künstler und Künstlerinnen allein erklären könnte.

Außer den genannten Pionieren der Moderne behandelt das Buch die herausragenden Künstler Joseph Beuys, Alberto Giacometti und Rudolf Steiner. Dazu wird das Prinzip des Plastischen einbezogen. Das Plastische entfaltete sich schon früh und geht in alle bildende Kunst entweder von krafterfüllten Körpern oder vom Raum aus. In die Kunst von Steiner, Giacometti und Beuys kommt das Plastische neu, aber ganz unterschiedlich zum Ausdruck. Einzigartige plastische Pioniertaten sind die am Schluss des Buches betrachteten Goetheanumbauten Rudolf Steiners.

Da eine ständige Wechselwirkung zwischen der Entwicklung der Kunst und der des Menschen besteht, wird das Ganze in den historischen Zusammenhang gestellt. In der Neuzeit trennten sich Wissenschaft, Kunst und Moral. In Philosophie und Soziologie wird das Bestreben, sie unter Fortbestand der gewonnenen Freiheiten erneut zu vereinen, als ‹Projekt der Moderne› beschrieben. Schaumann schildert, wie in der Kunst das Auseinandertreten der Kräfte von Denken, Fühlen und Wollen beim modernen Menschen seit dem späten 18. Jahrhundert deutlich zutage kommt.

Im beginnenden 20. Jahrhundert öffnete sich dann mit dem Sinn für die in Fläche und Farbe wirkenden Gleichgewichtskräfte ein neuer Kräfteraum. Damit änderte sich der Zugriff maßgeblicher Kunstschaffender auf die künstlerischen Mittel. Es kündigte sich ein allgemeiner Bewusstseinsaufbruch an. Schaumanns Buch eröffnet auch den Lesenden einen neuen Blick auf die gesamte Kunstentwicklung. Das neue Wahrnehmungsvermögen und der angegebene Sinn für das Plastische mögen nicht für jeden sofort zu entdecken und zu entfalten sein, aber die Mühe, dem Autor zu folgen, lohnt sich.


Buch Alexander Schaumann, Kunst und Wahrnehmung, Verlag am Goetheanum, Dornach, 2022

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