Können Sie sich vorstellen, wie es ist, an den Außengrenzen Europas als Geflüchtete anzukommen? Der Film ‹Nasim› erzählt die Geschichte einer Frau vom Boden aus, nicht aus der politisch-theoretischen Vogelperspektive. Nasim ist mit ihrer Familie im Camp von Moria gestrandet und wurde dort von März bis September 2020 von zwei deutschen Dokumentarfilmern begleitet. Der Film ist das Guckloch in einen humanitären Abgrund, in dem die Kraft der Protagonistin aufleuchtet.
Griechenland, eine Insel, blauer Himmel, weißes Licht. Dann ein Schwenk und auf der Erde eine Frau mit blauer Plastiktüte zwischen langen weißen Zeltgängen. Blau und Weiß – die Farben kehren im Film immer wieder und erinnern an die idyllischen griechischen Dörfer, aber auch an die griechische Flagge, an Grenzen und Territorien. Die Kamera folgt der Frau auf ihrem Weg. Von hinten wirkt sie nicht alt, aber auch nicht mehr jung. Ihr Gang ist etwas beschwerlich. Dann sieht man in ihr Gesicht: ein junges, lächelndes Gesicht.
Nasim ist 38 Jahre alt, als sie im Flüchtlingscamp Moria den Filmschaffenden Arne Büttner und Ole Jacobs begegnet. Sie spricht sie an und es entsteht ein Vertrauensverhältnis, sie teilt für den Dokumentarfilm der beiden ihre Geschichte. Mit ihrem Mann und den beiden Söhnen, ihrer Mutter und der Familie ihrer Schwester sind sie nach Moria gekommen. Nasim ist Afghanin und mit ihrer Familie aus dem Iran über die Türkei nach Griechenland geflohen. In ihrer Vorstellung stand Europa für Humanität, allein davon ist in Moria nicht das Geringste zu sehen. In einer späteren Sequenz, in der die beiden Schwestern allein zusammensitzen, meint Nasims Schwester, sie seien Afghaninnen im Iran und Iranerinnen in Afghanistan. Sie gehörten nirgendwohin. Sie würden allerorts ausgestoßen.
Sehnsucht nach Alltag
Man sieht den Alltag im Camp. Nasim schneidet ihrem Sohn die Haare, auf der Erde sitzend, mit einer Papierschere. Man hört ein ungeduldiges Kind beim Haareschneiden. Dann sagt Nasim: «Leben wie im Dschungel, wir müssen damit zurechtkommen.» Es sind Straßen und selbst gezimmerte Hütten aus Pappe, Paletten, Tüchern und Plastik entstanden. Nasims Mann zimmert an einer Holzkonstruktion aus Resten, um die Hütte aufzubessern. Von Ferne sieht man kaum Container in Moria, das Camp ist längst eine informelle Besiedelung, in der viele lange bleiben. Nasims älterer Sohn fackelt einen Einwegrasierer an, um sich damit rasieren zu können. Nasims Sorge gilt auch ihm, er scheint ihr zu entgleiten. Er will abends das Camp mit anderen Jugendlichen verlassen, er spricht von Tattoos und beginnt zu rauchen. Sie will, dass er zu Hause bleibt, weil es außerhalb des Camps gefährlich werden könne. Die Haare ihres älteren Sohnes werden allmählich weiß, seit sie in Moria sind. Seine Tante redet ihm ins Gewissen, er habe sein Leben selbst in der Hand, er könne es meistern oder wegwerfen. Nasim breitet Decken vor ihrem Zelt aus, um eine Handvoll Kinder gemeinsam mit ihrem jüngeren Sohn zu unterrichten. Sie malt mit ihnen. Es ist Schulzeit, auch wenn die Schule nicht da ist. Als sie mit ihrem jüngeren Sohn auf der Wiese sitzt, weist sie auf einen Berg. Da hinauf wolle sie einmal allein wandern. «Vermisst du unser Haus im Iran?», fragt sie ihn. Er antwortet nicht, sie neckt ihn. «Wenn ich nicht antworte, so heißt das ‹Ja›.» «Was vermisst du am meisten?», hakt sie nach. «Meine Freunde.» «Nicht dein Zimmer?» «Nein. Ein Zimmer ist egal.»
Der Film spielt in solchen Familienszenen. Nasim stärkt ihren Kindern den Rücken, auch wenn sie abends oder beim Gebet selbst zu weinen beginnt. Die Frauen halten zueinander und ermutigen sich, bewältigen praktische Fragen über das Asylverfahren oder gehen einkaufen, nähen Mund-Nasen-Bedeckungen in der Fabrik. Die Schwester probt mit ihr die Befragung für den Asylantrag: «Woher kommst du? Warum bist du hier?» Sie heiße Nasim. Sie sei mit ihrem Mann hier. Sie kommen aus dem Iran. «Dort ist es doch sicher.» «Wir können nicht zurück, mein Mann will es nicht, er hat Probleme dort.» «Welche Probleme? War er ein Mudschahedin?» Nasim verliert den Faden. Sie ist sich unsicher über die Vergangenheit ihres Mannes. Er ist zwölf Jahre älter als sie. Sie wurde mit 13 Jahren in Afghanistan an ihn verheiratet. Er sagt, er habe in Afghanistan im Krieg gegen die Sowjetunion gekämpft. Er wurde verwundet und in den Iran gebracht. Dort könnten sie nicht bleiben, seine Familie habe Probleme mit den Taliban und den Rebellen. So erzählt er ihr die Geschichte, doch sie weiß nicht, ob das die Wahrheit ist. «Sag ihnen, dass du als Mädchen keine Stimme hattest, dass Frauen nicht gefragt wurden, dass du das nie wolltest, aber automatisch mit den Problemen deines Mannes assoziiert wurdest. Es war nicht deine Entscheidung. Du wurdest gezwungen», ermahnen sie ihre Schwester und ihr Schwager. Nasims Blick wandert währenddessen nach unten. Sie sieht einsam aus, während die anderen um ihre Biografie streiten, aber sie hält sich auch in diesem Alleinsein.
Später wird immer wieder die Scheidung von ihrem Mann Thema sein. Ihre Familie ermutigt sie, erinnert sie daran, dass sie nun in Europa sei. Trotzdem zögert Nasim weiter. Bald darauf erhält sie vorläufiges Asyl.
Straßen voller Menschen
Eine wütende griechische Menschenmenge versammelt sich vor dem Lager: «Das zivilisierte Europa hat seine Türen geschlossen und zeigt nun mit dem Finger auf unser armes kleines Land.» Es wird protestiert: Sie hätten alles getan, um den Leidenden zu helfen, aber es seien immer mehr gekommen und nun sei ihre Realität ein Alptraum – Diebstahl, Mundraub, Tierschlachtungen, Niederbrennen von Olivenhainen, Vandalismus in Kirchen, Morde, Messerattacken, Drogenhandel, Prostitution. Sie könnten ohne Geld, aber nicht ohne ihr Heimatland leben. Die Polizei marschiert auf und beruhigt die Lage.
In der Nacht vom 8. auf den 9. September brennt das größte Geflüchteten-Camp Europas. Es sind Bilder, die durch die Nachrichten gehen. Nasims älterer Sohn ist woanders. Sie versucht, ihn per Telefon zu finden. Die Mutter hat ihre Zähne im Zelt vergessen. Nasim läuft zurück. Sie findet noch ein paar Überreste. «Das Gefängnis brennt», sagt sie. In dieser Nacht werden 13 000 Menschen obdachlos. Sie bleiben im freien Feld mit einigen blauen Tüten. Die ganze Familie läuft mit ihren Sachen durch die Nacht. Angeblich gibt es zwei deutsche Schiffe. «Gott sei Dank, wir verlassen Moria.» Sie laufen weiter. Nasim treibt ihre Mutter an. Die Hunde bellen. An den Straßenrändern schlafen Menschen. Am Tag stoppt die griechische Polizei den ganzen Zug. Sie errichten Zelte, direkt an der Straße. Es kommt zu Auseinandersetzungen. Einige Jugendliche werden unruhig und lassen sich von der Polizeigewalt provozieren. Nasim schreit sie an: Man wolle, dass sie schlecht aussehen, man wolle, dass sie Gewalt ausüben, die ganze Welt schaue auf sie. «Setzt euch und macht einen stillen Protest!» Kurz darauf folgt ein langer Protestmarsch. Die Geflüchteten improvisieren Schilder und skandieren: «No Camp! Freedom!»
Hier endet der Film
Im April 2021 wurden Nasim und ihre Familie nach Deutschland gebracht. Der Film ‹Nasim› wird seit vergangenem Jahr auf Filmfestivals in der ganzen Welt gezeigt. In Leipzig, auf dem DOK-Filmfestival, erhielt er den Defa-Sponsorenpreis und den Verdi-Preis für Solidarität, Humanität und Fairness. Die Reaktion der EU auf den Brand in Moria fällt wenig hoffnungsvoll aus: Sie gibt Griechenland 276 Millionen Euro, um auf den Inseln Chios, Kos, Leros, Lesbos und Samos neue Lager zu bauen, die hinter hohen Mauern und Stacheldraht und ohne freien Zugang für Journalisten, Menschenrechtsbeobachterinnen und Anwältinnen Modellorte für den Umgang mit Asylsuchenden sein sollen.
Web Nasim Film Die erste Kinotour beginnt am 8. September und führt bis Ende Oktober durch viele deutsche Städte. Die Filmemacher Arne Büttner und Ole Jacobs und ihre Protagonistin Nasim Tajik begleiten die Tour.