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Heilige Begegnung

«Politik erscheint mir wie ein düsterer Witz», schrieb die Philosophin Simone Weil. Politik bietet nicht selten ein trauriges Spektakel: Menschen, die sich gegenseitig nicht zuhören wollen, sondern aufeinander losbrüllen, Lüge, Diffamierung, Machtspiele und Korruption. In einer Umfrage von Januar 2019 in Frankreich beantwortete eine Mehrheit die Frage: «Wenn Sie über Politik nachdenken, was fühlen Sie zuerst?» mit «Misstrauen» und «Ekel».


Das Wort ‹Politik› ist schwer belastet und von einem düsteren Schleier bedeckt. Dieser Schleier verbirgt aber ein Licht, ein Ideal. Das Wort ‹Politik› spricht uns als Teilnehmer der ‹Polis› an, als Glied des Staates, der Menschengemeinschaft. Politik ist der Ort des Gemeinguts, der Gemeinsamkeit, wo, seit der Aufklärung, jedes Individuum in seiner Einzigartigkeit anerkannt werden soll, im Namen der ‹Gleichheit›, aber auch dort, wo es über sich selbst hinauswachsen kann. ‹Politik› will im modernen Sinne auf einen sozialen Ort hindeuten, einen Ort der Begegnung, wo Religionen, Meinungen, Anschauungen und Kulturunterschiede nicht mehr herrschen, sondern sich begegnen wollen. Anstatt Machtspiele und Lärm wollen in diesem Raum Respekt und zuhörende Stille herrschen. Dann ist Politik nicht mehr ein ‹düsterer Witz›, sondern wird zu einem heiligen Raum der Begegnung, des Zuhörens und des Sprechens.

Dort, wo Menschen zusammenkommen und diesen leeren Raum der Stille schaffen, wo Begegnung stattfindet, kann eine Religiosität für die menschliche Erscheinung entstehen, ein moderner Tempel der Begegnung, ein Heiligtum der Verschiedenheit. Hier können Gleichheit und Andersartigkeit abwechselnd atmen. Nicht nur im Parlament, sondern überall dort, wo kleine oder größere Gemeinschaften etwas zu besprechen oder zu entscheiden haben, kann dieses Heiligtum entstehen, diese intime Stille, dieses heilige gegenseitige Zuhören.

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