Wer reitet den chinesischen Tiger?

Wolfram Elsner rüttelt dazu auf, das Bild von China zu hinterfragen und neu auf Land und Leute zu blicken.


Der Bremer Universitätsprofessor Wolfram Elsner – er studierte 1970 Volkswirtschaft und bezeichnet sich selbst als Alt-68er! – hat sich daran gemacht, ein Buch zu schreiben über ‹Das chinesische Jahrhundert›. «Der Inhalt dieses Buches soll dazu animieren, selbstkritisch unseren westlichen Zeitgeist und unsere sogenannte moralische Überlegenheit zu hinterfragen», schreibt Folker Hellmeyer. Der Autor versäumt auch nicht, Anhänge von Gastautorinnen und -autoren zu ergänzen und die Aktualität seiner Thesen in einen Kontext zu bringen: Warum die neue Weltmacht Nummer eins anders ist – und zwar seit der Entwicklung ab 2010.

Aktualität

Wolfram Elsner hat die Herausgabe seines Buches verzögert, um seinen eigenen Nachtrag über die aktuellen Gesundheitsrisiken in Zusammenhang mit Corona unterzubringen, da diese ein besonderes Licht auf China werfen. Er kommt in dem detailliert geschriebenen Kapitel zu dem Schluss, dass China aus dieser Krise moderner und bewusster hervorgehen wird. Die Frage: «Können wir China vertrauen?», beantwortet der Autor mit einem qualifizierten «Ja, und ob!» und begründet diese Aussagen durch ein reiches Quellenmaterial.

Vorurteile

Im zweiten Teil bringt Elsner alte Vorurteile und seine Antworten dazu: «Oje, Planwirtschaft!» Ja, aber anders! Oder: «Oje, Wirtschaft und Geld!» Ja, aber auch anders. Er versucht, mit den westlichen Vorurteilen aufzuräumen. China und die aufstrebenden Länder werden nicht auf Europa warten. Waren die Chinesen noch 1990 ein Entwicklungsland und hatten die damals aufstrebenden Länder zu Beginn der beschleunigten Globalisierung nach dem Fall des Kommunismus einen Anteil von ca. 20 Prozent am weltweiten Bruttoinlandprodukt, so liegt dieser mittlerweile bei aktuell 63 Prozent. Diese Länder stehen für 88 Prozent der Weltbevölkerung und sie kontrollieren ca. 70 Prozent der Weltdevisenreserven.

Das Buch will aufklären und vor allem dafür werben, dass es auch in der Weltwirtschaft brüderlicher zugeht. Elsner meint zu beobachten, dass die lange Erfahrung, die China als Nation hat, und die Verankerung des Konfuzianismus im Volksgemüt dazu führt, dass es die Chinesen schaffen, vor allem die Korruption im Lande erfolgreich zu bekämpfen. Dazu liefert das Buch erstaunliche Beispiele. Nach dem ‹Jahrhundert der Demütigung› wollen die modernen Chinesen und Chinesinnen lernen, was sie tun, besser zu machen. Man bittet um Ratschläge – nicht um Bevormundung.

Persönliche Erfahrungen

Er fragte ihn, ob er denn zu Hause seine Regierung kritisieren dürfe, und bekam die Antwort: Ja, …

Der Autor erzählt auch von seinem persönlichen Weg nach China. Nach zahlreichen internationalen Lehr- und Vortragsaufenthalten ist er seit 2015 als Gastprofessor an der dortigen School of Economics der Jilin University in Changchun tätig. ‹Seinen› ersten Chinesen bekam er in der Uni Bremen zu Gesicht. Er fragte ihn, ob er denn zu Hause seine Regierung kritisieren dürfe, und bekam die Antwort: Ja, das könne er und er bekomme hin und wieder auch Applaus im Hörsaal, wenn er es tue. Aber was passiert am nächsten Tag mit ihm? Der chinesische Gastprofessor antwortete: «Dann bekomme ich eine Einladung zur Regierung und sitze da an einem Tisch mit Leuten unterschiedlicher Meinungen, die ihren Standpunkt zu einer bestimmten Frage erläutern!»

Sozialismus in China? – Eine Nagelprobe

Was China aus einem immer noch niedrigen Pro-Kopf-Einkommen bereits an vieldimensionalem Wohlstand, an technologischer, ökologischer, sozialer, bildungsmäßiger und kultureller Performanz herausholt, sucht in der Geschichte seinesgleichen. Der Beweis, «dass eine Marktwirtschaft unter der Hand des Staates effizient arbeitet»‚ so der Vizepräsident der Peking-Universität‚ scheint damit erbracht.

Elsner: «China ist heute fähig, die jahrzehntelange Diskreditierung und Tabuisierung jeder Idee von realem Sozialismus wieder aufzubrechen, vor allem, weil es zeigt, dass Sozialismus im 21. Jahrhundert kein statisches, bürokratisches Armutssystem mehr ist, sondern diesbezüglich den real existierenden Kapitalismus sogar überflügeln und die menschlichen Perspektiven erweitern kann.»

Es ist ein großes Buch von einem Land, das für uns so weit entfernt liegt. Die Lektüre ist sehr erhellend. Sie führt dazu, dass man sich selbst Fragen stellt und mit den Argumenten des Autors so lange jongliert, bis sich das eigene Urteil herausbildet und eine Balance entsteht. Der Autor wurde gefragt, ob er begrüßen würde, dass sich seine Leserschaft ein eigenes Urteil bildet, indem sie selbst nach China reist. Das wurde von ihm eindeutig mit ‹Ja› beantwortet.


Wolfram Elsner, Das chinesische Jahrhundert, Westend Verlag, Frankfurt am Main, 2020, ISBN 978-3-86489-748-1

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