Nicht nur rechnen, auch spüren

‹Loi de vigilance› heißt es in Frankreich, ‹Lieferkettengesetz› in Deutschland und ‹Wet Zorgplicht Kinderarbeid› in den Niederlanden. Unternehmen zu verpflichten und in Haftung zu nehmen für ökologische oder soziale Verstöße auch außerhalb des Rechtsraumes ihres eigenen Landes, das ist dabei immer das Ziel. Keine dieser Rechtsinitiativen geht allerdings so weit wie die ‹Konzernverantwortungsinitiative›, die in der Schweiz per Volksentscheid mit knappem Ergebnis kürzlich verworfen wurde. Franka Henn und Wolfgang Held sprachen dazu mit Ueli Hurter.


Wie bewertest du das Abstimmungsergebnis?

Ueli Hurter: Zwar haben mehr als 50 Prozent der Wählerinnen und Wähler für die Initiative gestimmt, aber nicht die Hälfte der Kantone. Dieses sogenannte Ständemehr wurde nicht erreicht, ist aber in der föderalistischen Schweiz notwendig, wenn man per Volksinitiative eine Verfassungsänderung erreichen möchte. Das ist eine hohe Hürde, die aus unserer Perspektive zuletzt das Moratorium für Gentechnik in der Landwirtschaft im Jahr 2005 nehmen konnte. Hier ist es jetzt nicht gelungen. Das Ergebnis zeigte allerdings, dass die Idee, die Unternehmen in ihren weltweiten Aktivitäten haften zu lassen, eine Mehrheit findet. Die kleinen Kantone, die in der östlichen Zentralschweiz liegen, sind konservativ und stimmen bei solch einer Initiative eher dagegen. Dafür ist die Enttäuschung in der Westschweiz groß, ebenso im Ausland. So sagte mein Kollege in der Sektion für Landwirtschaft Jean-Michel Florin, dass die Schweiz hier als kleines unabhängiges Land als Vorreiter sich hätte profilieren können. 24 000 internationale Unternehmen haben hier ihren Sitz. Umgekehrt sagen politische Beobachter wie Hugo Stamm, dass solch ein Ergebnis sensationell gut sei, weil das Volksmehr ja erreicht wurde.

Die kleinen Kantone bilden zusammen nur 18 Prozent der Bevölkerung und können hier doch den Ausschlag geben.

Tatsächlich wiegt eine Stimme eines kleinen Kantons wie Appenzell für das Ständemehr hundertmal stärker als eine Stimme aus Zürich. Das mag zu extrem sein, das Prinzip dahinter ist dennoch wertvoll und gehört zur politischen Kultur in der Schweiz. Es besagt, dass die Mehrheit nicht per se zu bestimmen hat, sondern auch das Votum einer Minderheit ‹nicht falsch› ist. Das ist der Geist des Föderalismus und auch der Konkordanz, dass man jedem einräumt, im Recht zu sein – qualitativ auch, wenn er oder sie numerisch eine Minderheit ist. Ist dieses Prinzip einmal erkannt, bedeutet es, dass man weniger rechnet, dafür mehr ‹spürt›.

Die Initiative zeigt, dass die Frage der Verantwortung im Wirtschaftsleben ins Zentrum rückt – oder?

Chemikalien vergiften die Felder rund um ein Ölfeld der Schweizer Firma Glencore in Tschad, Afrika. Bei Kindern und Erwachsenen verursachte dies zentimetergrosse Brandblasen auf der Haut. Foto: Konzern Initiative © RAID

Das ist ein gesamtzivilisatorisches Phänomen, ob bei Fracking in den amerikanischen Naturschutzgebieten oder Kohleminen in Australien, wo Siemens Signalanlagen liefert. Solch ein rücksichtsloses Handeln ist die alte Schule, die sich mit dem Zeitgeist nicht mehr verträgt. Die Initiative ist ja von vielen Wirtschaftsvertretern und -vertreterinnen unterstützt worden, weil sie erkennen, dass die Ökonomie heute nicht mehr gegen, sondern mit diesem gesellschaftlichen Empfinden operieren sollte. In diese Richtung geht der Trend. Aber, und das sage ich aus ganzem Herzen: Der Unternehmer, die Unternehmerin braucht zugleich viel Freiheit! Wenn Unternehmer durch zu viele Regeln eingezwängt sind und als Egoisten stigmatisiert werden, die vom Profitwillen bestimmt sind und demgegenüber der Staat der gute Wächter ist, dann verlieren wir, was eine liberale offene Gesellschaft ausmacht. So empört sich der Verwaltungsratspräsident des Konzerns Sika, Paul Hälg, mit Recht darüber, dass man den Firmen unlautere Motive unterstellt. Deshalb erwarte ich nach diesem Abstimmungsergebnis, dass sich die Wirtschaft organisiert und zu dem, was jetzt als Gegenvorschlag greift, initiativ wird.

Du bist im Verwaltungsrat der Weleda tätig und mit Demeter eng verbunden. Wie engagiert sind die anthroposophischen Unternehmen hier?

Demeter als Marke ist ja ein Verbund, eine Struktur, die man beinahe als Konzern verstehen kann. Wir sind als Demeter natürlich an der Spitze, wenn es um schonungsvollen Umgang mit den Naturressourcen geht, also Boden, Pflanzen, Tiere und jetzt auch das Klima. Wo wir noch einen Weg zu gehen haben, ist die Gerechtigkeit mit allen Mitarbeitenden. Im Demeterverband diskutieren wir darüber, ob wir deshalb über die internationalen Standards hinaus diese soziale Dimension hereinnehmen. Konkret: Wie ernst ist es uns mit den Arbeitsbedingungen auf einer Plantage in Alicante, Südspanien, wo Demetergemüse angebaut wird. Da geht es nicht um Kleinbauern, sondern um riesige Strukturen, die demeterzertifiziert sind. Da wird es relevant! Wir arbeiten mit Ländern zusammen, wo es Kinderarbeit gibt. Demeter ist erfolgreich im Bananenanbau. Doch wie sehr sind die Arbeitenden auf der Plantage an der Wertschöpfung beteiligt? Diesen Fragen stellen wir uns.

Diese Verantwortung in der Wirtschaft zu erfüllen, das ist eine der Missionen und Möglichkeiten aller Menschen, die unternehmerisch aktiv sind.

‹Ökologisch› allein reicht nicht mehr?

Nicht bei Kaffee, Banane oder Kakao, dem klassischen Plantagenanbau in der Zeit der Kolonien, bei dem Europa sich bereicherte und die Länder regelrecht ausgesaugt wurden.

Jörgen Smit, Vorstandsmitglied am Goetheanum war vor 30 Jahren entsetzt darüber, auf einer Vortragsreise in Südamerika Anthroposophen mit Hausbediensteten zu erleben. Er fragte seine Gastgeber in São Paulo, ob sie auch einen ‹Sklaven› hätten.

Ja, Hausangestellte ohne rechtliche Stellung hatten und haben wir noch.

Und Weleda?

Bezüglich der unternehmerischen Verantwortung ist die Weleda viel weiter, als es die Regeln und Gesetze fordern. Das Abstimmungsergebnis bedeutet deshalb für die Weleda, sich hier weiter mit hohen Standards zu profilieren, gerade wenn es keiner Regel, keinem Zwang, sondern vielmehr dem eigenen Selbstverständnis geschuldet ist. Außerdem gilt für die Weleda, die ja mit Kosmetik auch im Konsumgüterbereich tätig ist, dass da die Marke, das Image sehr wichtig ist, und dieses spiegelt sich in den ethischen Standards, die sich die Weleda selbst gibt. Die so verwirklichte Anthroposophie ist dabei für die Mitarbeitenden und ihre Identifikation mit dem Unternehmen sehr wichtig.

Die Verantwortung für die Folgen unserer Taten zu übernehmen, rückt damit vom Nachtodlichen ins Leben – ist das ein neues Karmaverständnis?

Ich glaube, unser Schicksal, unser Karma ist jetzt an die Erde geknüpft. Ohne die Erde verlieren wir unser Karma. Sie ist die Schicksalssubstanz, die wir in diesen Jahrzehnten ergreifen müssen. Was von unserem Schicksalsrad inkarniert ist, das betrifft uns außerordentlich, das spüren wir. Was wir bisher gern in den exkarnierten Teil unserer Existenz, in den Himmel verschoben haben, die Frage, wie wir unsere Schwächen verwandeln, das müssen wir diesseits lösen. Das ist die michaelische Signatur unserer Zeit. Wenn wir sagen, dass Michael sich selbst zurückhält, damit wir aus Freiheit uns engagieren, dann sehe ich das hier verwirklicht. Diese Verantwortung in der Wirtschaft zu erfüllen, das ist eine der Missionen und Möglichkeiten aller Menschen, die unternehmerisch aktiv sind. Unter den Initianten der Initiative sind viele Ökonomen und Ökonominnen, die aber ein neues Kapitalverständnis vertreten, wonach zum Firmenkapital auch die Erde ebenso wie die Mitarbeitenden und ihr Wohlergehen gehören.

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