Hundert Jahre Das Goetheanum

Erinnerungen an den turbulenten Anfang des anthroposophischen Gemeinschaftswerkes Wochenschrift. Warum haben die Menschen damals eine Zeitung gegründet, die noch dazu jede Woche erscheinen sollte, als wäre man nicht schon genügend beschäftigt gewesen mit Vorträgen, Tagungen, Reisen, dem Verfassen von Aufsätzen und Büchern, dem Bau des Ersten Goetheanum und weiteren Bauten sowie wirtschaftlichen Gründungen?!


Aufbruch unter widrigen Umständen

Mit dem Goetheanum-Bau und der sozialen Dreigliederung standen Rudolf Steiner und die Anthroposophie voll in der Öffentlichkeit und in Auseinandersetzungen wie nie zuvor. Das bewog die Konzertagentur Wolff & Sachs, für Rudolf Steiner zwei Vortragstourneen durch ganz Deutschland in großen Sälen zu organisieren. Die Einnahmen waren durch den Publikumsandrang garantiert. Rudolf Steiner war eine öffentliche Persönlichkeit, die mächtige Wellen verursachte und Presse und Gegner auf den Plan rief. Es war die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, die Nazis formierten sich unter Hitler. Man hatte Rudolf Steiner und die sozialen Dreigliederer im Fadenkreuz. Im Mai 1922 Randalierer und Schlägertrupps bei einem Vortrag Rudolf Steiners in München. In der Presse Lügen über Rudolf Steiner und Verleumdungen der Anthroposophie. «In Vorträgen, in denen von anthroposophischer Seite versucht wurde, die verbreiteten Unwahrheiten richtigzustellen, störten Trillerpfeifen und Ratschen den Redner. Oder man riss Plakate herunter, in denen solche Vorträge angekündigt wurden. Schließlich schreckte man sogar vor der Anwendung körperlicher Gewalt nicht zurück und setzte Schlägertrupps ein, um die Vorträge Rudolf Steiners platzen zu lassen. Auf diese Weise glaubte man, bei den Zeitgenossen zum Ziel zu gelangen: Rudolf Steiner als Verkörperung all derjenigen Eigenschaften erscheinen zu lassen, die damals als negativ empfunden wurden – unerwünschter Fremdling, übler Scharlatan, entlaufener Priester, verkappter Jesuitenzögling, fragwürdiger Okkultist, versteckter Bolschewist, jüdischer Bastard, irregulärer Freimaurer, halbgebildeter Dilettant, aktiver Landesverräter. Rudolf Steiner – ein Mann des Übels im höchsten Grad.»1 Die Schweizer Fremdenpolizei ging den Gerüchten nach, wonach Rudolf Steiner ein «gefährlicher sozialistischer Agitator» sei, der «alldeutsche Propaganda» betreibe.

Cover: Druckplatte des Wochenschrift-Signets ab 1935.

Vor der Gründung der ‹Wochenschrift› waren schon einige anthroposophische Zeitschriften ins Leben gerufen worden: ‹Das Reich› (Alexander von Bernus, Heidelberg/München, April 1916–Juli 1920), ‹Dreigliederung des sozialen Organismus› (Stuttgart, seit Juli 1919), ‹Soziale Zukunft› (Roman Boos, Zürich, Juli 1919–1921), ‹Anthroposophy – A Journal of Higher Science› (London, seit November 1920), ‹Die Drei› (Stuttgart, seit Februar 1921). In Norwegen gab es bereits seit November 1915 die anthroposophische Zeitschrift ‹Vidar›, aber das war weit weg.

Ein Menschenkreis zieht sich zusammen

Vor 35 Jahren habe ich begonnen, in der ‹Wochenschrift› mitzuarbeiten; einmal wöchentlich habe ich an meinem Bürotisch zusammen mit Friedrich Hiebel die Schecks für die Autorenhonorare unterzeichnet. Erst jetzt ist mir klar geworden, wie es bei der Begründung der ‹Wochenschrift› und in ihren ersten Jahren zugegangen ist, bis hin zur Abonnentenentwicklung und den Finanzen. Dafür, dass mir während dieser kurzen Plaudereien nicht nur der ehemalige Chefredakteur gegenübersaß, sondern auch der erste Korrespondent und die ganze Geschichtslinie dieser Zeitschrift, reichte mein Bewusstsein damals noch nicht aus.

Ein Teil der Puzzleteile aus verstreuten Quellen betrifft die personelle Zusammensetzung. Jene Menschen, die in den ersten Jahrzehnten eine Rolle bei der Zeitschrift spielten, waren schon am Anfang dabei. Außer Rudolf Steiner waren das Albert Steffen, Willy Storrer, Paul Bühler und Friedrich Hiebel. Roman Boos war nur ganz am Anfang und auf die Begründung hin beteiligt, hier dafür ganz entscheidend. Friedrich Hiebel wirkte vom ‹Nachrichtenblatt› an mit, also seit 1924, dann viel später erst als Redakteur und schließlich bis zu seinem Tod 1989 als Protektor des ihm nachfolgenden Redaktionsteams. Albert Steffen, Paul Bühler, Friedrich Hiebel wurden nacheinander die ersten Redakteure der ‹Wochenschrift›, Willy Storrer war der Organisator bei der Begründung der Zeitschrift und ihr erster Administrator.

Im Jahr 1920 kamen fast zeitgleich, aber aus verschiedenen Richtungen, zwei gegensätzliche Naturen nach Dornach. Albert Steffen kam als freier Schriftsteller von München und wohnte seit dem 23. Juli 1920 in Dornach. Willy Storrer, der bis zum Frühling 1919 in Stuttgart als Redakteur und Journalist gearbeitet hatte, zog im Frühjahr 1920 mit seiner Partnerin Nora Berg erst von Winterthur nach Basel und schließlich nach Dornach. Roman Boos, der Erste im zu begründenden Zeitschriftenprojekt, war schon da, er war Sekretär von Rudolf Steiner. Der Jurist Roman Boos und Albert Steffen kannten sich, spätestens seit Februar 1919, sie bildeten zusammen das Komitee für die Schweiz, das per Flugblatt und in Tageszeitungen für die Verbreitung von Rudolf Steiners ‹Aufruf an das deutsche Volk und die Kulturwelt› sorgte, der von prominenten Zeitgenossen mitunterzeichnet war.2

Willy Storrer. Quelle: Forschungsstelle Kulturimplus.

Roman Boos und Willy Storrer kannten sich seit Oktober 1919. Die Geschäftsstelle des Schweizer Bundes für Dreigliederung des Sozialen Organismus wurde von Zürich nach Dornach ins Haus Friedwart verlegt, mit Willy Storrer als Sekretär von Roman Boos. Willy Storrer wurde Gründungsmitglied und Sekretär sowohl des Zweigs am Goetheanum wie der Anthroposophischen Gesellschaft in der Schweiz (mit Roman Boos als Generalsekretär). Als Roman Boos ein paar Monate später psychisch schwer erkrankte und Dornach für mehrere Jahre verlassen musste, übernahm der jugendliche Willy Storrer dessen leitende Aufgaben im Schweizer Bund für Dreigliederung, in der Anthroposophischen Gesellschaft der Schweiz sowie das Sekretariat am Goetheanum.

Mit der konstitutionellen Begründung von ‹Das Goetheanum. Internationale Wochenschrift für Anthroposophie und Dreigliederung› am 5. Juli 1921 wurde Willy Storrer der Organisator und Administrator, Edgar Dürler der Inserate-Akquisiteur und Albert Steffen der Redakteur. Bei dieser Sitzung im Haus Friedwart im Raum der Futurum AG waren außer Rudolf Steiner, Albert Steffen und Willy Storrer auch Ernst Blümel, Ethel Bowen-Wedgwood, Willy Stokar, Elisabeth Vreede sowie zwei nicht namentlich bekannte Schwedinnen anwesend.

Wie kam es zur Idee einer Wochenschrift?

Darüber herrscht immer noch Unklarheit. Gut vorstellbar, dass in einem der Gespräche zwischen Roman Boos und Willy Storrer die Zündung erfolgte. Sicher nicht bei Albert Steffen. Der hing vielmehr dem nächsten Buch nach und wäre am liebsten wieder nach Deutschland zurückgegangen. Auch von Willy Storrer kam eine solche Initiative nicht, sonst hätte er sich dies im Brief an Ita Wegman, wo er seine Verdienste aufzählte, explizit zugute gehalten.3 Willy Storrer war Sekretär von Roman Boos, Roman Boos Sekretär von Rudolf Steiner. Roman Boos hatte mit Rudolf Steiner regelmäßigen Kontakt, organisierte Vorträge Rudolf Steiners und Tagungen in der Schweiz. Vermutlich war er es, der Rudolf Steiner auf die Fälligkeit einer eigenen regelmäßigen Zeitung ansprach. Eine Bewegung, eine Szene braucht ihr Organ, wenn sie etwas in der Welt bewirken und sich verbreiten will. Die Dreigliederer waren so weit, sie hatten genug militanten Mumm für die Auseinandersetzung mit den Zeitgenossinnen und Zeitgenossen. «Wir hoffen, mit einem Ruck die Atmosphäre zu zerreissen, die durch die mystelnden Tanten und Onkels durch die Jahre hindurch um Dr. Steiner verbreitet worden ist; damit hoffen wir in der öffentlichen Meinung eine unerschütterliche Position zu erringen in dem Sinn, dass wir als eine unanfechtbare geistige Potenz im öffentlichen Leben der Schweiz und Europas anerkannt werden.» (Roman Boos an Albert Steffen in München in einem Brief vom 11.6.1920, womit er ihn zu einem Beitrag für den ersten mehrwöchigen Anthroposophischen Hochschulkurs zur Eröffnung des noch nicht fertig gebauten Ersten Goetheanum einlud, den er organisierte.)

Man hatte etwas zu sagen, und Gegner und Verleumder waren reichlich da und verbreiteten sich in der Presse. Besonders vehement waren die Hetzereien des katholischen Pfarrers Max Kully in Arlesheim gegen Rudolf Steiner, die Anthroposophie und das Goetheanum im Nachbardorf. Rudolf Steiner hatte für eine eigene Zeitung einen Sinn, aber auch dezidierte Qualitätsansprüche. Roman Boos und Willy Storrer trieben die Sache an. Albert Steffen zögerte noch, bremste. Roman Boos, Willy Storrer und Rudolf Steiner hatten praktische Erfahrungen mit Zeitungsarbeit und Zeitungsgründungen, sie kannten den Aufwand.

Wie fanden die Menschen zusammen?

Ab Dezember 1920 gab es Vorbesprechungen zur Gründung einer Zeitschrift, die von Roman Boos, einem der engagiertesten Dreigliederer (Rudolf Steiner: «Einer der mutigsten Vertreter der Anthroposophie») vorangetrieben wurden. Im Mai 1921 kündigte sich eine psychische Krankheit bei Roman Boos an, der für die nächsten Jahre dann ganz ausfallen sollte. Albert Steffen korrigierte seinen Freund Hans Reinhart: «Dr. Boos ist selbstverständlich nicht im Irrenhaus, sondern bei seiner Schwester. Er hat sich überanstrengt und muss sich erholen. Das ist alles, so viel ich weiss.» (Brief vom August 1921) Übrig war dann noch Willy Storrer (noch nicht 26 Jahre alt), der von etwas Tagespolitischem mit auswärtigen Journalisten träumte, einer Redaktionskommission. Albert Steffen könne sich um Kulturelles kümmern.

Roman Boos. Quelle: Rudolf-Steiner-Archiv

Erst einen Monat vor dem Start, im Juli 1921, klärte Rudolf Steiner die Lage, und die Sache konnte endlich Fahrt aufnehmen. Er schlug Albert Steffen als alleinigen Redakteur vor. Willy Storrer besorgte die Administration der ‹Wochenschrift›. Herausgeber wurde der Verlag am Goetheanum, der als eine Abteilung der Futurum unter Leitung von Willy Storrer eigens gegründet wurde, um die ‹Wochenschrift› herauszugeben – zwar nicht mehr lange, denn 1927 wurde er vom Dornacher Vorstand entlassen und drei Jahre später stürzte er 34-jährig beim tollkühnen Tiefflug mit seinem Sportflugzeug am Gempen ab, nachdem er kurz zuvor sein Flugbrevet erhalten hatte. Roman Boos war krankheitshalber draußen. Emil Gmelin führte dann für die nächsten Jahrzehnte bis ins hohe Alter die Administration.4 Nach Albert Steffens Schilderungen5 der Konferenzen mit Rudolf Steiner werden einige inhaltliche Wünsche Rudolf Steiners fassbar. Ein solches Presseunternehmen müsse individuell geleitet werden (keine Redaktionskommission, kein Team), wenn es gelingen solle: «Alles hänge von der Arbeitsfreude dessen ab, dem es aufgetragen werde. Und die müsse frei verfahren dürfen.» – «Nur Vortreffliches sowohl im Gehalt als in der Form.» Keine Parteipolitik. «Rudolf Steiner aber wollte Politik durch Erkenntnis ersetzt wissen, und was sich aus dieser ergab: die Dreigliederung des menschlichen und sozialen Organismus. Er sagte, dass er solchen Ersatz selber leisten werde. Er wollte, dass jede Politik aus der anthroposophischen Bewegung verschwinde.» Es war Rudolf Steiners ausdrücklicher Wunsch, dass auch Gedichte erschienen. Er hatte gar die Absicht, selbst einen ganzen Jahreszeitenzyklus zu dichten, wozu es aber nicht mehr kam.

Für eine neue Zeitschrift gab es nicht gerade wenig zu organisieren. Die Finanzierung, 10 000 Franken pro Ausgabe, sollte vorerst die Futurum AG übernehmen. Es standen an: Verhandlungen mit der Druckerei, zeitlicher Produktionsablauf, Entscheidungen über Format, Layout, Titelgestaltung mit dem Logo nach Rudolf Steiners Entwurf, Akquisition von Inseraten, Einplanung des Bleisatzes der Artikel, Fahnenkorrektur. Alles Dinge, mit denen wenigstens Rudolf Steiner schon Erfahrung hatte, Albert Steffen hingegen nicht. Erste Inserate gab es ab Januar 1922 (noch nicht in jeder Nummer), regelmäßig wurden Hinweise auf ‹Veranstaltungen der anthroposophischen und Dreigliederungsbewegung in der Schweiz› publiziert. Einen Monat bevor die ‹Internationale Wochenschrift für Anthroposophie und Dreigliederung› in einer Startauflage von 20 000 Exemplaren (so auf der ersten Seite aufgedruckt) bei Emil Birkhäuser & Cie. in Basel herauskam, wurde der Inhalt der ersten Ausgabe bestimmt. Wie es weitergehen würde und woher die Beiträge kommen würden, war offen. Es hing an Rudolf Steiner und Albert Steffen. «Am 21. Juli wurde von Dr. Steiner und mir die erste Nummer beraten. Er gedachte über die Weltlage, ich über Dornach zu schreiben. Das übrige blieb ungewiss, weshalb ich nach dieser Besprechung mit einiger Sorge vor dem Haus, worin ich wohnte, auf und ab spazierte und mich, auf die Gartenbeete blickend, fragte, was uns wohl in Zukunft für Beiträge blühen würden.»6 Auf jeden Fall wurde in den nächsten vier Jahren bis zu Rudolf Steiners Tod jede Nummer der ‹Wochenschrift› möglichst gemeinsam von Albert Steffen und Rudolf Steiner durchgesprochen.

Nach der ersten Ausgabe war die Aufregung ja nicht vorbei. Ein paar Tage später musste schon die nächste Ausgabe fertig sein usw. Schlag auf Schlag. Das Blatt musste weitere Mitarbeitende finden, die schreiben konnten, außerdem mussten Leserinnen und Leser, Abonnenten und Inserentinnen erreicht werden. Das neue Produkt erschien zu einem günstigen Zeitpunkt. Am Goetheanum war kreative Stimmung, es begann ein Sommerkurs/Summer Art Course mit Künstlerinnen und Künstlern aus ganz Europa und den USA. Anschließend ging’s nach Stuttgart zum elftägigen öffentlichen Kongress ‹Kulturausblicke der anthroposophischen Bewegung›. In der ‹Wochenschrift› wurde natürlich darüber berichtet. Es ging darum, einer unsachgemäßen Gegnerschaft den Kulturwillen der anthroposophischen Bewegung demonstrativ entgegenzusetzen. Unter den 1600 Teilnehmenden waren 300 Studierende, einer von ihnen war Friedrich Hiebel. Einer der Redner, Walter Johannes Stein, vermittelte Friedrich Hiebel eine persönliche Begegnung mit Rudolf Steiner. Während des Kongresses lag auch die Startausgabe der ‹Wochenschrift› in Mengen aus, um Abonnenten zu werben. So lernte Friedrich Hiebel die ‹Wochenschrift› schon von Anfang an kennen, er wurde bald einer ihrer Autoren und Korrespondenten und 45 Jahre später ihr Chefredakteur.

Albert Steffen, Rudolf Steiner und Ernst Uehli auf dem Wiener West-Ost-Kongress 1922. Quelle: Archiv der Albert Steffen-Stiftung.

Nachrichtenblatt und Korrespondenten

Ab dem 13. Januar 1924 kam noch die wöchentliche Beilage ‹Was in der Anthroposophischen Gesellschaft vorgeht – Nachrichten für deren Mitglieder› dazu, eine Frucht der gerade abgeschlossenen Weihnachtstagung zur Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft. Im letzten Paragraphen der Gründungsstatuten heißt es: «Gesellschaftsorgan ist die Wochenschrift ‹Das Goetheanum›, die zu diesem Ziele mit einer Beilage versehen wird, die die offiziellen Mitteilungen der Gesellschaft enthalten soll. Diese vergrößerte Ausgabe wird nur an die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft abgegeben.»7

Rudolf Steiner berief während der Weihnachtstagung «Korrespondenten des Vorstandes, welche die freiwillige Verpflichtung etwa übernehmen würden, jede Woche uns hier einen Brief zu schreiben über das, was sie draußen in der Welt bemerkenswert finden im geistigen Leben und was die Anthroposophische Gesellschaft interessieren könnte».8 An erster Stelle nannte Rudolf Steiner Josef van Leer in Wien, einen holländischen Großkaufmann, Förderer verschiedener anthroposophischer Institutionen und erster Präsident des Verwaltungsrats der Weleda. In zweiter Linie bezeichnete Rudolf Steiner 13 weitere Menschen, überwiegend Generalsekretäre und Landesvertreter. Er bat die Vorgeschlagenen mit Handerheben zu bestätigen, wenn sie bereit seien für dieses freiwillige Amt, und fasste zusammen: «Die sämtlichen Persönlichkeiten haben sich bereit erklärt, die Verpflichtung zu übernehmen, in jeder Woche einen Bericht hier an die Redaktion des ‹Goetheanum› zu senden.»9

Friedrich Hiebel. Quelle: Forschungsstelle Kulturimpuls.

Die Durchsicht der ersten Jahrgänge liefert ein ernüchterndes Fazit: Die Berichterstattung (‹die berichtenden Briefe›) der Generalsekretäre und weiterer Menschen als regelmäßige Korrespondenten des Vorstands am Goetheanum «über alles das, was die Anthroposophen interessieren kann im geistigen und sonstigen Leben der Welt» (Rudolf Steiner), hat von Anfang an und bis heute kaum bis gar nicht funktioniert. Im ersten Jahr kamen wenige Beiträge von Wilhelm Zeylmans und Ludwig Polzer-Hoditz. Josef van Leer hat selbst nichts gemacht, aber die Aufgabe einem jungen Mitarbeiter, eben Friedrich Hiebel, übertragen. Auch Rudolf Steiner bemerkte zu Albert Steffen, dass Friedrich Hiebel der Einzige sei, der sich mit regelmäßigen Beiträgen diesen Auftrag zu Herzen nähme. Friedrich Hiebel hatte also schon früh an der Zeitschrift mitgearbeitet und hat über 60-jährig nach Albert Steffens (1963) und Paul Bühlers Tod (1966) die Leitung der ‹Wochenschrift› mit dem ‹Nachrichtenblatt› übernommen – dies als neu gewähltes Mitglied des Vorstands am Goetheanum und als Leiter der Sektion für Schöne Wissenschaften. Vom Dornacher Vorstand hat außer Albert Steffen noch Günther Wachsmuth allerdings nur wenige Beiträge fürs ‹Nachrichtenblatt› geliefert. Im Sinne von Rudolf Steiners Erwartungen gab es Blicke in Bücher und in die Tagespresse mit kritischen Kommentaren und Widerlegungen durch anthroposophische Autoren, oft durch Albert Steffen, – und – das war’s dann schon fast.

Gleich in den ersten Januar-Nummern beschrieb Rudolf Steiner in den Briefen an die Mitglieder, warum es jetzt noch eine Beilage brauche: Unter anderem, um «aus einem Chaos verschiedener Gruppen zu einer Gesellschaft mit einem geistigen Inhalt» zu werden. (Rudolf Steiner im ‹Nachrichtenblatt›, 17.2.1924)

Mit dieser Beilage sollte ein einheitliches, gemeinsames Bewusstsein unter den Anthroposophinnen und Anthroposophen befördert werden. «Das Leben, das sich in den einzelnen Gruppen abspielt, soll vor dem Bewusstsein der ganzen Gesellschaft aufleben können. Briefe, in denen für das Leben der Gruppen mit Interesse erfüllte Mitglieder an die Redaktion sich mit ihren Mitteilungen wenden, werden dann durch diese verarbeitet werden. Es wird dadurch für die Entstehung eines gemeinsamen Bewusstseins in der Gesellschaft gewirkt werden können. Nur wenn die Mitglieder in Neuseeland erfahren können, was in einer Gruppe in Wien vorgeht, wird solch ein gemeinsames Bewusstsein möglich sein. Aber dies soll nicht das Einzige sein. Auch was im geistigen Leben der Gegenwart außerhalb der Gesellschaft vorgeht, soll in das gemeinsame Bewusstsein aufgenommen werden.» (Rudolf Steiner im ‹Nachrichtenblatt›, 27.1.1924)

Mit der neuen Zeitschrift ging es um «Weite des Gesichtskreises», «reges Interesse für alle Erscheinungen des Lebens» und um gesundes Urteilen über diese Erscheinungen. Anthroposophie «kann nur die rechte Form erhalten durch ein offenes Auge für alles, was in der Welt gedacht, gewollt, getan wird. Das ‹Nachrichtenblatt› sollte ein Spiegelbild werden von dieser Art des Denkens in der Gesellschaft.» (Rudolf Steiner im ‹Nachrichtenblatt›, 27.1.1924). Alles Dinge und Gesichtspunkte, die genauso auch für die ‹Wochenschrift› zutreffen.

Brief Willy Storrers an Galliker vom 22. Dezember 1921. Quelle: Rudolf-Steiner-Archiv

Albert Steffen – die Kontinuität

Der frühe Ruhm hatte Albert Steffen (vor allem in Berlin und München) ein Leben als mehr oder weniger freier Schriftsteller erleichtert, dennoch war er auf Unterstützung weiterhin angewiesen. Seit dem 23. Juli 1920 wohnte er in Dornach. Von einer in Basel in Gründung begriffenen Kulturzeitschrift ‹Ars Helvetica – Schweizer Kunst, Literatur, Musik› hatte er ein verlockendes Angebot zur Mitarbeit im Feuilleton erhalten, zuerst mit 2000, dann mit bis zu 5000 Franken festem Jahresgehalt, zusätzlich Honorar für eigene Beiträge als erster Mitarbeiter der Redaktion für Rezensionen und als Berater des Ressorts Drama und des Ressorts Kunst. Aus dem Projekt dieser Kulturzeitschrift ist schließlich nichts geworden. Eine Entscheidung zwischen ‹Ars Helvetica› und ‹Wochenschrift› blieb Albert Steffen somit erspart. Im Dezember 1920 trafen Albert Steffen und Roman Boos Dr. Lohmeyer vom Rhein-Verlag in Basel für ein Beratungsgespräch. «Er sagte: Eine Monatsschrift würde er gerne in seinen Verlag nehmen, eine Wochenschrift rate er einer Zeitungsexpedition zu übergeben. Dr. Boos war mehr für eine Wochenschrift, ich mehr für eine Monatsschrift. Es schien uns indessen gar nicht richtig, darüber zu entscheiden, bevor wir sicher sind, dass wir auch Geld genug haben.» (Brief Albert Steffens an Hans Reinhart vom 9.1.1921)

Anfang Juli 1921 war die Entscheidung zugunsten der ‹Wochenschrift› gefallen. «Für mich haben in den letzten Tagen wichtige Erlebnisse stattgefunden, die wohl dazu führen werden, dass ich künftig mehr als bisher mit Dr. Steiner zusammenarbeiten will.» (Albert Steffen an Hans Reinhart, 9.7.1921)

In der zweiten Hälfte des Jahres 1921 erschien nicht nur die erste Nummer ‹seiner› Zeitschrift, sondern auch ‹Wegzehrung›, Albert Steffens erster Gedichtband nach mehreren Romanen. Und zwar im Rhein-Verlag Basel. Fortan sollten gerade diese zwei gegensätzlichen Seiten, die des Redakteurs und Artikelschreibers einerseits und die des Lyrikers, Dramatikers und Romanciers andererseits an Albert Steffen gleichzeitig zerren und ihn zu zerreißen drohen. Abreisen oder in Dornach bleiben? Das war in den ersten Jahren die Existenzfrage. Die Schriftstellerkollegen verstanden Albert Steffen nicht mehr, wandten sich vom Anthroposophen ab. Seine Veröffentlichungen wurden zwar noch besprochen, aber kaum im Sinn von Albert Steffens Erwartungen. Noch 1947 lobte Friedrich Dürrenmatt in seiner Theaterkritik ganz allgemein die Sprache von Albert Steffen: «Steffen hat gute Gedichte geschrieben und sehr gute Prosa geschrieben.» Am Dramatiker Albert Steffen fand der Dramatiker Friedrich Dürrenmatt hingegen nichts Lobenswertes. «Das Stück war peinlich. Schlechte Kunst ist immer peinlich. Unser Urteil ist hart, aber wir haben in der Uraufführung gelitten.»10 Die Anthroposophen bemerkten oder schätzten die Dichtungen des Dichters kaum – außer Rudolf Steiner. In der 22. Ausgabe der ‹Wochenschrift› vom 15.1.1922 steht auf der ersten Seite, wo sonst eine aktuelle Zeitbetrachtung Rudolf Steiners zu lesen war, sein Artikel ‹Albert Steffen als Lyriker›, ein empathischer Hinweis auf die Neuerscheinung des Gedichtbands ‹Wegzehrung›.

Hätte es ein Bewerbungsverfahren für das Zeitungsprojekt gegeben, wäre Albert Steffen von den Voraussetzungen her der denkbar Ungeeignetste gewesen. Die Wahl Rudolf Steiners fiel aber eindeutig auf ihn. Albert Steffen stand mit seinen Buchpublikationen in der Kulturwelt, er bürgte für gewissenhaften, künstlerischen Umgang mit der Sprache und er hatte die Tugend der Treue – auch, wie sich erst noch erweisen würde, zu Rudolf Steiner und dessen Auftrag zur Leitung des Projekts ‹Wochenschrift› mit der Beilage des ‹Nachrichtenblatts›, über vierzig Jahre lang, egal wie sich die Gesellschaft und die gesellschaftliche Lage entwickelte oder nicht entwickelte.

Honorarabrechnung vom 8. Februar 1923 über Autorenhonorare für Beiträge Rudolf Steiners im zweiten Jahrgang der Wochenschrift ‹Das Goetheanum›, Nr. 1–25. Quelle: Rudolf-Steiner-Archiv.

Albert Steffen als Redakteur

Nach Rudolf Steiners Tod, ohne seinen Beistand und seine regelmäßigen Beiträge, kam Albert Steffen schon bald in Not. «Redaktionelle Mitteilung. Infolge der immer mehr anwachsenden Arbeit ist es mir nicht mehr möglich, Zeit und Ruhe zu finden, um in jeder Nummer des Goetheanums wie bisher meinen Aufsatz zu schreiben. Ich muss deshalb die Mitarbeiter bitten, ihre Kräfte zu verdoppeln und gediegene Arbeiten zu verfassen und einzuschicken. Ich habe solche sehr nötig. Albert Steffen.» (‹Nachrichtenblatt›, 21.2.1926, S. 32) Roman Boos war als der totale Einsatz an der Front vorgesehen gewesen, rückhaltlos bereit, alles zu geben für Rudolf Steiner, die Verwirklichung der Anthroposophie und die soziale Dreigliederung. Da Roman Boos kurz vor dem Start der Zeitschrift für die nächsten Jahre krankheitshalber ausfiel, rückte Willy Storrer an seine Stelle und erhielt seine Aufgaben. Als Roman Boos nach seiner Genesung nach Rudolf Steiners Tod wieder zurückkam, wandte er sich an Albert Steffen. «Was als ‹Konflikt› zwischen uns war, das sehe ich so an, wie wenn zwei Krieger, die nach einer Richtung vorwärtsstürmen, einmal einen Moment mit den Schultern einander anstoßen, weil irgendein Weghindernis sie zusammendrängte. […] Unendlich gewaltiger als alles erdenkliche ‹gegen›, das zwischen uns möglich sein könnte, ist Sorge und Arbeit um das Ziel.» (Roman Boos in einem Brief am 13.2.1926 an Albert Steffen)

In dem imaginären Bewerbungsverfahren für die ‹Wochenschrift› hätte Willy Storrer Erfahrung als Journalist und Redakteur in mehreren Tageszeitungen vorzuweisen gehabt. Willy Storrer kam aber nicht in die redaktionelle Leitung, sondern wurde von Rudolf Steiner in die Organisation und Administration der Zeitschrift verbannt/versetzt/zurückgebunden. Willy Storrer verfügte über Energie, Tatkraft, Begeisterung fürs Zeitschriftenprojekt, er war sozusagen hungrig darauf. Eigentlich waren Albert Steffen und Willy Storrer Kollegen. Aber das fühlte sich wohl für beide nie so an. Die zahlreichen kritischen bis sehr kritischen Tagebucheintragungen zu Storrers Verhalten und Lebensweise bezeugen eine große Differenz. Vermutlich hat Albert Steffen es Willy Storrer unmissverständlich spüren lassen, dass er zu einer anderen Liga gehörte, und das nicht erst seit der Weihnachtstagung, wo er im obersten Gremium der neu gegründeten Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft einen Sitz neben Rudolf Steiner einnahm.

Vom Gartengehilfen über den Laufburschen zum Chefredakteur

Honorarabrechnung für Albert Steffen 1922/23. Quelle: Goetheanum Dokumentation.

Als die Zeitschrift schon über ein Jahr lang erschienen war, kam Paul Bühler dazu. Als 20-jähriger Student und Wandervogel erreichte er durch die Bekanntschaft mit Willy Storrer Dornach. Sie waren sich zuerst zufällig und flüchtig bei Eduard Reinacher in Stuttgart begegnet, einem Lyriker, Hörspiel- und Stückeschreiber, anschließend auf dem Perron des Stuttgarter Bahnhofs. Willy Storrer, mit Pelzmantel und Pelzmütze und rauchend, wirkte voller Lebensfreude auf den in Melancholie versunkenen jungen Lyriker. Sie fuhren ein Stück weit zusammen im selben Zug, Willy Storrer zeichnete, man unterhielt sich, Storrer reichte Paul Bühler Rudolf Steiners Mysteriendrama ‹Der Seelen Erwachen› zur Lektüre. Bevor sie sich trennten, lud Willy Storrer Paul Bühler nach Dornach ein, um seinen Garten umzugraben und dabei ein bisschen Geld zu verdienen. Eine Woche später, im April 1923, landete Paul Bühler im Haus Friedwart, Willy Storrers Wohn- und Arbeitsplatz mit der Administration der ‹Wochenschrift› und dem Büro der Dreigliederungsbewegung der Schweiz. Während eines Vortrags in Basel erlebte Paul Bühler Rudolf Steiner und wurde sofort Mitglied.

Ein paar Monate später, zu seinem 21. Geburtstag, war Paul Bühler wieder in Dornach, wo er zum Geldverdienen nun in der Administration bei Willy Storrer mithelfen konnte, den Boten machte zwischen Dornach und der Druckerei in Basel. Er wurde auch zum Boten zwischen Redaktion und Administration und Rudolf Steiner. «Es war vor der Weihnachtstagung 1923, als eines Abends nach einem Vortrag aus dem Haus [Hansi], in dem Rudolf Steiner wohnte, ein Telefonanruf ins Haus Friedwart kam, er vermisse die eben herausgekommene ‹Goetheanum›-Nummer. Jede neue Nummer wollte er sogleich sehen. Und der Administrator [Storrer] übergab sie ihm jeweils nach den Vorträgen am Freitag. […] Mein Gastgeber [Storrer] rief mich und bat mich, die Zeitschrift hinzubringen. Wie erstaunte ich, als Dr. Steiner selbst an die Tür kam und in gerechtem Zorne rief, dass er sich solche Behandlung nicht gefallen lasse. Ich wusste von nichts und sagte, es tue mir leid. Da wurde Rudolf Steiner sehr gütig, reichte mir aufs Liebevollste die Hand und sagte: ‹Ich weiß, dass Sie nichts dafür können. Aber geben Sie es weiter.› Ich frug, ob er die Zeitschrift immer persönlich empfangen wolle. Ja, auch die Korrekturen. Dieses Geschehnis und eine wiederholte Unpünktlichkeit dessen, der bei Rudolf Steiner die Manuskripte seiner Aufsätze abholen musste, hatte für mich die glückliche Folge, dass ich in Zukunft mit diesem Amte betraut wurde. Es bereitete mir oft Hemmungen, wenn ich mit den Korrekturbogen oder den fertigen ‹Goetheanum›-Nummern an die Ateliertüre der Schreinerei kam, wo Dr. Steiner arbeitete, und klopfen sollte. Ihn stören kam mir wie ein Vergehen vor. Dennoch sagte ich mir: Er wollte es doch. […] Ich erinnere mich, wie ich, gequält von den Zuständen im Haus Friedwart, Rudolf Steiner sprechen wollte und ihn fragen, was man da tun könne. […] Später bedauerte ich, ihm damals nicht mein Herz ausgeschüttet zu haben, auch auf die Gefahr hin, meinen Wohltäter [Storrer] damit zu kompromittieren. Vielleicht hätte Dr. Steiner dem Verhängnis noch steuern können, in das jener hineintrieb.»11

Paul Bühler war während Jahrzehnten weit mehr als eine dienende Hilfskraft. Er beriet und entschied bei eingegangenen Beiträgen, las Korrektur, komponierte die Zusammenstellung der Zeitschrift und gab viele Ausgaben selbstständig heraus, wenn Albert Steffen oft wochenlang unterwegs war. So war Bühler bestens vorbereitet, um nach Albert Steffens Tod die Redaktion der ‹Wochenschrift› in den vier Jahren bis zu seinem eigenen Tod 1966 weiterzuführen. Nach Paul Bühlers Tod übernahm Friedrich Hiebel 63-jährig die Redaktion, er war noch von Albert Steffen in den Vorstand und die Leitung der Sektion für Schöne Wissenschaften gebeten worden. Ab 1984 übergab Friedrich Hiebel 83-jährig die Redaktion an Martin Barkhoff und Manfred Krüger. Bis zu Friedrich Hiebel kannten sich die bisherigen Mitarbeiter der ‹Wochenschrift›, waren untereinander gut bekannt, hatten Rudolf Steiner und Albert Steffen noch erlebt.

Paul Bühler, 18 Jahre. Quelle: Forschungsstelle Kulturimpuls.

Nachdem Friedrich Hiebel über vierzig Jahre die Entwicklung der ‹Wochenschrift› und ihre Beiträge aus der Ferne verfolgt hatte, wandte er sich als Redakteur an die Leserinnen und Leser und signalisierte, dass er das Verhältnis zwischen Redaktion und Abonnenten durchaus kritisch betrachten konnte und gegen die (üblichen) Anwürfe schon genug immun war: «Es stehe zu viel von dem, zu wenig von jenem drin. Dies sei zu lang, das zu kurz behandelt. Warum denn das eine statt des andern! […] Freilich lässt das Inhaltliche und Formale einen weiten Spielraum von Wünschen und Verbesserungsvorschlägen übrig! An Programmen und Anzeigen ist kein Mangel. Aber die Berichte, die über die Aktivitäten schreiben, müssten oft weit über das hinausgehen, was bloß Freundlichkeiten und Hinweise in allgemeinen Wendungen und abgegriffenen Wortformen aussagen. Man will doch überall einen individuellen Herzschlag hören, eine vom Ich durchdrungene Zeichnung sehen und nicht bloß lesen, dass bei einer Veranstaltung ‹im voll besetzten (!) Saal durch anhaltenden (!) Beifall der ausgezeichnete (!) Vortrag ein großes (!) Interesse bei der begeisterten (!) Zuhörerschaft erregt›. Ein Appell an Generalsekretäre und Landesvertreter, an Gruppenleiter und Redner, an Führungsgremien und Institutionen der Tochterbewegungen ist völlig fruchtlos. Es hat ja auch selbst zur Zeit, als Rudolf Steiner an der Weihnachtstagung bestimmte Persönlichkeiten zur wöchentlichen Berichterstattung ernannt hatte, so gut wie nichts bewirkt, wie Albert Steffen sich mir gegenüber im Herbst 1924 verbürgt hat. Die Mitverantwortlichkeit muss aus dem Herzstrom innerer Verbundenheit kommen. Bleibt sie nur im Äußeren stecken, dann sind Berichte doch nichts weiter als Selbstanzeige und Gruppenreklame. Der Redaktor wird degradiert zum Schalterbeamten eines Annoncenbüros, der Reporte und Programme so schnell wie möglich zu publizieren hat!»12

Willy Storrer – Enfant terrible

Zurück in die Gründerzeit. Am 11. November 1924, um acht Uhr abends und bei dichtem Nebel, kollidierte beim Basler Dreispitz ein Auto mit der von Dornach kommenden Tram der Birseckbahn. Am Steuer saß der Administrator der ‹Wochenschrift›. Den Rennwagen Amilcar, eine französische Marke, hatte er erst eineinhalb Jahre vorher gekauft. Jetzt war das Vorderteil des Autos wegrasiert, der Rest des Wagens wurde mehrere Meter weit weggeschleudert. Der Chauffeur hielt nur noch das zerbrochene Steuerrad in der Hand. Der Beifahrer, Carl Bürckle, ein Freund, der auch Buchhalter in der ‹Wochenschrift› war, konnte noch vor dem Zusammenstoß aus dem Wagen springen.

Willy Storrer und Carl Bürckle gehörten zum Aktions-Komm­unikations-Begegnungszentrum Friedwart des anthroposophischen Dornachs unterhalb des inzwischen gut sichtbaren Goetheanumbaus. Im Friedwart machte man sich an jenem Abend noch keine Sorgen über den Verbleib der beiden. Einerseits waren spontane Spritzfahrten Willy Storrers an der Tagesordnung, andererseits waren alle dort auch abends noch sehr beschäftigt. Unter dem Dach dröhnte russische Sprachgestaltung.

Im Parterre, wo Willy Storrer mit Nora Berg wohnte, wurde unter Besuchern heftig diskutiert, zuweilen gab es auch bloß ein übermütiges Gelage. Im ersten Stock war Klaviermusik zu hören. Willy Stokar übernahm mit seiner Schwester, einer Eurythmistin, den Haushalt des erkrankten und abwesenden Roman Boos. Willy Stokar aus Schaffhausen, Schriftsteller und Vortragsredner, enger Mitarbeiter von Willy Storrer, im Verwaltungsrat der Futurum, Gründungsmitglied des Zweigs ‹Neue Generation›, organisierte Bauführungen im Ersten Goetheanum und wirkte im Arbeitsausschuss am Goetheanum. Stokar war es auch, der den Kontakt zwischen Willy Storrer und dem Mäzen Hans Reinhart herstellte. Kollege Edgar Dürler aus St. Gallen erhielt eine Arbeits- und Schlafstelle im Haus, jetzt haute er dort in die Tasten seiner Schreibmaschine. Er übernahm zunächst die Inserate-Akquisition für die ‹Wochenschrift›, war im Verwaltungsrat der Futurum und Gründungsmitglied des Zweigs ‹Neue Generation›. Ab 1931 wurde er Präsident der Weleda Arlesheim.

Willy Storrer vor seinem Flugzeug, Ansichtskarte. Quelle: Rudolf-Steiner-Archiv.

Haus Friedwart war eine Wohn- und Arbeitsgemeinschaft von jungen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der ‹Wochenschrift›, mit Kumpanen Willy Storrers, die zum Teil auf der Gehaltsliste des Goetheanum standen, laut Rudolf Steiner die «Storrerei». Tagsüber erledigte in der Administration noch ein Frl. Walter Büroarbeiten, wo auch Mirjam Ebner aus Stuttgart im Büro mitarbeitete, sie war Gründungsmitglied und Sekretärin von Willy Storrers Zweig ‹Neue Generation›. Willy Storrer pries sie Rilke in Muzot als Haushaltshilfe an, dieser verzichtete aber dann doch auf sie. In Reserve hatte Willy Storrer noch seinen Kollegen Hans Wilhelm Keller aus Schaffhausen, einen Journalisten, Schriftsteller und Maler, der Vorlagen für Kabarett und Theater schrieb. Er war ein weiteres Gründungsmitglied des Dornacher Zweigs ‹Neue Generation›, ab 1925 Redakteur der ‹Schweizerischen Depeschenagentur (SDA)› in Basel, ab 1946 Chefredakteur der SDA in Zürich.

Das Haus beherbergte damals unter anderem Sekretariate verschiedener anthroposophischer Initiativen und sogar einen Verlag: die Geschäftsstelle des Schweizer Bunds für Dreigliederung, das Sekretariat der Anthroposophischen Gesellschaft und des Goetheanum, den Verlag am Goetheanum/Administration der ‹Wochenschrift›, den Schulverein der Rudolf-Steiner-Schule Basel. Hier war die Anlaufstelle für alle Goetheanum-Besucher und für alle, die Mitglied werden wollten. Im Haus Friedwart konnten auch die Billette für die Weihnachtstagung im Jahre 1923 zur Begründung der Anthroposophischen Gesellschaft erstanden werden. Willy Storrers Umgang mit den verschiedenen Kassen und Buchhaltungen und sein chronischer Geldmangel ließen das Misstrauen gegenüber ihm nicht mehr einschlafen.

Zurück zu Willy Storrers Auto. Es blieb nicht der einzige Autounfall von Willy Storrer, der sich auch an Rennen in der Umgebung beteiligte. Für den tödlichen Unfall genügte dann eines seiner vielen schnellen Autos noch nicht, da musste schon ein Flugzeug her. Willy Storrer hinterließ mit 34 Jahren und sieben Monaten nicht nur einen Trümmerhaufen auf dem Gempen und einen mit ihm gestorbenen Waldorfschüler, sondern einen Berg von Schulden, den Konkurs seiner Unternehmen, angezettelte Buch- und Verlagsprojekte, ein «namenloses Wirrwarr» (nach dem Lyriker und Geldgeber Hans Reinhart) und viele unglückliche Menschen.

Leben, Verhalten, Talente und das unbändige Selbstbewusstsein von jemandem wie Willy Storrer lassen sich in den Schilderungen leichter und imponierender lesen, als es wohl mit ihm als Zeitgenossen oder gar als Mitarbeiter zu ertragen war. Nicht wenige erlebten ihn als anmaßend. Für Albert Steffen war er eine Zumutung, wie er sich nach dem entscheidenden Tag für ihn und die ‹Wochenschrift› am 5.7.1921 über Willy Storrer ins Tagebuch notierte: «Ich war aufs Tiefste bedrückt und leer durch diesen Menschen.» Von jung auf war es für Willy Storrer klar, dass er Schriftsteller werden und eine eigene Zeitschrift haben wollte. Storrers größter Coup war die in Buchumfang erscheinende ‹Individualität – Vierteljahresschrift für Philosophie und Kunst›, mit dem Ziel, «eine Tribüne zu schaffen, auf der vor den Augen Europas die verschiedensten Vertreter der Anthroposophie denjenigen des modernen Geisteslebens der Außenwelt begegnen».13 Für Beiträge in seiner Zeitschrift konnte er in den vier Jahren ihres Bestehens Hermann Hesse, Robert Walser, Franz Werfel, Alexander von Bernus u. a. gewinnen. Der Vorschlag Willy Storrers, noch eine weitere Goetheanum-kritische Zeitschrift mit Karl Balmers eigenen Heften ‹Rudolf-Steiner-Blätter› (ursprünglicher Titel ‹Ahrimans Spiegel›) zu fusionieren, zündete bei diesem wie ein Schlachtruf: «So viel ist mir klar, dass das neue Organ die bisherigen Käsblätter, ‹Die Drei›, ‹Goetheanum› und ‹Anthroposophie›, möglichst kaltstellen müsste.»14

Haus Friedwart, Sitz der Administration bis 1927. Heute Gästehaus. Foto: Sofia Lismont.

Aus dem Nachruf von Willy Stokar, Willy Storrers Freund, Hausmitbewohner und Mitredakteur der ‹Individualität›, ergibt sich trotz gefühlvoll gewählter Worte deutlich das Bild seines auffälligen bis abschreckenden Verhaltens.

«Mit Recht mochte man immer von Neuem gespannt darauf sein, wohin die Wege seines Tuns führen werden, der eine mit heimlicher Sorge, der andere voll froher Erwartung im Herzen. Vielleicht lag es in dieser Unberechenbarkeit begründet, dass er in jeder Art von Versammlung oder Gesellschaft als Fremdling wirkte und kaum jemals in einer Masse unterging.» Sein Auftrag im Sekretariat am Goetheanum brachte es mit sich, dass er «in der Regel mindestens einmal in der Woche zu Dr. Steiner musste, um geschäftliche Dinge zu besprechen. […] Es sind bewegte Jahre gewesen, in denen Willy Storrer die Geschäftsstelle am Goetheanum leitete und ohne das fortgesetzte Eintreten Dr. Steiners für ihn wäre es undenkbar gewesen, dass er bis zur Weihnachtstagung auf seinem Posten blieb.»15

Nach dem Tod Rudolf Steiners war Willy Storrer nicht nur fürs Dornacher Establishment unerträglich und schließlich untragbar geworden. Er thematisierte an der Generalversammlung seine Kündigung durch den Vorstand und verließ am 31.3.1927 definitiv das Büro der ‹Wochenschrift›, ein Jahr nach der ersten Ausgabe seiner eigenen Kulturzeitschrift ‹Individualität›. Schon 1922 war Willy Storrer drauf und dran gewesen, Dornach zu verlassen, als die Beziehung zu Rudolf Steiner wie zu Marie Steiner in eine vorübergehende Krise geraten war. Eine andere prominente Stimme und Einschätzung ist die von Hans Erhard Lauer. «Ich bedaure den Tod von Herrn Storrer vor allem vom Gesichtspunkte der anthroposophischen Bewegung aus, denn von wie vielen Seiten aus er auch gerade innerhalb derselben angefeindet wurde, er war doch eine unserer stärksten, originellsten Persönlichkeiten und repräsentierte ein Element innerhalb unserer Bewegung, das diese, wenn sie nicht erstarren soll, nicht verlieren darf.»16

Ohne den Dauereinsatz von Albert Steffen hätte die ‹Wochenschrift› wohl schwer die Kontinuität über die ersten 42 Jahre erhalten. Ohne den Einsatz von Willy Storrer wäre es wohl doch nicht (rechtzeitig) zur ersten Ausgabe der ‹Wochenschrift› gekommen.


Quellen

Die anthroposophischen Zeitschriften von 1903 bis 1985 – Bibliographie und Lebensbilder, hg. von Götz Deimann unter Mitarbeit von Norbert Deuchert, Christoph Lindenberg, Jan Pohl und Mario Zadow. Stuttgart 1987, S. 85–92.

Autorenregister der Wochenschrift ‹Das Goetheanum›, Jahrgang 1–61, hg. von Friedrich Hiebel, ohne Ort und Jahr [Dornach 1983].

Rudolf Steiner, Der Goetheanumgedanke inmitten der Kulturkrisis der Gegenwart. Gesammelte Aufsätze 1921–1925 aus der Wochenschrift ‹Das Goetheanum›. GA 36. Dornach 1961.

Rudolf Steiner, Die Weihnachtstagung zur Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft 1923/24. GA 260. Dornach 1985, S. 107 ff., 114 f.

Rudolf Steiner, Die Konstitution der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Der Wiederaufbau des Goetheanum 1924/1925. GA 260 a. Dornach 1987, S. 50 f., 163 f., 173 f.

Albert Steffen, Begegnungen mit Rudolf Steiner. Dornach 1975, S. 192–207 (Kap.«Begründung der Wochenschrift ‹Das Goetheanum›» und Kap. «Über meine Tätigkeit als Redaktor des ‹Goetheanum› zu Lebzeiten Rudolf Steiners»).

Albert Steffen, Einiges über meine Tätigkeit als Redaktor des Goetheanum zu Lebzeiten Rudolf Steiners. In: ‹Wochenschrift Das Goetheanum›, Sondernummer zum 20-jährigen Bestehen der Wochenschrift, 33/1941, S. 260 ff.

Friedrich Hiebel, Zum fünfzigsten Jahrestag. In: ‹Wochenschrift Das Goetheanum›, 1/1971, S. 1–3.

Friedrich Hiebel, Rechenschaftsbericht des Vorstandes. In: ‹Nachrichtenblatt›, 1984, S. 102.

Friedrich Hiebel, Entscheidungszeit mit Rudolf Steiner – Erlebnis und Begegnung. Dornach 1986, S. 246 ff., 302, 334 f.

Heinz Matile, Korrigierendes und Ergänzendes zu ‹Rudolf Steiner und seine Zeitschriften›. In: ‹Wochenschrift Das Goetheanum›, 24.12.1995, S. 459 f. (mit Auszügen aus Briefen und Tagebuchnotizen Albert Steffens).

Ralf Lienhard, Der Kreis der ‹Individualität›. Willy Storrer im Briefwechsel mit Oskar Schlemmer, Hermann Hesse, Robert Walser und anderen. Bern 2003.

Ralf Lienhard, Publizist, Unternehmer, Abenteurer. Willy Storrer und das Goetheanum. In: ‹Wochenschrift Das Goetheanum›, 34/35/2001, S. 601 ff.

Paul Bühler, Erinnerungen. Mein Weg zur Anthroposophie. Dornach 1967. (Über Willy Storrer: S. 103 ff., 108 ff., 122 ff.)

Alles aus zitierten Briefen und Tagebüchern, wenn nicht anders angegeben: Albert Steffen-Stiftung, Dornach.


Ankündigung

Steffen Redakteur wider Willen

Albert Steffen als Redakteur der ‹Wochenschrift› im Kampf mit der Aufgabe, den Umständen, den Gegnern und mit sich selbst. Nach seinen Jahren in Berlin und München als viel beachteter junger Schriftsteller zog Steffen nach Dornach an die Seite von Rudolf Steiner. Der neuen Herausforderung für die Verantwortung einer wöchentlich erscheinenden Zeitschrift stellte er sich nur mit Widerwillen.

Mit diesem Sonderheft der Albert Steffen-Stiftung werden zum ersten Mal Steffens innere und äußere Kämpfe und Krisen als Redakteur deutlich sichtbar durch Erstveröffentlichungen aus seinem Tagebuch und seiner Korrespondenz.

Das Heft ‹Hinweise und Studien zum Lebenswerk von Albert Steffen› Nr. 33, herausgegeben von Ruedi Bind, erscheint im Januar 2022, ca. 100 Seiten mit Abb., Fr. 25.–.

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Footnotes

  1. Alexander Lüscher in der Einleitung zu GA 255a.
  2. ‹Aufruf› in GA 24, S. 428 ff.
  3. 3 Langer Brief Willy Storrers an Ita Wegman vom 20.11.1925, in Lienhard 2003, S. 107 ff.
  4. Nachruf im Nachrichtenblatt 13.5.1979, S. 59
  5. Albert Steffen, Begegnungen mit Rudolf Steiner. Dornach 1975, S. 192–207 (Kap. «Begründung der Wochenschrift ‹Das Goetheanum›» und Kap. «Über meine Tätigkeit als Redaktor des ‹Goetheanum› zu Lebzeiten Rudolf Steiners»).
  6. A. a. O., S. 201.
  7. GA 260, S. 107
  8. GA 260, S. 109
  9. GA 260, S. 114-115
  10. Friedrich Dürrenmatt, Kritik – Kritiken und Zeichnungen. Darin: ‹Märtyrer, Drama von Albert Steffen›. Zürich 1980, S. 13 f.
  11. Paul Bühler, Erinnerungen. Dornach 1967, S. 122 ff.
  12. Friedrich Hiebel im ‹Nachrichtenblatt› vom 27.4.1969, S. 65 f.
  13. Hans Wilhelm Keller, Mitredakteur der ‹Individualität›. In: ‹Wochenschrift Das Goetheanum› 18/1927, S. 143.
  14. Karl Balmer im langen Brief an Willy Storrer, 26.8.1928, in Lienhard 2003, S. 221.
  15. Willy Stokar, ‹Nach Willy Storrers Tod›. Seinen Nachruf hatte Stokar Steffen zur Veröffentlichung angeboten. Er ist nie erschienen. Archiv der Albert Steffen-Stiftung.
  16. Hans Erhard Lauer, zit. nach Lienhard 2003, S. 38 f.

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