Europa ist eine Provinz

Die Sahara eignet sich besonders, um unsere Vorstellungen von Grenzen und Übergängen, von Zukunft, Freiraum und Resilienz zu befragen. Verliert Europa seinen leitenden Rang und werden die Zukunftsimpulse aus anderen Weltteilen kommen? Das Culture­scapes-Festival 2023 mit Schwerpunkt auf der großen Wüste will diese Fragen befeuern.


Jurriaan Cooiman, Gründer des Festivals Culturescapes, wirkt recht müde bei unserem ersten Zoom-Call. Es ist kurz vor Beginn des Festivals und ich kann mir vorstellen, was er und sein Team in den letzten Monaten und schlussendlich Jahren geleistet haben. Tatsächlich liegen ein paar der Wurzeln für dieses Festival in Dornach. Der damals 19-jährige Cooiman kam 1986 als Bühnenhelfer aus Holland und der dortigen Jugendsektion an den Hügel. Nach seinem Eurythmiestudium bei Werner Barfod und einen Bühnenjahr bei Else Klink kam er erneut zurück nach Dornach. Er blieb bis 1997 an der Goetheanum-Bühne als Eurythmist und hatte seit 1995 begonnen, in Dornach Musikfestivals zu organisieren, auch in enger Zusammenarbeit mit Michael Kurtz (Biograf von Gubaidulina und Mitarbeiter an der Sektion für Redende und Musizierende Künste). Sofia Gubaidulina, Anton Webern, György Kurtág, Béla Bartók und Johann Sebastian Bach standen je im Fokus. Vielleicht erinnert sich der eine oder andere noch daran. Seine Idee und Frage war schon damals, wie man zeitgenössische Musik und andere Kunstformen miteinander ins Spiel, in die Inspiration bringen kann. Ihn interessierte der kreative Kosmos, der entsteht, wenn sich Kunst gegenseitig inspiriert. Vielleicht ein Anliegen, das ebenfalls mit den Lebenskräften zu tun hat. Und die sind sehr vielfältig in dieser großen Welt. Das Goetheanum wurde dem nun nicht mehr ganz so jungen Cooiman zu eng. Er wollte Verbindungen in die Welt schaffen, weshalb er sich als Kulturmanager selbstständig machte und zusammen mit Rembert Biemond ‹pass› (Performing Art Services) gründete. Ganz aus seinem eigenen Interesse organisierte er das erste Culturescapes-Festival 2003 mit dem Länderschwerpunkt Georgien. Dann Ukraine, dann Armenien. Der Beginn waren die Länder jenseits des Eisernen Vorhangs, ihre Kirchenarchitektur, ihre Dichtung, ihre Kultur. «Es kam öfter mal zu seltsamen Koinzidenzen». So geschah zum Culturescapes Georgien zeitgleich im Land am Kaukasus die Rosenrevolution. In der Ukraine fand die Orange Revolution statt, als in Basel Räume für die ukrainische Kultur geöffnet wurden. Als könne man Geschichte ‹in it’s making› erleben. In den letzten 20 Jahren ist ein Netzwerk mit mehr als 50 Partnerinnen und Partnern aus der Schweizer Kulturszene entstanden, die mit für die Verwirklichung von Culturescapes sorgen. Die Edith-Maryon-Stiftung finanziert mit. Zwei Kantone sind involviert. Die Deza (Schweizerische Direktion für Entwicklungszusammenarbeit) und Hoffmann-La Roche unterstützen mit großen Summen. Zur Eröffnung sprechen die Kulturamtsleiterin Katrin Grögel der Stadt Basel, Stiftungsrätin Sibel Arslan von Culturescapes und Yarri Kamara, künstlerische Beirätin des Culturescape-Festivals Sahara. Es wird deutlich: Das Festival leistet einen kulturellen Beitrag, der in Basel Gewicht hat.

Das innere Anliegen

Cooiman wollte und will Unmittelbarkeit schaffen, Narrative abbauen, die Bilder, die wir haben, infrage stellen und damit auch uns selbst. Über den Umweg des Infragestellens kreiert er also Bewegungen durch Begegnung. Darin ist er wohl ein Eurythmist geblieben, wenn man so will. Seit 2014 unterstützt ihn seine Co-Kuratorin Kateryna Botanova dabei. Kulturaustausch als Kerngeschäft versucht Wandlungen in unseren Denkgewohnheiten zu ermöglichen. Im Gewand der Kunst steht es uns jedoch frei, uns bewegen zu lassen. Anfangs drei bis vier Wochen und jedes Jahr, dauern die jüngsten ‹Werke› von Culturescapes nun zwei Monate und finden alle zwei Jahre statt. «Es tut zur Sache, was man mit einem Kulturfestival macht. Und es tut auch immer ein bisschen weh, die Abwege zu sehen, die die Autoritäten da mitunter gehen», sagt Cooiman. Er nutzt die freien Kulturräume und bringt darin neue, unbekannte, uns erst mal fremde Inhalte. Und er tut dies im sehr klaren Bewusstsein davon, dass Europa ‹ausgedient› hat. «Europa ist eine Provinz geworden, die sich endlich mal bescheiden sollte. Von Europa kommt der Fortschrittsglaube, aber Entwicklung gibt es überall.» Es klingt auch ein bisschen Bitterkeit mit, wenn er das sagt. Oder ist es auch hier die Erschöpfung daran, dass die Fortschrittsideotie seit Jahrzehnten wütet und wir nicht die Verantwortung dafür übernehmen? «Das Systemdenken Europas ist nicht kompatibel mit Planet Erde. Der geistige Horizont von 2023 ist ganz anders als vor hundert Jahren. Nehmen wir das wahr?» Culturescapes möchte die Vielfalt der Quellen dieser Welt aufzeigen. Diversität feiern zu können, sieht Cooiman als ein Friedensangebot. Sich selbst in andere Lebenslagen zu versetzen, ist essenziell für Solidarität. Damit spricht die Seite in ihm, die sich auch in einer politischen Verantwortung sieht.

Bibata Ibrahim Maïga, Esprit Bavard Performance 2021

Kulturaustausch ist geopolitisch

In der Biografie von Culturescapes gab es Wachstumsschritte. Einer davon war 2015 die Entscheidung, sich als Biennale zu verstehen. Außerdem wollte das Kuratorenteam den Selbstbezug zu Europa auflösen. Dann kam die Hinwendung zu Ökosystemen, Biosphären und Regionen. Das war die Wende hin zum Geopolitischen und weg vom Nationalstaatlichen. Die ‹kritischen Zonen› interessierten die Macherinnen und Macher des Festivals. An ihnen scheinen die komplexen Zusammenhänge unserer menschlichen Existenz deutlicher auf. Der Amazonas war Schwerpunkt des Festivals 2021 und damit auch die Frage nach Wasser, Kreisläufen, Natur, Klima. In einem der Gespräche über Wald und Entwicklung bot die Deza ihre Hilfe an, woraufhin ein eingeladener Schamane der Yanomami nur darum bat, ‹endlich mal in Ruhe gelassen zu werden», erinnert sich Jurriaan Cooiman immer wieder lächelnd. Es ist ein Schlüsselmoment für ihn, an dem sich zeigt, was wir selbst von uns halten. Daran kann man aufwachen. Im Anschluss wollte der Schamane gern die schweizerischen Berge besteigen und man organisierte mit ihm eine Tour mit der Bahn zur Jungfrau hinauf, erzählt Cooiman weiter. Der Schamane brauchte eine Pause. «Ihr habt Schlangen gebaut durch die Erde und ich musste meine Götter um Erlaubnis bitten, ob ich mit meiner Geistigkeit da durch darf.» Indigene Menschen geben uns mit ihren Blick auf die Welt eine Selbstwahrnehmungsmöglichkeit, wie wir letztlich die Erde kaputtmachen. Sie werfen es uns nicht vor. «Sie wollen uns helfen, aus unserem Notstand rauszukommen, wenn sie wahrnehmen, wie wir mit dem Planeten umgehen», so sieht Cooiman es. Nutzen wir das Menschen- und Weltbild von Indigenen dann nicht aus für uns, um unser schlechtes Einfühlungsvermögen zu heilen? Für die Culturescapes-Machenden ist die Frage, mit welchen Privilegien und mit welcher Attitüde wir uns das einfach nehmen oder eben respektieren. Da versteht sich das Festival als ein Keil ins Mögliche hinein. «Es geht nicht ums Haben, sondern ums Sein. Wir brauchen ein neues, anderes Miteinander. Wir schauen unsere Gesellschaft nicht in ihrer Diversität an und reduzieren auf ein binäres System, das von patriarchalen Machthabenden gemacht ist. Doch es ist eine andere Zukunft möglich. Wir haben aber nicht mehr viel Zeit.» Culturescapes will an der Stelle anregen und beitragen, aus sich selbst rauszugehen in die Welt und auch die Vielfalt in der Schweiz sichtbar machen.

Die Wüste ist ein belebtes Land

Die nun mittlerweile 17. Ausgabe von Culturescapes Basel hat sich die Sahara als Region und Themenschwerpunkt gewählt. Aber nicht kontextlos. Jährlich wehen Millionen Tonnen Saharastaub über den Atlantik zum Amazonas und schaffen dort fruchtbare Erde. Die große Wüste lebt in den Kreisläufen dieses Planeten, die die durch Kolonialmächte gezogenen Grenzen nicht berücksichtigen. Gleichzeitig führt die ‹Todesroute› mitten durch sie hindurch, auf der nach Europa Flüchtende oft umkommen. Die Sahara ist auf verschiedenen Deutungsschichten eine Grenze. Sie teilt den Kontinent in unserem Bewusstsein in einen Norden und einen Süden. Dafür gibt es keinen Grund, sagt der kamerunische Politologe und Historiker Achille Mbembe. Und doch muss man sie überwinden, will man nach Europa gelangen. Sahara ist heiß, kalt, rau, karg, weit, groß und den Sternen in der Nacht sehr nah. «Für die Völker im Großraum Sahara-Sahel sind Widerstand, Kampf und Überleben eine Lebensweise. Gewalt und Leid gehören für viele zur täglichen Realität. Aber das Vokabular des globalen Nordens hat ein passendes Wort dafür – Resilienz», so Kateryna Botanova. Als Resilienz zu bezeichnen, was aus schwierigen Lebensumständen entsteht, verharmlost auch den Preis, der dafür gezahlt wird. Können wir Resilienz als einen ambiguen Begriff aushalten? Und wie sähe ein nicht resilientes, aber lebenswertes Leben in der Sahara aus?

Collage, Fabian Roschka

Die Sahara ist ein Gebilde, von dem wir in Europa nicht viel verstehen. Die Tuareg, eines der nomadisierenden Völker der großen Wüste, wissen um die Notwendigkeit des In-Bewegung-Bleibens. Wenn sie aufhören zu wandern, erscheint ‹Essuf›, die große Leere. Was sind also die Bilder und Visionen der Sahara? Was sind es für Dinge, die sie und ihre Menschen uns erzählen, wenn wir sie vernehmen können? Ist es anhand der Sahara leichter, über Grenzen, Menschenbilder, Migration und Postkolonialismus zu sprechen? Die Dreiecksbeziehung zwischen Europa, Afrika und Südamerika hat eine leidvolle, schicksalhafte Geschichte. Die daraus gewordenen Narrative müssen wir heute infrage stellen. «Wir brauchen eine Wachheit auf der Metaebene, wie die generelle Debatte gerade abläuft», meint Cooiman. Der zeitgenössische Diskurs hat ein politisches Gewicht und spielt in die kulturelle Sphäre hinein. Deshalb macht Cooiman keinen Unterschied zwischen Aktivismus und künstlerischer Aktivität. Er bringt den Begriff Artivismus ins Spiel, der seine Wurzeln in der mexikanischen politischen Kunstszene Ende der 1990er-Jahre hat. Wer sich hier bilden möchte, sei auf den Programmpunkt ‹Basel Colonial City Tour› verwiesen.

Tchinatadi Ndjidda, Foto: © Jacob Londry Bonkian

So wie der Amazonas die grüne Lunge der Erde ist, sei Afrika die spirituelle Lunge der Welt, meint der senegalesische Wirtschaft- und Geisteswissenschaftler Felwine Sarr.1 Er wurde von Emmanuel Macron beauftragt, zusammen mit Bénédicte Savoy die Rückgabe französischer Raubkunst aus Afrika vorzubereiten. Schon im Juni war er in Basel am Kunstmuseum, in Kooperation mit Culturescapes, um aus seinem Roman zu lesen. Sein Theaterstück ‹Traces› wird am 2. November im Neuen Theater in Dornach zu sehen sein.. Am 4. November gibt es dort auch den panafrikanischen Tanzwettbewerb ‹Africa simply the Best› zu sehen, auf dem Solotänzerinnen und -tänzer ihre Arbeiten präsentieren.

Konkrete Kunst

Zur Eröffnung am 1. Oktober zeigt der burkinisch-belgische Choreograf und Tänzer Serge Aimé Coulibaly sein Tanzstück ‹C la vie›. Ein wildes, den Trommelrhythmen verschriebenes, bis fast in die Ekstase führendes körperliches Bewegungstreiben auf der recht kleinen Bühne des Schauspielhauses Basel. Afrika kommt nahe ran. Der Atem und Schweiß der acht Tanzenden ist hör- und sichtbar, vielleicht auch fühlbar in den ersten Reihen. Ich denke an Besessenheitskulte in Westafrika. Hier erzählt eine ganz andere Kraft vom Leben als auf der gerade beendeten Weltkonferenz am Goetheanum, bei der das Eurythmieensemble den Grundsteinspruch aufgeführt hat. Diese Aussage hat rein gar nichts mit Bewertung zu tun. Ich sehe, wie die Bewegungen bei manchen Tanzenden nicht ganz sauber bis zu Ende geführt werden, wie ich das zum Beispiel aus der Eurythmie gewohnt bin. Und ich sehe, dass ich es so sehe, ein bisschen erschrocken, aber auch froh um diese Selbsterfahrung. Ich stelle fest, dass sich diese tänzerische Kreation aus anderen Quellen generiert. Sie ist nicht so sehr in die perfekte Form gewunden worden. Und ich frage mich, warum ich das erwarte von Kunst. Wir suchen zuerst das Vertraute. Das Nicht-Vertraute kann sich zeigen, wenn das Vertraute nicht das Allgemeingültige ist. Dann beginne ich tatsächlich anders zu schauen. Ich würde gern wissen, wie der Choreograf Coulibaly mit den Tanzenden gearbeitet hat. Schließt Afrikas Leben und somit auch Kunstschaffen vielleicht viel stärker an die Kräfte der Erde, des Momentums, des ständigen Flusses, des Gebärens und die Feuerkraft an? Oder ist das ein Blickwinkel, der auch meiner Eurozentriertheit entstammt?

Asanda Ruda, Foto: © Jacob Londry Bonkian

Es ist ein reichhaltiges, hochkarätiges und weltgewandtes Programm, was man auf der Homepage von Culturescapes findet. In den Formaten Film, Tanz, Performance, Musik, Literatur, Vortrag, Diskussionsrunde, Führungen und sogar Mastersymposien dient die Sahara-Region in diesem Jahr dazu, in Bewegung zu kommen. Fast 80 Künstlerinnen und Künstler sind beteiligt. Nichts Folkloristisches will einen da zuckersüß umweben und in die Puppenstube anderer Kulturen, die doch nur im eigenen Kopf stattfindet, locken. Jeder Kulturaustausch im Sinne eines Sehens ist eine zutiefst ernste Angelegenheit. Denn hier begegnen sich Menschen, am besten im Bewusstsein ihrer Verschiedenheit. Aus Begegnungen kann sich Zukunft ergeben, weil Veränderung möglich ist. «Es gibt nicht nur eine Zukunft», sagt Cooiman. «Es gibt viele Optionen und auch verschiedene Zukünfte, je nachdem, wo ich geboren bin. Das kann auch heißen, dass andere Regionen die führende Rolle übernehmen werden zur Weiterentwicklung der Menschheit, während Europa vergreist.» Die Frage nach der Zukunft bezieht sich auch auf neue erkenntnistheoretische Modelle. Den Blick erweitern, nicht nur vom Rationellen aus zu schauen, wird uns helfen, der eigenen Blase zu entwachsen.

In 2025 wird die Sahara noch einmal Themenschwerpunkt des Culturescapes sein, wissen Cooiman und Botanova jetzt schon. Das Kuratorenteam will vertiefen. Es geht also nicht darum, ein Produkt zu liefern, was sich gut verkaufen lässt für eine Saison. Es geht darum, den ‹schwarzen Kontinent› mit seinen Geheimnissen und Schöpfungskräften, seinen Bildern und Weltfragen noch etwas näher an uns heranzubringen


Culturescapes 2023 Sahara, 1. Okt. – 30. Nov. 2023 in Basel

Mit ca. 80 bildenden Künstlerinnen, Performern, Tänzerinnen, Theatergruppen, Musizierenden, Filmemacherinnen, Schriftsteller und Denkerinnen.

Mehr Culturescapes

Neues Theater Dornach «Traces – Discours aux Nations Africaines» und Laureates of Africa Simply the Best

Alle Bilder stammen von Performances der Künstlerinnen und Künstler, die auf dem diesjährigen Culturscapes-Festival in Basel auftreten. Links: Bibata Ibrahim Maïga, Esprit Bavard Performance 2021. Unten: Tchinatadi Ndjidda, Foto: © Jacob Londry Bonkian

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Footnotes

  1. Felwine Sarr, Afrotopia. Matthes & Seitz, Berlin 2019.

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