Mit der neunten Auflage des ‹Heilpädagogischen Kurses› liegt eigentlich ein ganz neues Buch vor, der zurzeit bestmögliche Text.
In akribischer Kleinarbeit haben die Herausgebenden Anne Weise, Rüdiger Grimm und Andreas Bindler alle bisherigen Ausgaben und die zuverlässigen Stenogramme von Lili Kolisko und Karl Schubert Wort für Wort verglichen. So entstand ein an vielen Stellen berichtigter Text als Arbeitsgrundlage für heutige und zukünftige Heilpädagoginnen und Heilpädagogen. Dadurch wurden Rudolf Steiners Worte besser lesbar und verständlich, auch durch die vielen sinngemäßen Ergänzungen in eckigen Klammern. Die großteils neu formulierten Inhaltsangaben der Vorträge erleichtern die Übersicht. Nun enthält der Band wieder die Tafelzeichnungen und vor allem: viel genauere Hinweise auf sie im Text. Von Steiner vorgelesene Zitate oder Notizen aus den Ambulanzkarten erscheinen im Kleindruck, ebenso die Fragen und Antworten der Kursteilnehmenden. Ausführlich stellen die Herausgebenden die Textgrundlagen und die Auflagengeschichte dar. Man sieht, wie gründlich sie vorgingen.
Durch die Textkorrekturen konnten auch inhaltlich wichtige Akzente gesetzt werden, wie in dem zentralen Satz: «Gefühle, die nicht vollständig vom Vorstellungsleben erfasst werden, sind depressiv.» (Bisher fehlte das ‹vollständig›.) Trotzdem bleiben Unklarheiten im Text, zum Teil durch Lücken in den Stenogrammen oder durch Hörfehler, zum Beispiel was Steiner mit den «verwandten» Krankheiten im Unterschied zu den «todbringenden» im zwölften Vortrag meinte.
Ein großer Gewinn ist der Anhang, der den Band auf den doppelten Umfang erweitert. Die Hinweise zum Text sind um etliches ausführlicher, zum Beispiel die Biografie von Emil Du Bois-Reymond. Nun erscheinen Auszüge aus dessen berühmter Rede ‹Über die Grenzen des Naturerkennens›. Die Biografien der Fälle auf über 50 Seiten lassen die Lebensgeschichten der Kinder lebendig werden. Wilhelm Uhlenhoff hatte ihre Biografien und den weiteren Lebensweg beschrieben, komprimiert findet man dies nun in diesem Band. Abgedruckt ist auch die von Steiner im Kurs erwähnte schwungvolle Rede Ernst Haeckels an seinem 60. Geburtstag, in der er voll Dankbarkeit auf seine Universitätslehrer zurückblickt. Auch das etwas kauzige Kommerzlied, das Rudolf Steiner als Ausdruck des «jugendfrischen Lebens» zur Meditation empfahl(!). Zahlreiche Fotos, Erinnerungen an den Besuch Rudolf Steiners auf dem Lauenstein, an den Kurs und viele Briefdokumente beleuchten das Umfeld der frühen Heilpädagogik. Sie stammen durchweg aus vergriffenen Büchern, Zeitschriften oder schwer zugänglichen Archiven. So berichtet Ernst Lehrs von einer nächtlichen Autofahrt mit Rudolf Steiner von Dornach nach Stuttgart. Steiner empfahl Lehrs, er solle sich um besondere Kinder auch an der ‹normalen› Stuttgarter Schule kümmern.
Notwendig und klärend sind die ausführlichen Darstellungen zu Steiners Sprachgebrauch. Manche Formulierungen und Termini waren damals in der Medizin üblich, auch wenn sie heute obsolet sind. Die Herausgebenden haben dennoch Steiners originale Worte wiedergegeben. Er nahm ja eine absolute Gegenposition zur zeitgenössischen Auffassung vom ‹lebensunwerten Leben› ein und sprach vom notwendigen Mut zur Heilung und vom schicksalhaften karmischen Auftrag der Heilpädagogik. Steiners Ziel war Heilung statt Verwahrung, sogar jeder Grad von Besserung sei ein Gewinn. Das Heim sollte entsprechend ‹Heil- und Erziehungsinstitut für seelenpflegebedürftige Kinder› heißen: «Wir müssen schon einen Namen wählen, der die Kinder nicht gleich abstempelt.» Auch werde der Begriff von Normalität dem einzelnen Menschen nicht gerecht.
Der ‹Heilpädagogische Kurs› ist ein Grundlagenwerk für Heilpädagogik, Sozialtherapie und Medizin. Er enthält bisher nicht so explizit formulierte Grundlagen, so das ‹Pädagogische Gesetz› für die geistige Wirkung einer Therapie, die polare Konstitution des oberen und unteren Menschen oder das Prinzip der Erkenntnis durch liebevolle Hingabe. Die vorgestellten Kinder entsprechen aktuellen medizinischen Bildern: Ernst Dörfel als typisches Kind mit einem Fetalen Alkohol-Syndrom, Lore Linnhoff als Kind mit ADHS oder Kurt Hartung mit einem Autismus-Spektrum. Die Beziehung von Gehirn und Darm ist ein aktuelles medizinisches Forschungsgebiet. Die Ansätze zu einer neuen Psychiatrie werden im September 1924 mit dem ‹Pastoralmedizinischen Kurs› weitergeführt.
Wie wichtig Steiner dieser Kurs war, zeigt die Liste der Teilnehmenden, darunter der ganze Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft, aber auch viele Ärztinnen und Ärzte.
Buch Rudolf Steiner Heilpädagogischer Kurs. GA 317 Neunte, vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage, Rudolf-Steiner-Verlag, Dornach 2024.