Die Welt der Sinne

In der Karl-König-Werkausgabe erschien kürzlich der erste von zwei Bänden zu den Sinnesarbeiten dieses Gründers der Camphill-Bewegung. Die Sinneslehre Rudolf Steiners war ein Thema, das ihn während seines ganzen Lebens begleitete, und zwar nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch bis in die Diagnostik pflegebedürftiger Kinder und die Gestaltung der Jahresfeste der therapeutischen Gemeinschaften.


In diesem achten Band der gesamten Werkausgabe sind ein zusammenfassender, in Stuttgart gehaltener Vortrag vom 10. Oktober 1961, ein Kurs von acht Vorträgen aus dem Jahre 1960 in Spring Valley, New York, und ein Kurs von fünf Vorträgen in Wien von 1963 aufgenommen worden. Sie stammen aus dem reifen Lebensalter Karl Königs. Der Vortrag und die beiden Kurse eignen sich ausgezeichnet als Einführungen in die Sinneslehre Rudolf Steiners. Doch man hört auch deutlich die eigene Stimme Königs in der Forschung und Darstellung durchklingen. Er prägt die Gedanken neu, verbindet sie mit dem medizinischen Wissensbestand und steigert die Betrachtung mehrmals darüber hinaus zur Imagination.

Das Material wird eingeleitet vom 2019 verstorbenen Peter Matthiessen, Neurologe und Mitbegründer der Universität Witten/Herdecke, wo er Professor für Medizintheorie und Komplementärmedizin war. Matthiessen führt zuerst kurz in das Thema der Sinneslehre und den Stand der modernen Wissenschaft ein und fasst die Texte Königs nach ihren Grundgedanken zusammen. Wo angebracht, weist er auch die älteren physiologischen Vorstellungen Königs in die Schranken. Die Neurologie ist ja fortgeschritten.

Als Beispiel für Königs Gestaltungskraft möchte ich hier nur die Darstellung über den Kreis der zwölf Sinne hinaus zu ihrer inneren Metamorphose nennen. Die Dreigliederung der unteren, mittleren und höheren Sinne behandelt König mit großer Gefasstheit. Er macht klar: In den unteren Sinnen erleben wir auf subjektive Weise die objektiven Zustände unseres Leibes, und zwar im Tasten, Leibesbefinden, Bewegen und Gleichgewicht den physischen Leib (Körpergrenzen), den Ätherleib (Lebensprozesse), den Astralleib (Begehren und Wehren) und zuletzt unser Menschsein in der aufrechten Haltung. Im Gleichgewicht erfahren wir «nur eine durchdringende Sicherheit, dass wir ein Geist sind, frei von Raum und Zeit». Der Gleichgewichtssinn erscheint bei König als umfassend für die ganze Konstitution, sie durchdringend und regulierend.

Im Hörraum ergibt sich uns die Innenperspektive der Dinge, Tiere und Menschen. Wort-, Gedanken- und Ichsinn erschließen uns diese Innenwelt tiefer.

Die mittleren Sinne erschließen uns die Welt um uns herum, was König auf die vier Elemente im Geruch (Luft), im Geschmack (Wasser), im Sehen (Erde) und im Wärmesinn (Wärme) bezieht. Das Auge ist ihm der Sammler, in dem die vier unteren Sinne mitwirken und in die Umwelt projiziert werden: Wir ‹tasten› mit dem Sehen an dem Gegenstand im Raum, erleben mit dem Lebenssinn die Farben, bewegen das schweifende Auge mit sieben Muskeln, erleben so die Formen (Bewegungssinn) und fokussieren und bestimmen Distanz mit der Linse in Kontraktion und Erweiterung (Gleichgewichtssinn). Wir gehen mit diesen Sinnen aus uns selbst in unserer Leiblichkeit hinaus in die Welt. Der Geschmack und der Wärmesinn bilden die Übergänge nach innen und nach außen. Die Wärmeempfindung sagt zugleich etwas über unsere Temperatur wie die des Gegenstandes aus. Wir empfinden ja den Temperaturunterschied und gehen damit auch in das Innere der Dinge hinein. Wir sind vom inneren Tastraum in den äußeren Sehraum gekommen. Mit dem Wärmesinn sind wir an der Schwelle des Hörraums. Im Ton ergibt sich uns die Innenperspektive der Dinge, Tiere und Menschen. Der Wortsinn, der Gedankensinn und der Ichsinn erschließen uns immer tiefer diese Innenwelt. Die Sinne stülpen sich ein zweites Mal um. Der Sehraum ist noch vom Leib aus zu denken, wie uns in der Perspektive unmittelbar klar ist. Jeder hat deswegen seinen eigenen Sehraum, seine eigenen Empfindungen, über die wir uns zu verständigen haben. Dem ist nicht mehr so im Hörraum. Da ist ein objektiver Wahrnehmungsraum. Da erklingt eine Stimme oder ein Orchester für alle, obgleich von subjektiven Eindrücken erlebt. König weiß plastisch-imaginativ diese Umstülpungen der Sinne, die nicht mechanisch zu denken ist, zu schildern – mehr als hier in Kürze gezeigt werden kann – und die Sinneslehre dadurch zu beleben.

Den Texten geht eine 18-seitige editorische Vorbemerkung durch Richard Steel (Karl-König-Archiv) voran. Manch einzelne Skizzen und Bemerkungen darin lassen uns sehnen nach der für Herbst 2021 vorgesehenen Herausgabe des zweiten Bandes über Sinnesentwicklung und Leibeserfahrung mit Betrachtungen zu den Einzelsinnen, aber vielleicht auch einmal von einem dritten Band, da Königs frühe Arbeiten zur Sinneslehre auch schon ‹ein Buch füllen werden›. Gewiss ein schönes!


Buch Karl König, Die zwölf Sinne des Menschen, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2021.

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