Gegenwartssignaturen und Zukunftsaussichten

Zwischen 12. Oktober und 21. Dezember 2020 fanden im Goetheanum zehn Vortragsabende statt unter dem zusammenfassenden Thema ‹Zur Signatur der Gegenwart›. Es war die Zeit der aufkommenden zweiten Corona-Welle. Aus dem Ganzen ist nun ein zweites Corona-Buch geworden.


Vortragende waren die 15 Sektionsleiter und -leiterinnen der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Das Goetheanum wollte innerhalb der pandemischen Zeit mit ihren vielen Opfern, ihren scharfen Gegensätzen und ihren heftigen Auseinandersetzungen nicht stumm bleiben und Beiträge liefern zum individuellen Verständnis, zur Urteilsbildung und zu Handlungsperspektiven. Die Vorträge sind eine Fortsetzung des ersten Buches ‹Perspektiven und Initiativen zur Coronazeit› (2020), doch können sie eigenständig gelesen werden.

Ich empfinde das Buch als einen heilenden Zusammenklang. Ich habe Dinge gelesen, die ich nirgends anders gelesen habe, die mich intellektuell bereichern, inspirieren und ermutigen. Man steht mit dem Bewusstsein vollständig in der Gegenwart. Die regulär-wissenschaftliche Praxis wird ernst genommen und bildet – wenn möglich – mit ihren äußeren Ergebnissen eine Grundlage, um sich mit den brennenden Fragen der Corona-Zeit auseinanderzusetzen. Wir lesen über den Ursprung des Covid-19-Virus, über die maximal gestressten, gefolterten Wildtiere in engen Käfigen als vermutliche Quelle der Pandemie, über den Verlauf der Krankheit, über die Impfungen und Kräfte der Selbsthilfe, über die Inaktivierung der Coronaviren durch das Sonnenlicht. Ja, die Sonne spielt eine wesentliche Rolle in diesem Buch. Aber «die Sonne ist verdeckt.» Das ist ein Bild für die globale Krise, in der wir uns befinden. «Die Welt hält den Atem an; es gibt keinen Beatmungsapparat für die Erde.» Der Weckruf ist sonnenklar.

Miterleben

«Was können wir am aktuellen Miterleben der Covid-19-Pandemie lernen?», so lautet der erste Satz des Buches. Und man liest, wie in allen Fachgebieten gewirkt wird an einer Erweiterung der wissenschaftlichen Methodik in der Richtung eines Paradigmenwechsels zur lebens- und zukunftsfähigen Praxis, die mineral-, pflanzen-, tier- und menschenwürdig ist. Das Buch fragt nach einem miterlebenden Erkennen, wobei der Blick von außen, der der Beobachtung dient, ergänzt wird durch den Blick von innen, der mich selbst in Beziehung setzt mit und zu den in ihrem Kontext beobachteten Wesen. Es bringt uns zum künstlerischen Schöpfungsprozess. Aus den künstlerischen Sektionen lässt sich eine liebevolle Besinnung vernehmen, über den nicht berechenbaren Beitrag, den Kunst und Kultur an der Menschwerdung liefert. «Sie bedingen die Menschlichkeit des Menschen, sind die Sonne, deren Strahlen das Leben erhält, erwärmt und gesund macht.»

Es geht um ein miterlebendes Erkennen, wobei der Blick von außen ergänzt wird durch den Blick von innen.

Kulturtransformation

Eigentlich sind alle Vorträge Schritte zu der von Rudolf Steiner gewollten Kulturtransformation. Von Fremdbestimmung zu Selbstverwaltung, vom allgemeinen ‹Es› zum individuellen ‹Du›, von isolierten Wissenschaften zu Fachbereichen, die einander ergänzen und bereichern. Das Buch wird durch die Pforte der Medizinischen Sektion mit einer umfassenden Diagnose der Corona-Krankheit und deren Folgen betreten, und verlassen wird es durch die andere Pforte der Medizin, mit dem zum Herzen sprechenden Geschenk der heilenden Wirkung der inneren Arbeit und Meditation. Und zwischen diesen Pforten sind wir – neben den übrigen Beiträgen – in einem mitreißenden Vortrag unter dem Titel ‹Ein Brückenschlag zum Rechtsextremismus? Über Anthroposophie in der Zeit des Nationalsozialismus›. Denn die Angriffe auf Rudolf Steiner und die Anthroposophie gehören auch zur geistigen Signatur der Gegenwart. Damit wird ein Fundament gelegt für die Legitimität der Anthroposophie und das Fenster geöffnet zum Geist-Erschauen: Bringe unsere positiven Beiträge an die Öffentlichkeit, zeige den «Grundcharakter des Ganzen» (Steiner) und unsere konkreten Arbeiten in den gefährdeten Gebieten der Zivilisation auf und bleibe dabei selbstkritisch. Auch in den anderen Vorträgen begegne ich auf einer tieferen Schicht der Anwesenheit und Wirksamkeit der Grundsteinmeditation, jedoch jedes Mal etwas anders. So sind zum Beispiel in dem Beitrag aus der Sektion für Sozialwissenschaften die Hirten und Könige da: ‹Wir armen Königskinder› lautet der Titel jenes Vortrags, der beide Strömungen aus dem Grundsteinspruch neu verbindet.

Das Buch ist ein Okular zur geistigen Signatur der Gegenwart. Die Vorträge sind ein Weckruf, um die Flügel mutig auszubreiten zur Verantwortung im persönlichen, sozialen, gesellschaftlichen und ökologischen Leben.


Buch Ueli Hurter, Justus Wittich (Hg.), Coronazeit. Zur geistigen Signatur der Gegenwart. Verlag am Goetheanum, Dornach 2021.

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