Die Gretchenfrage

«Nun sag’, wie hast du’s mit der Religion?» ist die vielzitierte Frage von Margarethe an Faust und fordert ein Bekenntnis. Deshalb ist sie heute so ambivalent, denn tatsächlich, wer vermag heute ein Bekenntnis zu geben? So antwortet Faust: «Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott. Ich habe keinen Namen.»


So wie die Frage ‹Sind Sie Anthroposoph?› Grenzen ritzt, wo weiche Übergänge sind, wie das Ja und Nein, Schwarz oder Weiß immer weniger beantwortet, so gibt es wohl auf die Gretchenfrage heute nur die faustische Antwort, eine Antwort voller Widersprüche. Doch wie vermeidet man, wie in Gretchens Reaktion dann zu sehen ist, dass die Ambivalenz, die Vielschichtigkeit, nicht als Ausflucht verstanden wird? Wie zeigt man, dass Wahrhaftigkeit an die Stelle der Wahrheit tritt? Indem man persönlich wird! Joseph Beuys titelte eine Installation mit ‹Zeige deine Wunde›! Faust zeigt Gretchen nicht seine Zweifel, er bleibt allgemein. Gretchenfrage und Faustantwort sind beide dem Irrtum, dem Missverständnis nahe. Kein Wunder, dass in der Goetheanum-Inszenierung des ‹Faust› im Hintergrund Mephisto wacht.


Foto: Wolfgang Held

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