Die Anthroposophische Gesellschaft als Entwicklungsaufgabe

Wenn man sich mit der Vorgeschichte und Entstehung der Anthroposophischen Gesellschaft befasst, sind die beiden Bände GA 250 (2020) und GA 251 (2023) sehr hilfreich.


Vielen Menschen wird es mit dem Thema Wahrheit immer noch so gehen wie Pontius Pilatus, der dazu die Frage stellen musste: Was ist Wahrheit? (Joh 18:38) Was sie ist, lässt sich nicht einfach und abstrakt erfassen. Sie offenbart sich am ehesten durch Erfahrung oder Erkenntnis. Damit sind zunächst zwei Wege beschrieben, die auch der Vermittlung oder Suche nach Wahrheit dienen können: die Lebenspraxis und die Erkenntnispraxis. Die von Rudolf Steiner begründete und entwickelte Anthroposophie versteht sich als Erkenntnisweg. Damit betont sie die Seite der Erkenntnispraxis, ohne zu verneinen, dass es den anderen Weg gibt. Damit Erkenntnisarbeit zur Wahrheit führen kann, braucht sie besondere Bedingungen.

Die Suche nach Wahrheit findet sich in der deutschsprachigen Kultur an verschiedenen Orten, namentlich in der Dichtung und der Philosophie. In ‹Dichtung und Wahrheit› von Goethe und ‹Wahrheit und Wissenschaft› von Rudolf Steiner kommt das beispielsweise zum Ausdruck. Daneben gibt es eine dritte Art, wie sich Wahrheitsliebe zeigt und wie sie praktiziert wird: die Mystik, besonders deutlich wahrnehmbar im Leben von Jakob Böhme. Denn es gelingt ihm nicht nur, zu mystischen Erfahrungen vorzustoßen, die er als Erlebnis von Wahrheit betrachtet, es gelingt ihm auch, diese gewissermaßen philosophisch zu beschreiben. Damit verwirklicht er etwas, was seit dem 16. Jahrhundert unter dem Begriff Theosophie zu fassen versucht wurde.

Keine Religion über der Wahrheit

Im 19. Jahrhundert bekam dieser Begriff eine relativ breite und einflussreiche Wirkung durch die Begründung der Theosophischen Gesellschaft in den USA unter Mitwirkung von Helena Blavatsky. Damit wurde ein Anspruch formuliert, diese Art von Praxis nicht nur als private Mystik oder persönlich dichterische (künstlerische) oder wissenschaftliche Recherche zu betreiben, sondern als einen regulären Kulturfaktor auszubilden. Dieses Anliegen, die Frage nach Wahrheit neu und erweitert zu stellen, löste ein breites Echo in vielen kreativen und forschenden Menschen aus, die jene gesellschaftliche Bewegung mit ihren eigenen Anliegen in Einklang oder Zusammenhang empfinden konnten. Wobei der für die damalige Zeit stark erweiterte kulturelle Horizont für viele auch eine zwiespältige Herausforderung blieb. Denn die Offenheit, mit der Blavatsky auf schamanische, tibetische und hinduistische Kulturtraditionen einging, war aus den kulturellen Gewohnheiten nicht immer leicht nach- oder mitzuvollziehen. Jedoch zeigte sie für viele inspirierend, dass es etwas wie einen tieferen Kern in oder hinter gerade religiösen Systemen und Kulturtraditionen zu geben schien. Und diese Ansicht, Erfahrung und zugleich Forschungsthese führte zur Formulierung des Mottos dieser theosophischen Gesellschaftsimpulsierung: Keine Religion steht über der Wahrheit. Damit aktualisierten Blavatsky und ihre Mitstreitenden eine Option, die in monarchischen, totalitären oder absolutistischen Systemen nicht gern gesehen wird. Sie erlaubten sich, bestehende Verhältnisse zu hinterfragen und nach einer umfassenderen Wirklichkeit, aber auch menschengemäßeren Gesellschaftsgestaltung zu suchen.

Diese in den USA formulierten Anliegen fanden auch in Europa und gerade auch im deutschsprachigen Raum offene Ohren und Herzen, wobei es auch Widerstand gegenüber den konkreten Formen gab. So bildeten sich diese Anliegen bei engagierten Menschen in jeweils besonderen Formen aus, die teils als Spezialisierung, teils als Konkurrenz auftraten. Diese neue Bewegung löste auch bei den etablierten religiösen Gemeinschaften und kulturellen Systemen Befremden und Angst aus, was zu Diffamierungen und Bekämpfungen verschiedener Art führte. Drohte hier eine neue Reformation oder gar eine neue Panth­eisierung? Insbesondere mussten religiöse Bewegungen in der Tradition der Staatskirchen Anstoß an solchem Anspruch auf kreative Freiheit finden. (Ein Reflex, der sich auch heute noch motivierend in den kritischen Werken von Helmut Zander finden lässt.) Aber auch innerhalb der an diesen Anliegen interessierten Menschen bildete sich eine gewisse Ablehnung. Diese war aber nicht durch Angst motiviert, sondern durch eine besondere Liebe und Verbundenheit zur christlichen Tradition, die nicht nur in der Mystik zum Ausdruck kam, sondern in der künstlerischen und denkerischen Beschäftigung. Hierbei ging es mehr um Aneignung als um Formalisierung. Wie kann ich das Besondere, das in der Wahrheit liegt, die mir durch die Beschäftigung mit der christlich-jüdischen Text- und Kulturpraxis wichtig geworden ist, in mein Leben integrieren? Dieses Anliegen formulierte sich in einem Kreis von Menschen, die sich aus der Beschäftigung mit der Theosophie nicht nur von Blavatsky, sondern auch von Jakob Böhme und anderen Impulsgebenden genährt hatten, auf eigene Art. Und eine besondere Klarheit und ein besonderes Engagement für diese Ausrichtung zeigte sich in Rudolf Steiner. Dadurch wurde er zu einem Repräsentanten, Berater und Entwickler dieser Richtung. Im Kontext der Ausgestaltung der internationalen Theosophischen Gesellschaft durch Annie Besant zeigte sich in manchen Punkten eine starke Divergenz zwischen den Gruppen in Mitteleuropa und den inzwischen mehr auf Indien, die USA und Großbritannien fokussierten Bestrebungen von Besant. Diese Dynamik führte auch auf der persönlichen Ebene zu mehr und mehr Konflikten, die mehr von inhaltlichen und gestalterischen Differenzen zeugten als von persönlicher Abneigung. Und hier liegt ja die Quelle eines besonders tiefgehenden Schmerzes, wenn man unüberwindbare Differenzen gerade zu Menschen erleben muss, die man eigentlich liebt oder lieben möchte.

Quellen in Europa

Um Rudolf Steiner versammelten sich in dieser Zeit (von ca. 1907 bis 1912) immer mehr Menschen, die seine Verbundenheit gerade mit den deutschsprachigen Traditionen von Dichtung, bildender Kunst und Philosophie auf der Suche nach Wahrheit und der Aneignung von Herzkräften aus den in Europa besonders verfügbaren Quellen teilten. Diese Richtung wurde zunächst als ‹Theosophie der Rosenkreuzer› und dann neutraler und umfassender als Anthroposophie bezeichnet. Denn es war auch eine Tatsache, dass nicht zuletzt Rudolf Steiner sehr von der Begrifflichkeit und einigen besonderen Inhalten einer Art hinduistischen Philosophie und den mit ihr verbundenen Bildungspraktiken profitiert hatte. Es galt also, ein System zu schaffen, das sich nicht zu eng auf die deutschsprachigen oder mitteleuropäischen Traditionen beschränkt, ohne aber deren Besonderheiten zu stark zu verlieren. Das bedeutet aber auch, dass sich die Ausgestaltung der gemeinsamen Anliegen in jedem Menschen auf besondere Weise vollziehen wird. Diese besondere Herausforderung einer Anthroposophischen Gesellschaft versuchte Rudolf Steiner zunächst in seinen ‹Vier Mysteriendramen› künstlerisch zu verdeutlichen und gleichzeitig Wege für ein fruchtbares Zusammenwirken aufzuzeigen. Aus dieser Arbeit heraus entwickelte sich eine immer mehr praktische Ausrichtung seines Engagements. Und das ermöglichte ihm, nicht nur künstlerisch und philosophisch arbeitende oder interessierte Menschen anzusprechen, sondern auch unternehmerisch, politisch oder sonst praktisch wirksame. Gleichzeitig verdeutlicht Rudolf Steiner nicht nur in diesen Dramen, dass es nicht mehr um Absolutheiten und damit auch nicht mehr um Absolutismus gehen kann. Es geht ihm aber auch nicht um Relativismus, sondern um die jeweils individuell und situativ angemessene Progression der Fähigkeiten und der Entwicklung der Persönlichkeit wie des Sozialen. Der Mensch ist noch nicht fertig und zur Mitgestaltung seiner Weiterentwicklung quasi aufgefordert, sei es durch die Natur, den Kosmos, das Göttliche oder schlicht ‹den großen Hüter der Schwelle› vor der Erkenntnis und Verwirklichung der vollen Wahrheit.

Um Rudolf Steiners eigenen Weg seit seinem formalen Anschluss an die mit ihm begründete ‹Deutsche Sektion der Theosophischen Gesellschaft› bis zur Gründung der ‹Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft› 1923 studieren zu können, gibt es wenig besseres Material als die Bände GA 250/251 der Gesamtausgabe. Beide Bände wurden als Erstausgabe von Hans-Christian Zehnter herausgegeben und enthalten Vorträge, Ansprachen, Berichte und Protokolle zur Geschichte und Vorgeschichte der Anthroposophischen Gesellschaft 1902–1922 vor ihrer Neugründung als AAG in Dornach 1923. Zusammen genommen ermöglichen sie einen breiten und tiefen Überblick und Einblick in die Ausarbeitung der Grundlagen für Anliegen und Grundstruktur der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft. Hier wird deutlich, wie sich Rudolf Steiner und die mit ihm vereinten Menschen auseinandergesetzt haben und nach einer authentischen, aber auch öffentlich wirksamen Gestaltung ihrer Arbeit strebten. Auf diesem Weg kommen sie immer wieder zu Ausgestaltungen, die sich teils als stabiler, teils als kurzlebiger zeigen. Auch aus heutiger Sicht bleibt die hier dokumentierte lebendige Arbeit an der Entwicklung einer Anthroposophischen Gesellschaft und Kultur grundlegend und anregend.


Buch Rudolf Steiner: Zur Geschichte der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschafft 1902–1913 (GA 250), Rudolf-Steiner-Verlag Dornach, 2020

Buch Rudolf Steiner: Zur Geschichte der Anthroposophischen Gesellschafft 1913–1922 (GA 251), Rudolf-Steiner-Verlag Dornach, 2023

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