Der Goetheanum-Freischwinger Thonet S33

Ein Stuhl vom und fürs Goetheanum, in dem sich Europas Tradition, der Aufbruch in die Moderne und neue Gemeinschaft spiegeln.


Der Wandteppich ‹Guernica de la Ecología› von Claudy Jongstra hat mit 360 cm × 790 cm die gleichen Maße wie sein künstlerisch-historisches Vorbild, ‹Guernica›, das Pablo Picasso 1937 als Anklage gegen die Gewalt während des spanischen Bürgerkriegs malte. Claudy Jongstra klagt den Umgang mit der Natur an und ruft auf für biologische Vielfalt, würdevolles Handwerk und die Wiederherstellung einer gesunden Landwirtschaft in einem integrativen Arbeitsumfeld.

Rohstoff für Jongstras Werk ist die Wolle der niederländischen Heideschafe. Die Farben werden aus natürlichen Färbepflanzen destilliert, die auf ihrem biodynamischen Bauernhof angebaut werden. Ökologie ist eine weltweite Sache und deshalb geht ihr Wandteppich um die Welt: Er ist 2022 an der internationalen Impact Conference evpa im Maison de la Poste in Brüssel dabei und am Gipfel für biologische Vielfalt in Montreal. Dieses Jahr ist ‹Guernica de la Ecología› Teil der Ausstellung über die Beziehung zwischen Mensch und Natur in Bergen/Norwegen und es wird in Den Haag und an der Goetheanum-Weltkonferenz im Goetheanum ausgestellt. Jetzt hat das Organisationsteam der Weltkonferenz Claudy Jongstra gefragt, sich dem ikonischen Freischwinger-Stuhl Thonet S33 von Mart Stam zu widmen. Die Lizenzrechte hatte Stam überraschenderweise 1986 dem Goetheanum übertragen, aus dem Papier wird nun ein eigener Stuhl. Ein Gespräch mit Claudy Jongstra. Die Fragen stellte Wolfgang Held

Welches Ziel verfolgst du mit dem Stuhl?

Claudy Jongstra, Foto: Christian Jaggi

Claudy Jongstra Heute werden die Stoffe bei der Inneneinrichtung normalerweise mit petrochemischen Farbstoffen gefärbt mit enormen Auswirkungen auf die Umwelt. 20 Prozent der Verschmutzung von Flüssen und Seen stammt aus der Textilindustrie. Deshalb ist mir die ökologische Färbung so wichtig. Dabei ist der Freischwinger Thonet S33 für mich eine Erzählung, ein Gegenstand, der zum Gespräch einlädt, weil er diese ökologische Entwicklungsgeschichte hat und deshalb auch so etwas wie ein Sammlerstück wird – davon bin ich überzeugt.

Welche Bedeutung hat für dich ein Stuhl allgemein?

Er sollte bequem sein und schön. Wir sitzen gerne in Gemeinschaft und in solcher Umgebung funktioniert der Stuhl, den wir entwickelt haben gut. Ich freue mich natürlich, dass er während der Konferenz auf der Bühne zu sehen sein wird – ja, er gehört zur Goetheanum-Weltkonferenz dazu. Das ist ja stimmig, weil er ein wirklich sprechendes, buchstäblich sprechendes Stück darstellt, denn mehr als seine außergewöhnliche Ästhetik zählen die ökologischen und sozialen Aspekte.

Du verwendest wieder Wolle, wie auch bei dem großen Wandteppich. Was ist deine Verbindung zu Wolle?

Wolle ist sehr stark mit Europas Geschichte verbunden. Im nördlichen Teil Europas war die Landschaft früher von großen Schafherden geprägt. Jetzt haben wir die Wolle abgewertet. Das geht so weit, dass jährlich über 200 Millionen Kilo Wolle verbrannt werden. Sie wird nicht verwendet, nicht verarbeitet. Zur Wolle gehörte ja ein ganzes Produktionssystem. Das haben wir nach Asien ausgelagert. Es gibt zum Beispiel in den Niederlanden nur noch eine Weberei. Eine Spinnerei gibt es überhaupt nicht mehr. Wir können also nichts mehr herstellen. Das mag in der Schweiz noch etwas anders sein und auch in Spanien gibt es noch ein, zwei Spinnereien. Ich möchte uns daran erinnern, was für ein fantastischer Stoff Wolle ist!

Beim Teppich verwendest du ungesponnene Wolle – warum?

Ja. Für den Wandteppich habe ich die Rohwolle genommen, das kam für den Stuhl natürlich nicht infrage. Für das Polster haben wir eine Spinnerei in Irland und eine in Spanien gewonnen. All diese lokalen Industrien gibt es noch. Es sind sehr lebendige Industrien und ich denke, der Beitrag des Stuhls ist hier impulsgebend. Die Farbe der Polster wird sehr bunt sein. In einer Woche werde ich mit meinen Söhnen nach Spanien fahren. Hier entsteht eine wunderbare Zusammenarbeit mit einem biologisch-dynamisch wirtschaftenden spanischen Bauern. Ja, er arbeitet nicht nur biologisch, sondern auch biodynamisch, denn wir glauben, dass das die Zukunft ist. Dieser Landwirt produziert für uns eine große Menge an Pflanzen, um die Wolle zu färben. Dabei werden die Pflanzen von Hand gepflückt. Das ist ein intensiver Prozess. Durch den Anbau dieser Pflanzen wird auch die Artenvielfalt gefördert.

Dieser biologisch-dynamische Hof ist dabei viel mehr als ein Bauernhof. Es ist ein Ort, an den Designer und Wissenschaftlerinnen, Philosophinnen und Sozialunternehmer kommen. Wir haben auch den Plan, mit der Iona Stichting aus den Niederlanden zusammenzuarbeiten und vor Ort eine Färberei aufzubauen, um später in Spanien die Wolle färben zu können. Jetzt fahren meine Söhne nach Spanien, pflücken die Blumen und bringen sie in einem Lieferwagen in die Niederlande. Um den Verkehr zu reduzieren, soll das Färben zukünftig in Spanien selbst passieren. Deshalb bilden wir jetzt eine Assistentin ein Jahr lang in den Niederlanden aus, und dann geht sie nach Spanien, um diese ökologischen Pflanzenfarben professionell herstellen zu können. Übrigens: Unser Stuhl ist der Prototyp für die neue Demeter-Zertifizierung von Textilien und Pflanzenfarben!

Geht es darum, die ganze Produktionslinie ökologisch zu führen?

Oh ja. Ganz und gar! Nicht nur ökologisch, sondern es geht auch um die soziale Dimension. Es ist ein Gemeinschaftsprojekt. Wenn ich mir den Bauernhof in Spanien ansehe, arbeiten dort viele Leute aus der Region. Sie kommen jeden Morgen dorthin und unterhalten sich über, wie ich meine, für sie sehr ungewöhnliche Dinge. Weltweit gibt es wohl nur zehn Menschen, die sich professionell mit pflanzlicher Färbung beschäftigen. Ich meine, das ist nicht gerade viel. Deshalb denke ich, dass es wichtig ist, dass wir diesen schönen Impuls weitergeben.

Du sprichst viel über die ökologische Sichtweise und bist zugleich Künstlerin. Wie hängen Kunst und Ökologie für dich zusammen?

Ich denke, es ist eine großartige Gelegenheit für Kunstschaffende, sich neben ihrer künstlerischen Arbeit nicht nur politisch zu äußern, sondern dies in ihre Kunst zu gießen. Viele Künstler und Künstlerinnen beteiligen sich an Gemeinschaftsprojekten, sind nicht alleine mit ihrem Werk beschäftigt, sondern schaffen ein soziales Feld. Das sind die ersten Schritte eine guten Bewegung. Das gilt gerade für Spanien, denn Spanien ist ein Land, das seit Jahrhunderten von der Wollkultur geprägt ist. Man sieht viele Projekte in den Bergen, in Galizien und Katalonien, die sich gemeinschaftlich, von unten nach oben bilden. Die Menschen erlangen Autonomie und gründen kleine Gemeinschaften.

Du hast mit der Landwirtschaftlichen Sektion zusammengearbeitet und bist jetzt mit der Goetheanum Weltkonferenz tätig. Wie ist dein Verhältnis zur Anthroposophie?

Seit meine Kinder die Waldorfschule in den Niederlanden besuchen, hat sich für mich eine neue Perspektive gezeigt. Das hat mich sehr inspiriert. 2019 haben wir dann zum ersten Mal meine Wollarbeit ‹WovenSkin› am Goetheanum gezeigt. Das war der erste Schritt. Der Wandteppich ‹Guernica› ist ein zweiter. Er spielt auf die Monokultur an, zeigt die Dringlichkeit der Ökologie.

Ist Hoffnung dabei immer ein Thema?

Ja, denn wir haben in den Niederlanden, wo wir leben, eine Schule gegründet, nicht weil wir dachten: Okay, eines Morgens wachen wir auf und gründen eine Schule, sondern die Dinge entwickeln sich ganz natürlich in der Art und Weise, wie wir arbeiten, wie das Atelier funktioniert. In den letzten sieben Jahren kamen viele Studenten, um zu üben, buchstäblich von der Form zum Stoff, zur Mode oder zu Produkten. Wir dachten: Okay, lasst uns einen Ort für Bildung machen, und dann hören wir, dass viele junge Leute sehr hoffnungsvoll sind, viele Leute, die bei uns ein Praktikum machen, die für drei oder sechs Monate kommen, gründen ihre eigene kleine Gemeinschaft durch Arbeit. Wir haben viele dieser Satelliten, hoffnungsvolle Samen, die in der Welt gepflanzt werden.

In welchem Zusammenhang steht deine Arbeit zu Picasso und seinem Werk ‹Guernica›?

Mit meinem Teppich zum Frieden und zur Ökologie begann ich vor dem Krieg. Doch dann begann er! Das war für mich unglaublich. Interessant ist, dass das Werk von Picasso auch auf Reisen war, und es hatte auch eine politische Dimension, weil es einmal abgedeckt wurde, als Colin Powell den Einmarsch in den Irak rechtfertigte.

Ich denke auch, dass die Bauernproteste in den Niederlanden in gewisser Weise wie ein Landwirtschaftskrieg aussahen. Es gab in den Niederlanden eine Menge Widerstand, ja Aggression gegenüber der Regierung. Viele Landwirte und -wirtinnen würden gerne den Übergang schaffen, aber sie wissen nicht, wie. Wir wollen Wege zeigen. Dazu gehört, dass wir ab Oktober unsere eigene Bekleidungskollektion haben – ganzheitlich pflanzenbasiert, made in Europe. Die Baumwolle kommt aus Sekem, aber die Wolle ist aus Spanien und den Niederlanden. Mode ist ein sehr kommunikatives Instrument, deshalb ist es wichtig, gerade hier zu zeigen, dass es auch ökologisch geht.

Deine Arbeit strahlt enormen Willen und Energie aus. Wo holst du sie her?

Das ist nicht schwer, die Energie kommt aus der Inspiration – aus dem Gespräch mit all den Menschen, wie auch jetzt. Wir treffen uns und treffen auf Partner und Mitstreiterinnen. Sie haben viel Potenzial und die Fähigkeit und Energie, auch zu transformieren. Solche Menschen sind wählerisch, mit wem sie zusammenarbeiten. Es geht ja darum, an einem Strang zu ziehen. Die Leute, mit denen ich zusammenarbeite, sind sehr motiviert. Ich glaube, das ist ein Teil der Chemie.

Johannes Kronenberg Wir haben Claudy ja eingeladen, an der Weltkonferenz teilzunehmen und ihr Kunstwerk ‹Guernica› mitzubringen, damit es auf der großen Bühne steht. Wie nimmst du die anthroposophische Weltbewegung denn wahr? Da ist solch eine Vielfalt, all diese Organisationen, Höfe, Schulen und vieles mehr. Einige Leute sind mehr im Zentrum oder andere mehr in der Peripherie. Manche kommen, andere lösen sich. Es ist wie in einem Bienenstock – oder was meinst du?

Claudy Jongstra Ich denke, der Stuhl ist ein wirklich gutes Beispiel für diesen Moment, in dem all diese transformativen Kräfte ineinandergreifen – große und kleine. Es gibt den Menschen auch ein Gefühl für das menschliche Maß, dass jeder zur Teilnahme eingeladen ist. Diese Weltbewegung ist sehr einladend. Sie ist so ansprechend, weil sie Freude entfaltet. Ich denke also, es ist eine sehr kraftvolle Einladung, sich anzuschließen. Da leiste ich gerne meinen Beitrag dazu – ich fühle mich eingeladen und irgendwie bin ich es selbst, die einlädt. •


Info Die Serie des Thonet S33 umfasst 100 Stühle.Vorbestellungen: freischwinger@goetheanum.ch. An der Weltkonferenz beginnt der Verkauf.

Alle Fotos: Johannes Kronenberg

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