Kunst verwandelt

Wahre Kunst überrascht, fordert auf, sich zu bewegen, führt an die Grenzen des Vertrauten und verlangt, sich zu verändern. Die Kunst bezieht sich auf die Mitte. Das künstlerische Element liegt zwischen Denken und Wollen, zwischen dem Sinnlich-Leiblichen und dem Übersinnlich-Geistigen. Diese Mitte ist ein Raum der Instabilität, des Wandels und der Suche nach Gleichgewicht.


Gerade weil das Wesen der Kunst diese dynamische Mitte ausmacht, erscheint sie dem Denken als Rätsel. Sie trifft uns zunächst im Bereich des Gefühls und des Erlebens und ist mit dem Denken nicht leicht zu entschlüsseln. Klarheit über die beiden Pole Denken und Wollen, das Forschen und das praktische Tun zu erlangen, fällt nicht schwer, doch das Dazwischen entzieht sich erst einmal dem Denken. Es ist nicht verwunderlich, dass erst im 18. Jahrhundert die Ästhetik als neue Wissenschaft mit Alexander Baumgartens ‹Aesthetica› aufkommt. Im von Rudolf Steiner so bezeichneten ‹Bewusstseinsseelenzeitalter›, das mit der Renaissance begann, ist es erstmals möglich, die einzigartige Stellung der Kunst zu verstehen. Was wir jedoch nicht mit dem Denken durchdringen, verliert seinen Platz im Leben und in der Kultur.

Die Kunst steht in der Mitte zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem. Die künstlerische Tätigkeit erhebt das Sinnliche zum Übersinnlichen, indem sie einen Raum schafft, in dem der Geist, der in der materiellen Welt ‹verzaubert›, gleichsam eingeschlossen ist, sich in dem zum Kunstwerk verwandelten, materiellen Element vollständig offenbaren kann. Darin liegt die Transformationsaufgabe der Zukunft: Jedes Kunstwerk ist ein durch den Menschen bzw. den Künstler verwandeltes Stück Welt.

Kunst und Freiheit

Kunst ermöglicht einen neuen Lebenszugang, der ohne jeden äußeren Zweck rein an die künstlerischen Mittel, den Prozess des Schaffens oder Anschauens hingegeben ist. Im künstlerischen Prozess sind gerade nicht wie im Alltag oder in anderen Berufsgebieten die Intention und das Ziel für die Realisierung des Kunstwerks wesentlich. Im Gegenteil, wenn Kunstschaffende nur ihre Vorstellungen realisieren würden, dann würde im Sinne Steiners keine wahre Kunst entstehen. Wir hätten dann das, was heute als Produkt der Künstlichen Intelligenz missverständlich als Kunst bezeichnet wird.

Imre Kertész in der Villa Waldberta, Feldafing, 1992. CC BY-SA 4.0

Was Künstlerinnen und Künstler als Schöpfung hervorbringen, ist nicht nur durch ihre eigenen Intentionen bestimmt, sondern es ist durch einen Dialog mit dem Ungewissen, über das sie nicht verfügen können, entstanden. Zu Beginn setze ich beispielsweise als Malerin einen ersten Schritt, indem ich eine Farbe auf die Leinwand auftrage, und dann ist die Frage: Kommt mir eine Antwort entgegen? Kann etwas für mich willentlich nicht Verfügbares an meinen Impuls anschließen? Die Antwort kommt, oder wenn sie nicht kommt, muss man warten, bis es so weit ist.Das Ungewisse lässt sich nicht zwingen, es ordnet sich nicht der eigenen Intention und Macht unter und erscheint zu einer unerwarteten und nicht vorhersehbaren Zeit.

So ist das Schaffen von und mit Kunst oft von Grenzerlebnissen gekennzeichnet. Es ist ein Leben an der Schwelle, manchmal begleitet von schweren Krankheiten. Künstlersein ist somit eine Existenzform, die gerade diese Grenz- und Schwellenerlebnisse, Todeserfahrungen, als Bedingung hat dafür, dass etwas entsteht. Der Sphäre des Geistes wird durch das kunstschaffende Individuum abgerungen, was seine Spiegelung in der Verwandlung der Materie findet. Zugleich geben Grenzerlebnisse die Kraft, Urerfahrungen des Menschlichen, Krankheit, Alter und Tod zu bestehen, durch sie zu wachsen und innerlich zu reifen.

Kunst und Organisation

Im Tagebucheintrag von 1963 macht Imre Kertész auf einen Wandel aufmerksam, der für die Situation des Kunstschaffenden und seine Gegenstände neue Bedingungen mit sich bringt. Kertész beschreibt, wie der Mensch mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts das gesellschaftliche Leben, gleichgültig welche Ideologie darin bestimmend ist, eng umrissenen Formen der Organisation unterwirft. Es sind «geschlossene Lebens-, Interessens- und Geistesgemeinschaften, in denen sich das Leben des modernen Menschen wie in einem gut isolierten Glaskolben abspielt.»1 Das durch äußere Ordnung bestimmte Leben bedeutet für die menschliche Natur eine Vergewaltigung, die Kertész jedoch als eine notwendige Entwicklung beschreibt, im Sinne einer Herausforderung, unter diesen Umständen die Humanität zu verteidigen und zu bewahren: «Der organisiert lebende Mensch ist kein leidender, sondern ein herrschender Mensch, weil ihm diese Vorstellung suggeriert wird und auch bestimmte Anzeichen darauf hindeuten: Er hat die Staatsmacht, er gestaltet scheinbar die Gesellschaft und die Natur um, er ist der absolute Herr über nie dagewesene materielle Güter, seine Technik ist mächtiger als jede bisherige Gottheit, und nach der Erde wird er über kurz oder lang auch den Kosmos in Besitz nehmen. Er ist der Held des Himmels, der Erde und des Kosmos, und es scheint, als wäre der menschliche Fortschritt im Grunde nichts weiter als die Entwicklung von technischer Wissenschaft plus staatlicher Organisation. Was für ein großer Irrtum das ist, davon wollen wir jetzt nicht reden.»2 Der Preis sind die Individualität und das Schicksal. Sie werden zugunsten von materiellem Wohlstand, gleichen Rechten, Sicherheit und der «Fundierung eines ungefährdeten Lebens» sowie einer gewissen Berechenbarkeit des Lebens aufgegeben. Kertész zeigt die Konsequenzen auf, die im Verlust von Wirklichkeit und Sinn­erleben liegen. Wenn der Mensch sich weniger selbstverantwortlich um sein materielles und moralisches Dasein sorgen muss, verliert er seine Selbständigkeit und Selbstwirksamkeit. Damit geht eine Eliminierung der urmenschlichen Erfahrungen von Krankheit, Tod und Liebe einher. «Das einzelne Leben nichts anderes mehr […] als ein Symbol, das Symbol für eine vorgegebene, gleichartige Existenz, ohne Variationen, Verirrungen, abenteuerliche Möglichkeiten, kurzum ohne eigenes Schicksal, an dem man arbeiten könnte.»3 Genau dieses Schicksal, das Leiden und Ringen des Menschen in der tragischen Situation des Nicht-Wissens und der daraus erfolgenden Selbstbegegnung sind das, was allein Gegenstand der wahren Kunst sein kann. Die Kunst dient sonst nur der Selbstbestätigung des entfremdeten und gleichgeschalteten Individuums, und entfernt sich aus ihrer geistigen Aufgabe. Kertész schließt: «Vielleicht muss man die schwere Unverantwortlichkeit der gesellschaftlichen Verantwortung zuliebe und die Qualen des schlechten Gewissens einer neuen Humanität zuliebe durchleben, die auf nichts anderem beruhen kann als dem tiefen Wissen von uns selbst. Und diese bittere Aufgabe obliegt nunmehr allein der Kunst, weil die Wissenschaft sich der Technik und damit der Macht zugewandt hat.»4 Doch wovon wird die Kunst geleitet und wie verhält sich dieser Blick zu Steiners Kunstverständnis?


Im Themenforum ‹Von der Verwandlungskraft der Kunst› während der Goetheanum-Weltkonferenz, wollen wir diese Fragen gemeinsam bewegen.

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Footnotes

  1. Imre Kertész, Heimweh nach dem Tod. Arbeitstagebuch zur Entstehung des «Romans eines Schicksallosen». München 2022, S. 108.
  2. Ebenda, S. 115.
  3. Ebenda, S. 110 f.
  4. Ebenda, S. 119.

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