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Das Opfer des Schlangenjünglings

Im Gartenpark des Goetheanum stehen eine Reihe von Skulpturen. Diesmal betrachtet Thorwald Thiersch eines der Kunstwerke.


Die gestaltete Rückseite: Wie ein Siegel erscheint eine Schlange, die den Schwanz im Maul hält. Sie umfasst durch ihren Kreis ein Sonnenzeichen, das von seinem Zentrum aus den Dreiecksraum durchstrahlt. So geben Sonne und Schlangenkreis ein Thema auf der dem Osten zugewandten Seite.

 


Heinz Georg Häussler (geb. 1929), Carraramarmor, 2001 (in der Laube im Färbergarten; Schenkung des Künstlers und von H. Berneburg an das Goetheanum) Foto: T. Thiersch

Heinz Georg Häussler (geb. 1929), Carraramarmor, 2001 (in der Laube im Färbergarten; Schenkung des Künstlers und von H. Berneburg an das Goetheanum) Foto: T. Thiersch

 

Die Vorderseite: Hier fallen dynamische Hauptlinien ins Auge, die das Dreieck gliedern. Von links streben drei Formen nach rechts und eröffnen dabei eine vertikale Gliederung. Von der rechten unteren Ecke kommen drei wie aus einer Wurzel nach links und oben sich entwickelnde Formen entgegen. Sie gewinnen einen eigenen Gestaltcharakter: Besonders die unterste der drei Formen ergreift als Hauptmotiv den zur Verfügung stehenden Raum. Erst horizontal vorstrebend, steigt sie mit einem scharfen Knick fast senkrecht nach oben, um weiter nach links in die Mitte und um diese herum sich wieder nach unten zu wenden. Sie endet in einem neuerlichen Aufstieg mit einem Schlangenkopf, dabei als Spirale sich einwickelnd. Diese Schlange umwindet eine geheimnisvolle Form – in der Stimmung eines Sonnenauges. Je mehr der Blick die Gestalt erfasst, umso mehr wird sie ein kniender Jüngling. Für das Empfinden kann sich die linke gerade Form, auf die sich dieses Wesen stützt, und die rechte Beinpartie zu einem Boden, der sich in der Mitte öffnet, ergeben. Wie eine Brücke überspannt die Hauptgestalt die offene Mitte. Darüber schützt dachartig links die mittlere Form. – Einen höheren Raum öffnend, steigt die Dreieckskante bis zur Spitze empor, wo sie sich mit dem rechten Rand vereinigt. So entsteht über dem Rücken der Schlange ein Spitzbogenraum. Er ist nicht leer: Zwei aufrechte Gestalten sind da, in ihrer gegenseitigen Zuwendung – wie ein Menschenpaar. Sie scheinen in Bewegung, die Brücke durchwandelnd, können aber auch in der Geborgenheit der Mandelform verharren. Alle noch so kleinen Formakzente, die nicht den in starken Linien gemeißelten Hintergrund bilden, bekommen lebendige Bewegung, je länger man schaut. Wer sich auf der nahen Bank niederlässt, die Augen auf dieses Relief lenkt, dem mag es geschehen, dass er oder sie sich entrückt fühlt in eine ruhige Geschäftigkeit; ein königliches Paar tritt aus einem Gewölbe hervor auf einen Brückenbogen, der einen Abgrund überbrückt und zwei Welten verbindet.


Mai 2020.

Wie das Motiv dem Leben des Bildhauers einverwoben ist, hat Andrea Hitsch 2008 beschrieben.

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