Das Leben ist so dünn

Seit über einem Jahr herrscht in Äthiopien Bürgerkrieg. Die Schuld am Leid der Zivilbevölkerung auszumachen, ist nicht leicht. Aber das Leben dort wird immer dünner. Machtpolitische Verstrickungen und Identifikation mit der eigenen ethnischen Zugehörigkeit sind zwei Ursachen.


Vor vier Jahren standen noch die Proteste der Oromo im Vordergrund und sorgten für Ausnahmezustände, bei denen Menschen ums Leben kamen und wir unser Hotel nicht verlassen durften. Damals sagte mir ein Bekannter vor Ort: «Die Probleme unseres Landes sind nur durch einen Bürgerkrieg zu lösen.» Ich war schockiert. Als ich amharische Bauern in den Semienbergen dazu befragte, antworteten sie: «Gott wird es lenken, wir können nichts tun. Wir müssen abwarten.»

Der derzeitig amtierende, nicht offiziell gewählte Ministerpräsident Abiy Ahmed Ali (halb Oromo, halb Amhare) erhielt im Oktober 2019 den Friedensnobelpreis. Zumindest meine Bekannten waren vor Freude aus dem Häuschen. «Er ist der Richtige. Er wird das Land einen», hörte ich und feierte mit ihnen.

Foto: Gilda Bartel

Äthiopien ist ein multiethnischer Staat, in dem über 80 verschiedene Sprachen gesprochen werden. Die größte Bevölkerungsgruppe sind die Oromo mit >ca. 40 Millionen Menschen. Dann folgen die Amharen mit 25 Millionen und die Schlusslichter bilden die kleinen Ethnien im Süden und Westen des Landes, von denen einige nur noch 5000 Zugehörige zählen. Die 2000-jährige kaiserliche Geschichte und Tradition des Landes ging mit der Absetzung und wahrscheinlichen Ermordung Haile Selassies durch das Derg-Regime 1974 zu Ende. Der Militärrat (Derg) übernahm bis 1989 die Macht. Die Befreiung vom größenwahnsinnigen Mengistu Haile Mariam, der noch heute in Simbabwe bei Robert Mugabe sein Leben lebt und nie zur Verantwortung gezogen wurde, wurde durch einen Zusammenschluss von Rebellen verschiedener Ethnien erreicht und maßgeblich durch die Tigray People’s Liberation Front (tplf) vorangetrieben, mit eritreischen Kämpfern zusammen. Ihr charismatischer Führer Meles Zenawi, selbst einer von vier Millionen Tigray, gab sein Medizinstudium auf, um sein Land zu befreien, und wurde die folgenden 23 Jahre (bis er 2012 starb) politisches Oberhaupt der Republik Äthiopien. Er reformierte sogar das Schulwesen des Landes, indem er erlaubte, dass jedes ‹äthiopische› Volk seine eigene Sprache sprechen könne. Das Amharische als jahrhundertelange Lingua franca wird seitdem allmählich durch Englisch abgelöst. Und ja: Tigray ist das Bundesland, welches die besten Straßen, die beste Landwirtschaft, die beste Wasser- und Stromversorgung hat. Das alte Abessinien, das auch Eritrea umfasste und erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch Kaiser Menelik II zu den heutigen äthiopischen Staatsgrenzen ausgedehnt und ‹geeint› wurde, hatte seinen Ursprung in Tigray. Dort, in Axum, liegt auch der ‹Vatikan› der äthiopisch-orthodoxen Kirche. Dort steht neben den Nekropolen der axumitischen Kaiser das Haus ‹der› Bundeslade, auf die sich alle politisch-kirchliche Macht des Landes bis 1974 gründete.

Je weiter man sich von den modernen Großstädten an die Ränder des Landes bewegt, desto weniger identifizieren sich die Menschen als Äthiopier und Äthiopierinnen. Ganz im Süden, 1500 Kilometer von Addis Abeba entfernt, könnten Angehörige der Mursi, Benna, Hamer oder Nyangatom zwar wählen gehen, aber sie fühlen keinen Bezug zu einem Nationalstaat. Und selbst die größeren Völker wie Wolayta, Sidama, Konso oder Gurage denken und fühlen in ihren Territorien und Traditionen. Einige streben schon lange Autonomie an. Die Sidama, mit drei Millionen Menschen, haben 2019 per Volksabstimmung durchgesetzt, ihre eigene Verwaltung unabhängig von Addis einzuführen. Sie sind nun zwar autonom, aber ob sie in ihrer kleinen Provinz allein einen Wirtschaftsraum aufbauen können, muss sich erweisen. Nur selten antwortet jemand auf die Frage, welcher Ethnie er angehört, mit ‹Ich bin Äthiopier›.

Seit Beginn des Bürgerkrieges vor einem Jahr erreichen mich Nachrichten von Bekannten, die vor den aus Norden vormarschierenden tigrinischen Truppen fliehen und nicht mehr wissen, ob ihr Haus eigentlich noch steht. Oder von Bekannten aus Tigray, die mir schreiben, wie schlimm es dort ist. Tigrinische Macht will nach Addis Abeba und ist im Bundesland Amhara angekommen. Und Abiy, für seine Friedensbemühungen mit Eritrea geehrt, hatte schon im November 2020 Luftangriffe auf tigrinische Rebellen angeordnet. Die Flughäfen von Axum, Lalibela, Gondar sind zerstört. Menschen werden auf beiden Seiten massakriert, amharische Frauen aus Rache von tigrinischen Soldaten vergewaltigt. Eritrea als ‹ehemaliger› Feind, mit dem Abiy doch eigentlich Frieden machte, hat sich den tigrinischen Rebellen angeschlossen. Diktator Afewerki, vor dessen nun schon 30 Jahre währendem Regime Eritreer nach Europa fliehen, scheint sich einen Vorteil zu erhoffen. Es geht um politische Macht, zulasten der Zivilbevölkerung, wie wohl immer. Kürzlich hat Abiy alle Männer aufgerufen, sich zu entscheiden, mitzukämpfen oder ihre Waffen zur Verfügung zu stellen.

Europäische Medien sprechen von ‹Völkermord›, wobei man gar nicht mehr sagen kann, an welchem Volk gemordet wird, beziehungsweise man kann nur noch antworten: am äthiopischen Volk. In diesem Leid der Zivilgesellschaft zeigt sich absurderweise die Notwendigkeit einer Einigung, eines Bewusstseins von ‹Wir sind alle Äthiopier und Äthiopierinnen›.

Ich möchte meinen Freunden am liebsten zurufen: «Erhebt eure Stimme, zeigt, dass ihr das nicht wollt.» Und ich frage mich, warum sie nicht für den Frieden auf die Straße gehen. Eine Äthiopierin, die ich neulich zufällig im Zug traf und mit der ich ins Gespräch kam, erzählte, dass die äthiopische Community in zwei Tagen in Berlin eine Demonstration für Frieden organisiert hätte. Sie blickte sehr kritisch auf Abiy und meinte, dass er ohnehin ein Oromo sei. Aber sie sah aus ihrer Distanz auch den Wahnsinn des Ganzen, war verzweifelt ob des Leids und hatte keine Antwort, was jetzt geschehen müsste.

Ist der Traum von einem Nationalstaat unrealistisch? Braucht es, wie in Jugoslawien, die Aufteilung in einzelne kleine Republiken? Ich weiß es auch nicht.

Ich bin sechs Jahre durch das Land gereist und habe es lieben gelernt. In allen Ethnien habe ich Menschen getroffen, die aufrichtig, gutherzig, zutiefst gläubig waren und auf der Suche nach Möglichkeiten für ein besseres Leben. Die Jahre vor dem Bürgerkrieg haben Aufschwung gebracht. Gerade der Tourismussektor sorgte für eine größere allgemeine Wahrnehmung von Äthiopien und seiner langen Geschichte. Chinesische, türkische, indische, niederländische, deutsche, britische … Firmen siedelten sich an, um die Wirtschaft mit zuentwickeln. Unabhängig davon, dass man diese Entwicklung natürlich auch hinterfragen muss, wirft der Bürgerkrieg das ganze Land um Jahrzehnte zurück. Ich hatte meinen Fahrer einmal gefragt, was wir seiner Ansicht nach von Äthiopien lernen könnten. Er antwortete mir verstört: «Nichts, wir haben nur Natur.» Aber drei Tage später kam er noch einmal darauf zurück und hatte reflektiert: «Ich glaube, wir sind sozialer als ihr. Wir helfen einander mehr.» Das sind sie und das tun sie. Vielleicht bisher nur auf ihre Volksgruppe und Familie bezogen. Aber darin steckt auch ein großes Potenzial, das den Egoismen der Machthabenden entgegengestellt werden könnte.

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