«Das Goetheanum ist ein geistiges Ereignis»

In Alabama geboren, studierte Nathaniel Williams Malerei und Marionettentheater in der Schweiz und Politische Theorie in Albany. Er gründete eine Kunstschule im Bundesstaat New York und ist nun als neues Mitglied der Goetheanum-Leitung in den Jurahügeln angekommen. Der Langbeinige will die Weltbewegung mit der Hochschule vernetzen und jungen Menschen einen Ankerplatz für weltbejahende spirituelle Schulung geben.


Philipp Tok Deine Entscheidung, als Sektionsleiter ans Goetheanum zu kommen, liegt bereits ein Jahr zurück. Du hattest also reichlich Zeit, Intentionen, Ideen und Bilder für diese Aufgabe zu entwickeln. Wie erlebst du es jetzt, hier zu sein?

Nathaniel Williams Mein Leben in New York war bis zuletzt so voll von Aufgaben, dass ich keine Zeit hatte, mir vorzustellen, wie es hier sein wird. Ich wurde unter anderem zum zweiten Mal Vater, und noch im Dezember kreierte ich in New York eine Performance mit selbstgebauten, analogen Lichtprojektionsinstrumenten, zu der ein Freund die Musik komponierte.

Das wirft ein Licht auf meine Entscheidung, der Goetheanum-Leitung beizutreten: Ich hatte keine Vorstellung davon, wie der Job aussehen würde, was die Aufgabe konkret sein würde. Es war ein unmittelbares Ja, ein Ereignis in meinem Willen. Ich habe so etwas noch nicht erlebt. Dieser Entschluss lebt im Zusammenhang mit meiner Erfahrung der spirituellen Bewegung der Anthroposophie und dem Wunsch, ihr zu dienen. Es ist eine Freude und auch eine Klarheit.

Die Schweiz ist schön, kulturell und politisch interessant. Aber meine Beine sind lang und ich fühle mich immer ein bisschen eingeengt, wenn ich sie hier herumschwinge. Es war weniger eine Verlockung, hier zu leben, sondern eben dieses Ja, die innere Entschlossenheit, die ich einfach anerkennen musste. Seit ich hier bin, treffe ich jede Menge junge Leute und höre ihnen zu. Seit der ersten Woche lebe ich in einer Flut von Ideen und Impulsen durch die Begegnungen mit den Menschen hier.

Links: Nathaniel Williams während des Interviews, Januar 2023, Foto: Ph. Tok
Rechts: Nathaniel Williams mit 8 oder 9 Jahren in Winchester, Tennesse

In den Ausläufern des Appalachen-Gebirges

PT Erzähle mir etwas über die Umgebung, in der du aufgewachsen bist.

NW Ich wurde in Alabama geboren. Mein Vater kam von da und meine Mutter war aus Tennessee. Mein Vater wuchs in derselben Stadt auf wie Harper Lee, die Autorin von ‹To Kill a Mockingbird› [Wer die Nachtigall stört]. Harper Lee war mit meiner Großmutter befreundet und mein Vater wurde manchmal zum Tee eingeladen. Sie liebte Kinder. Meine Mutter kommt aus Tennessee, nördlich von Alabama.

Kulturell hat der südliche Teil der USA die schlimmsten rechtlichen Traditionen von England übernommen: eine klassenorientierte Kultur, die die Rechtfertigung der Sklaverei sehr einfach machte. Doch die Menschen haben auch erstaunliche Eigenschaften. Harper Lee ist in der Tat ein Beispiel, aber auch Martin Luther King Jr. war ein Südstaatler, und der reichhaltige, weitschweifige und ethische Hintergrund seiner Reden verrät etwas darüber, woher ich komme.

Meine Eltern beschulten mich, bis ich zehn Jahre alt war, zu Hause. Ich wuchs auf einer 125 Hektar großen Farm in Tennessee mit Kühen, Pferden, Hunden und Katzen auf. Meine Mutter unterrichtete uns an einem Tag in der Woche. Die restliche Zeit verbrachte ich mit meinen drei Geschwistern, mit Freundinnen und Cousins draußen am Bach oder im Wald. Ich war vor der rassistischen Kultur des Südens beschützt, die ich erst später in der Schule kennenlernte.

Ich bin auf der westlichen Seite des Appalachen-Gebirges aufgewachsen, das von Georgia nach Maine verläuft. Das Gelände wird allmählich flacher und hügeliger, wenn es sich Memphis nähert. Es erreicht schließlich den Mississippi, eine riesige Wasserstraße, die im Herzen des Landes liegt. Der Fluss wird von Bächen gespeist, die im Osten durch die Appalachen und im Westen durch die Rocky Mountains fließen.

Für mich ist es ein langer Weg, mich mit den Stereotypen der Südstaaten zu versöhnen. Doch meine Erfahrungen des Südens sind reich, ich bin tief mit dem Land, dem Klima und den Tieren verbunden. Ich schätze die Herzlichkeit der Menschen und der Landschaft. Das Licht in Tennessee hat so eine einzigartige Beschaffenheit, die die Erde durchdringt, und es steckt so viel Wärme in den Menschen.

In New York lebte ich an der Ostseite des Hudson River. Von da aus konnte ich die Catskill Mountains sehen, die ein Teil der nördlichen Appalachen sind. Dort entstand eine der frühesten amerikanischen Malbewegungen – die Hudson River School –, die von den Bergen inspiriert wurde. Das Licht ist so surreal, es ist fast so, als wären die Berge eine schwerelose Erscheinung. Selbst nach 15 Jahren hatte ich noch dieses Gefühl.

PT Gab es wichtige Menschen jenseits der Familie?

NW Ich habe einen Freund, seit ich acht oder neun Jahre alt war. Er wuchs in einer Hippie-Kommune namens The Farm außerhalb von Nashville, Tennessee auf. Diese wurde von Stephen Gaskin und seiner Frau, Ina May Gaskin, gegründet. Stephen war ein berühmter Lehrer der Gegenkultur in den 1960er-Jahren und Ina May schrieb ein äußerst einflussreiches Buch über spirituelles Hebammenwesen. Mit dem Buch ‹Spiritual Midwifery› (1977) unterstützte sie die Geburt außerhalb des Krankenhauses, informierte zu Geburtskultur und Geburtsrechten. Selbst heute noch, wenn ich erwähne, dass ich in der Nähe der Farm lebte, erzählen mir Menschen, dass sie in dem Hebammenzentrum geboren wurden. Der Ort war eine direkte Verbindung zur Gegenkultur von San Francisco in den 60er-Jahren. Stephen Gaskin hielt dort seine berühmten wöchentlichen Montagabendkurse ab, die bis zu 1500 Hippies anzogen. In den Kursen diskutierten sie alles von Spiritualität bis zum Vietnamkrieg.

Durch meinen Freund kam ich mit den Interessen und spirituellen Fragen der 60er-Jahre sowie der Drogenkultur in Kontakt. Simon ist eine freundliche und aufrichtige Person.

Er interessiert sich wirklich für jeden Menschen, den er trifft. Er stand immer vielen Leuten sehr nahe und wir verbrachten viel Zeit miteinander. Durch ihn begann ich, in einer Band zu spielen und durch das Land zu reisen, um Musik zu machen. Wir waren eng befreundet, bis ich mit 19 Jahren nach Europa ging.

Links: Banjo Mountains, ein Blick vom Hamlet of Harlemville, NY, von Nathaniel Williams
Rechts: Ausblick vom Cumberland Plateau, Tennessee. Foto: J. Stephen Conn, CC 2.0

Europa hin und zurück

PT Was hat dein Interesse an Europa geweckt?

NW Ich bin mit klassischen und romantischen deutschen Büchern in den Regalen aufgewachsen. Meine Mutter studierte Germanistik und bekam später ein Fulbright-Austauschprogramm zugesprochen. Als ich 16 Jahre alt war, nahm sie uns mit in den Schwarzwald, wo ich Deutsch gelernt habe. Ich brachte ein existenzielles Interesse an Spiritualität mit, das zwei Jahre zuvor durch Erfahrungen geweckt worden war. Ich suchte nach unmittelbaren Beschreibungen spiritueller Erfahrungen. Ich las alles, von Aristoteles bis zum tibetischen Buddhismus. Schließlich fand ich Bücher von Rudolf Steiner. Anfangs war ich mir wegen seines intellektuellen Stils unsicher über die Authentizität seiner Erfahrungen.

PT Was hat dich mit 19 Jahren in die Schweiz gebracht?

NW Ich spielte in einer Band in Atlanta und las ‹Die Philosophie der Freiheit›. Beim Lesen habe ich eine lebensverändernde Erfahrung gemacht. Ich erlebte mein Denken, frei von meinem Körper. Ich war so beeindruckt von der transparenten Beschreibung in dem Buch und davon, wie mich das Nachvollziehen zu einer Vielzahl von Einsichten und Erfahrungen führte, die mir in ihrer Bedeutung revolutionär erschienen. Ich wollte unbedingt mehr lernen. Ich verließ meine Band und kaufte ein One-Way-Ticket in die Schweiz. Ich fragte mich, wo ist der Ort, an dem ernsthaft mit Anthroposophie gearbeitet wird? Das Goetheanum schien ein guter Ausgangspunkt zu sein. Ich suchte hier eine philosophische Fakultät. Leider gab es so etwas nicht. Schließlich traf ich Zvi Szir, der gerade in Basel eine Kunstschule aufbaute. Er arbeitete mit der spirituellen Erfahrung des Denkens, während er zeitgenössische Philosophie studierte. Doch er lehrte Malerei, nicht Philosophie. Ehe ich mich versah, studierte ich in einer Malschule. Mein Vater, dessen erster Beruf Aquarellmaler war, war so überglücklich, dass er mir eine riesige Box mit Pinseln und allerlei anderen Malutensilien schickte. So studierte ich drei Jahre lang Malerei und Anthroposophie.

Stephen Gaskin hält seinen Montagabendkurs, Quelle unbekannt, CC

PT Hast du zu dieser Zeit bereits Marionettentheater gespielt?

NW Oh, das war einzigartig: Ich stellte meine Abschlussarbeiten in der Neuen Kunstschule in Basel aus und zeigte große Ölbilder. Thomas G. Meyer, ein bekannter Puppenspieler und ehemaliger Direktor der Blauen Blume, besuchte die Ausstellung und kaufte eines meiner Bilder. Es entstand eine tiefe Freundschaft und wir beschlossen, zusammen ein Projekt durchzuführen. Ich habe Kulissen für ihn entworfen und ein Jahr lang Marionetten gespielt. Wir machten eine kleine Tournee in der Schweiz und führten Auszüge aus Rudolf Steiners ‹Mysteriendramen› auf. Es war eine leidenschaftliche Beziehung gegenseitigen Interesses. Es war besser als Studieren.

PT Vier Jahre Europa waren genug?

NW Ja, etwas in mir sagte: «Ich möchte hier noch mehr machen», aber ich fand nicht heraus, wie. Ich traf mit meiner damaligen Frau die Entscheidung, zurück in die USA zu gehen. Sie hatte ein Kind aus einer früheren Beziehung und wir drei zogen mitten ins Nirgendwo in Tennessee. Wir verdienten unseren Lebensunterhalt mit Putzen. Zwei Jahre lang verbrachte ich die meiste Zeit mit Malen. In den USA fühlte ich mich wohler. Ich konnte günstig leben und mich auf die Kunst konzentrieren.

PT Wie bist du in New York gelandet?

NW Der Umzug in die USA war hart für uns beide. Wir lebten an einem wirklich abgelegenen Ort. Für den Weg zu unserem Haus brauchte man einen Allradantrieb. Wir trafen einige Leute an der Waldorfschule in Nashville, Tennessee, und ich begann zu unterrichten. Ich unterrichte sehr gerne an Waldorfschulen. Es ist ein Segen, dass ich in meinem Leben immer wieder Teil von Schulen war. Meine damalige Partnerin suchte jedoch weiter nach einem Ort, an dem sie Erfüllung in ihrer Arbeit finden konnte. Sie wollte in der frühkindlichen Bildung arbeiten. Das führte uns schließlich nach New York. Mir war es egal, wo ich war. Als Künstler hatte ich das Gefühl, überall sein zu können.

Links: Alles fliesst in den Missisipi. Flüsse Nordamerikas, Quelle: American Rivers
Rechts: Gebirge Nordamerikas (Appalachian Mountain Range und die Rocky Mountains), Quelle: BurningCompass

PT Kannst du mir etwas über das Projekt Free Columbia erzählen?

NW In New York hatte ich zunächst keine guten Aussichten auf einen Job. Die Waldorfschule hatte keine offenen Stellen. So kreierte ich freie Kunstprojekte, als Erstes eine Marionetteninszenierung des Schauspiels ‹Ödipus› von Sophokles, und tourte damit. Dann kam Laura Summer auf mich zu und fragte, ob ich ihr helfen würde, eine Kunstschule aufzubauen, die kontemplative Ansätze, inspiriert von der Anthroposophie, einbezieht. So begann Free Columbia. Wir begannen in ihrem Studio und wuchsen langsam.

Der Fokus lag anfangs auf bildender Kunst. Dann haben wir Disziplinen wie Gesellschaftstheorie und Schuhmacherei integriert. Wir hatten eine gute Beziehung zu einem nahe gelegenen goetheanistischen Forschungsinstitut. Das Nature Institute ermöglichte uns, Farbtheorie, Biologie und Evolution in den Lehrplan aufzunehmen. Das M. C.-Richards-Programm läuft jetzt unter einem neuen Direktor weiter, der den Fokus auf angewandte Künste verlagert hat. Ich machte auch zwischendurch ein paar Jahre Pause, um an der University of Albany politische Theorie zu studieren.

Free Columbia, Logo der Kunsthochschule

Zum Geistigen der Erde

PT Kannst du uns einen Einblick in deine Doktorarbeit in Politischer Theorie geben?

NW Ja. Heute finden die digitale Revolution und die ökologische Krise gleichzeitig statt – zwei Bewegungen, die in entgegengesetzte Richtungen gehen und einen perfekten Sturm erzeugen. In den letzten 400 Jahren hat sich in den Naturwissenschaften ein allmählicher Wandel von einem endlichen, bildlichen Weltverständnis hin zu einer abstrakteren Betrachtungsweise vollzogen.

Es ist ein interessantes Paradox, dass, obwohl man erwarten würde, dass die jahrhundertelange Beschäftigung mit der Natur uns eine intime, kontextbezogene und reiche Erfahrung unseres Planeten vermitteln würde, dies doch nicht der Fall ist. Unsere technisch-wissenschaftliche Kultur hat eine charakteristisch distanzierte und beherrschende Haltung gegenüber der natürlichen Welt. Dies zeigt sich ebenso in den techno-utopischen Bestrebungen des Transhumanismus wie in gutmeinenden Umweltwissenschaften, für die die Welt eine mathematische Matrix von Funktionen darstellt.

Hier sticht die goetheanistische Wissenschaft als spezifischer Zweig der Phänomenologie als Alternative, als kultureller Schatz wirklich hervor. Ich habe die Arbeit von Craig Holdrege, Adolf Portmann und Georg Maier aus den letzten 50 Jahren vorgestellt, die die Forschung in der Physik und Biologie in der Linie Goethes weiterentwickelten. Sie sind in der Lage, ein bildhaftes oder ästhetisches Urteilsvermögen zu einem erfahrungsgemäßen Verständnis der natürlichen Welt zu entwickeln. Wir finden bei ihnen, wie zu erwarten, dass der Empirismus, wenn er erfahrungstreu ist, uns tief und spezifisch in unseren irdischen Kontext verwurzelt.

Einer der eindringlichsten Punkte von Hannah Arendt ist, dass eine neue Wissenschaftskultur notwendig sei, aus der sich eine Liebe zur Welt entwickeln kann, die stark genug ist, um freiwillig Verantwortung übernehmen zu wollen. Das ist der Kern des letzten Kapitels ihres großartigen Werks ‹Vita activa oder Vom tätigen Leben›. Die Verbindung zu unserer endlichen Erfahrung auf der Erde hat ökologische Implikationen und unterstreicht die Bedeutung der Liebe-Verantwortungs-Dynamik in Politik und Politikgestaltung.

Malerei von Nathaniel Williams – Abschlussausstellung neueKUNSTschule, Basel 2002

In meiner Doktorarbeit1 fasse ich dies als demokratische Herausforderung auf. Wenn es uns nicht gelingt, unsere Kultur und unsere Wirtschaft so zu entwickeln, dass wir uns freiwillig und im Einklang mit den Bedingungen der Erde bewegen können, werden wir uns zunehmend in Ausnahmezuständen wiederfinden. Demokratie braucht eine Bevölkerung, die motiviert und bereit ist, zusammenzuarbeiten, sonst riskieren wir auf eine Krise zuzusteuern, die in einer Notsituation durch Kriegsrecht bis hin zur Diktatur führen kann.

Dieser Gedankengang knüpft an die Erforschung des Zusammenhangs zwischen ästhetischem Urteil und Politik an, eine Linie, die mit Friedrich Schillers ‹Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen› ins Leben gerufen wurde. – Ich formuliere, dass eine weit verbreitete naturwissenschaftliche, ästhetisch-empiristische Pädagogik gefragt ist, die in den Waldorfschulen wichtige Anfänge gemacht hat und unsere Marktplätze, Produktions- und Vertriebsorte und die gesamte Wirtschaft verändern kann. Ich glaube, dass mit den Ideen der assoziativen Ökonomie eine soziologische Wahrheit verbunden ist, die weltweit positive Auswirkungen haben kann.

Links: Das Stück ‹Claverack Calico› mit Teilnehmenden des M. C.-Richards-Programm über den Anti-Rent-Krieg (1839–1845) in New York, Februar 2022. Nathaniel Williams mit Banjo in der hinteren Reihe rechts.
Rechts: ‹Der Friedensstifter›, Jigonsaseh und Ayowotah gehen auf Reisen und verbreiten die Botschaft des Friedens, Foto: Fumie Ishii

Jugendbewegungen und Jugendsektion

PT Ich erinnere mich gerade daran, dass du von Pete Seeger, dem Volksmusiker, sehr inspiriert wurdest. Er spielte eine große Rolle in den Bewegungen der 1960er-Jahre. Wer sind inspirierende Persönlichkeiten, die du als Vorbilder für die Jugendsektion siehst?

NW Ja, Pete Seeger. Er ist definitiv eine Ikone für die Jugendsektion. Vor 120 Jahren, als die Anthroposophie gerade begann, erlebte Rudolf Steiner etwas Neues in der Spiritualität, das vorher nicht möglich war. Das erlebte auch eine Gruppe junger Menschen in Deutschland und Europa. Sie wurden Wandervögel genannt und waren wie Proto-Hippies. Sie gingen in die Natur, sangen, zelteten und machten tiefspirituelle Erfahrungen. Als Steiner die Jugendsektion gründete, tat er dies für diese Gruppe junger Menschen. Er erkannte die neue Spiritualität, die in Kraft trat. Und ich sehe denselben Geist in den gegenkulturellen Bewegungen der USA. Leider hat die Gegenkultur, ebenso wie die anthroposophische Bewegung, ihr volles Potenzial noch nicht erreicht. In Pete Seeger steckt diese menschenbejahende Kraft, und sein Banjo ist überwältigend. Er ist definitiv eine Ikone.

Auch Mary Caroline Richards ist eine Inspiration für mich. Sie starb 1999. Ihr kreativer Geist drückte sich in Poesie, Essays, Keramik und bildender Kunst aus. Sie war eine Person, die tief mit ihrer Zeit verbunden war, und von ihrer Biografie kann man viel lernen. Nachdem sie alle Hürden überwunden und die Spitze des akademischen Hindernisparcours erreicht hatte, entdeckte sie, dass es eine Täuschung war. Sie fühlte, dass sie die wichtigsten Dinge im Leben nicht wahrnahm. Sie bekam einen Lehrauftrag am berühmten Black Mountain College und eine radikale Transformation begann. Später veröffentlichte sie das in den 1960er-Jahren einflussreiche Buch ‹Centering› [Zentrierung]. Ihre Verbindung zum Werk von Rudolf Steiner und Karl König wurde für sie lebenswichtig und sie führte unzählige Menschen in Waldorfpädagogik, Biodynamik und Heilpädagogik ein. In ihr wütete ein heiliges Feuer. Sie ist eine Person, die den Zusammenhang zwischen der Gegenkulturbewegung, der New-Age-Bewegung und der Anthroposophie verstanden hat.

Links: Mary Caroline Richards, aus ihren Unterlagen, Foto: unbekannt/Getty Research Institute, CC BY-NC-SA 2.0
Rechts: M. C.-Richards-Program, Free Columbia, New York

Wir fangen gerade erst an

PT Was ist dein Zugang zur Anthroposophie?

NW In der nördlichen transatlantischen Zivilisation herrscht der Glaube vor, dass die Wahrheit nur passiv durch Beobachtung erfasst werden kann. Anthroposophie unterscheidet sich für mich dadurch, dass sie eine aktive Teilnahme erfordert. Sie ist eine Bewegung, die dem passiven Ansatz entgegengesetzt ist, und eines ihrer Kernmerkmale ist, dass man nur durch kreative Teilnahme in spirituelle Erfahrungen eintreten kann.

Diese Erfahrungen beschränken sich nicht auf das eigene innere Selbst oder Unterbewusstsein, sondern erstrecken sich auch auf die geistige Dimension anderer Lebewesen wie Pflanzen und Tiere. Dafür gibt es imaginative, kontemplative Praktiken.

Ich finde dieses Konzept wichtig, weil es unterstreicht, dass man durch innere Teilnahme und Aktivität in eine Erfahrung spiritueller Dimensionen über das eigene Selbst hinauswachsen kann. Durch die Teilnahme wird das eigene Bewusstsein intensiviert und man kann sich auf die Erfahrungen einlassen, ohne durch die Persönlichkeit begrenzt zu sein.

Hannah Arendt ‹The Human Condition›

PT In einem Satz?

NW Anthroposophie ist eine spirituelle Praxis, die es ermöglicht, die ganze Welt durch freie Teilnahme am Geist zu erfahren.

PT Du kamst 1999 zum ersten Mal ans Goetheanum. Was bedeutet es für dich?

NW Die Verbindung zum Goetheanum ist für mich nie erloschen. Es ist ein geistiges Ereignis, nicht nur ein physischer Ort. An meiner Verbindung dazu hatte ich nie Zweifel. Es ist ein großes Potenzial für die Zukunft der menschlichen Kultur. Wir fangen gerade erst an, damit zu arbeiten. Das Goetheanum stellt eine signifikante Frage für die anthroposophische Bewegung und die ganze Welt. Wir leben in einem radikalen Umbruch und es wird Generationen dauern, bis er vollbracht ist. Und ich habe den Eindruck, dass wir unsere Situation und unseren Impuls noch nicht vollständig erfasst haben.

PT Wie beeinflusst das deine Einstellung zur Leitung?

NW Ich möchte so viel wie möglich die spirituellen Aspekte in alles, was ich tue, einbringen. Die Dramatik der Situation ist offenkundig, und es ist existenziell, sich dessen in der Anthroposophischen Gesellschaft bewusst zu werden. Eine Herausforderung besteht darin, mehr und mehr Verbindung, Klarheit und Wohlwollen in Bezug auf die Bewegung und Initiativen auf der ganzen Welt zu fördern. Diese Herausforderung habe ich sowohl am Goetheanum als auch in der Gesellschaft in den USA erlebt. Es ist ein ernstes Problem, an dessen Lösung wir alle beteiligt sein müssen. Wenn wir das nicht erreichen, werden wir immer mehr Initiativen finden, die nicht in der Lage sind, eine authentische Verbindung zum Geist der Bewegung zu halten. Auf der anderen Seite droht die Anthroposophische Gesellschaft ihre dienende, liebevolle Verbindung zum Leben und zur Weltgesellschaft zu verlieren.

Ina may Gaskin ‹Spiritual midwifery› – ‹Spirituelle Geburtshilfe›

PT Worin siehst du derzeit das größte Potenzial des Goetheanum und der Anthroposophischen Gesellschaft?

NW Wir können – trotz aller Schwierigkeiten – auf der Einheit und Klarheit der Ziele aufbauen, die immer noch innerhalb der Gesellschaft und der größeren Gemeinschaft bestehen. Wir sind weiterhin mit Problemen wie Kampf, Fanatismus und Unreife konfrontiert. Es gibt den Geist der menschlichen Liebe, der als Schutzschild dient und die Werte und die spirituelle Realität der Menschheit schützt. Ich denke, es ist notwendig, mutig und authentisch über unsere Erfahrungen zu sprechen, damit die Anthroposophie wachsen kann. Diese Art von offenem und ehrlichem Gespräch, mit Liebe im Herzen, wird verhindern, dass die Gesellschaft nur als eine Sekte oder Religion angesehen wird. Wir wollen kontemplative Zugänge zum Geist entwickeln, die zu Einsicht und Verständnis führen, nicht zu Dogma und Glauben. Wenn wir uns dem liebevoll annähern, wird es Menschen wie Pete Seeger anziehen, der tatsächlich noch ein Camphill besuchte, bevor er starb, und die Besonderheit dieses Ortes erkannte.

PT Was ist dein Bild der Hochschule für Geisteswissenschaft?

NW Sie wird eine immer wichtigere Rolle bei der Förderung einer Kultur spielen, die hilft, Transformation und Lernen durch anthroposophische kontemplative Praktiken wie Meditation zu ermöglichen – nicht nur für die innere Entwicklung, sondern für alle Bereiche des praktischen Lebens. Dies geschieht bereits für viele Menschen. Aber es muss mehr in den Fokus rücken. Es sollte für die Menschen auch einfacher werden, ihre direkten Erfahrungen mit diesen Praktiken auf klare und bescheidene Weise zu teilen. Das ist die Arbeit der Sektionen, und es gibt große Forschungsfragen, vor denen wir gerade stehen, die sofortige Aufmerksamkeit erfordern. Ich denke zum Beispiel an den Zusammenhang von Drogen und Spiritualität oder die Veränderungen der menschlichen Konstitution seit der digitalen Revolution. Spiritualität heute erfordert, dass diese Erfahrungen zu Lerngelegenheiten innerhalb der Gemeinschaft werden.

PT Wie siehst du die Mission der Jugendsektion von hier aus?

NW Die Jugendsektion hat den Auftrag, jungen Menschen zwischen 14 und 35 Jahren Möglichkeiten zu schaffen, Zugänge zur Anthroposophie in diesen ganz verschiedenen Lebensabschnitten. Menschen in diesem Alter können wie Grashalme sein, die von der Sonne angestrahlt werden, und ihre Körper erscheinen irgendwie durchsichtig, sodass man ihre geistige Präsenz spüren kann. Hier ist eine besondere Sensibilität wichtig. Ihre Entscheidungen basieren oft auf unmittelbaren Erfahrungen und der Klarheit von Herz und Willen, anstatt auf einem konzeptionellen Verständnis der Anthroposophie.

Eine große Aufgabe sehe ich darin, Menschen in der ganzen Welt, die bereits mit Anthroposophie arbeiten, hier zu vernetzen, damit sie Lust bekommen, sich unserer Arbeit anzuschließen. Es geht darum, eine globale Kultur der Zusammenarbeit zu schaffen. Das ist eines der ersten Dinge, auf die ich mich dieses Jahr konzentrieren möchte.

PT Was können die Leute von dir erwarten, was ist dein Versprechen?

NW Ich denke, etwas vom Größten, was ich persönlich erlebt habe, ist, dass Spiritualität eng mit den Krisen im Leben verbunden ist. Von daher habe ich ein Gefühl der Dringlichkeit hinsichtlich der Bedeutung der Arbeit, die wir hier leisten. Und ich habe die Kraft der Versöhnung und Erlösung mehr als einmal in meinem Leben erfahren. Ich habe das Gefühl, dass ich mich dadurch in einer guten Position befinde, in dieser Zeitsituation mit Menschen in Kontakt zu treten.

PT Welche Art von Unterstützung brauchst du?

NW Freude ist eine der besten Formen der Unterstützung, die wir einander geben können. Ich möchte an einer Kultur mitschaffen, in der ich gerne an etwas arbeite, in der ich mit anderen Menschen in einen Raum komme und Freude verspüre, sie zu sehen. Zu wissen, dass wir ein offenes Herz und den Willen haben, etwas anzupacken.

PT Von wem wünschst du dir, dass sie oder er an deine Tür klopft?

NW Das ist eine gute Frage. Etwas, was ich besonders beobachtet habe, sind junge Menschen, die zu mir kommen und sagen: «Ich bin hier und ich möchte etwas tun – ich stehe auf der Erde, der Erscheinung eines Wesens, welches uns alle trägt.» Das sind mir die richtigen Menschen. Ich möchte mit ihnen zusammenarbeiten.

Ich habe ein besonderes Interesse an jungen Menschen, deren Worte die Oberfläche so erzittern lassen, als wären sie große Glocken, und bei denen das, was in ihnen schwingt, ihre Herzen und ihr Wollen in Überseinstimmung bringt, ebenso wie Ernst und Klarheit in ihrer Absicht gegenüber der Zeit, in der wir leben. Ich denke auch an junge Leute an den Universitäten, die versuchen, ihr Interesse an kontemplativen Forschungen und akademischen Programmen zu vereinen. Menschen, die einen Beruf und eine Berufung suchen, in die sie sich mit ihrer ganzen Persönlichkeit einbringen können.

Und ich suche nach Ressourcen, um bei den großen Übergängen zu helfen, die junge Menschen in der Beziehung zwischen Bewegung und Gesellschaft bewältigen müssen. Das könnte in den kommenden Jahren ziemlich wichtig sein, denn weltweit sind nur vier bis fünf Prozent der Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft unter 40 Jahre alt.

PT Danke für das Gespräch!

NW Danke für das Interesse!


Titelbild Nathaniel Williams. Foto: Xue Li

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Footnotes

  1. Nathaniel C. Williams, Aesthetic Education in the Anthropocene, State University of New York at Albany, ProQuest Dissertations Publishing 2020.

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