Berlin .(02.09.15) Taglich kommen neue Fluchtlinge in Berlin an. Zuerst mussen sie nach Moabit, um sich im LaGeSo registrieren zu lassen. Erst nach der Registrierung bekommen sie Hotelgutscheine oder werden in Fluchtlingsunterkunften untergebracht. Die Zustande auf dem Gelande des LaGeSo stehen seit Wochen in der Kritik. Die Menschen mussten bei hohen Temperaturen oder jetzt bei Regen im Freien ausharren. Mittlerweile helfen viele Berliner. Sie bringen Lebensmittel und Wasser. Einige spielen mit den Kindern oder machen Musik, um den Fluchtlinge die Wartezeit etwas Foto :Theo Heimann Abdruck nur gegen Honorar und Namensnennung Theo Heimann Dunckerstrasse 76 10437 Berlin tele:01774429353 mail:heimannfoto@yahoo.de Bankverbindung : Berliner Sparkasse Theodor Heimann Bankleitzahl: 100 500 00 Kontonummer: 4114626773 IBAN: DE80 1005 0000 4114 6267 73 BIC: BELADEBEXXXAbdruck nur gegen Honorar und

Architektur der Mütterlichkeit

Wir verstehen Mütterlichkeit gern als ein Phänomen der Mütter. An dem Bild einer geflüchteten Mutter wird mir klar, dass es sich um eine Kraft der Welt handelt, die in der Krise ist. Ein Kommentar.


Die Fotografie ist schon einige Jahre alt, aber als ich die ‹Flüchtlingsmadonna› von Theo Heimann (siehe rechts) vor Kurzem sah, war ich schlagartig berührt. Nicht nur, weil es tragisch ist, dass laut unhcr rund 79 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht sind, die Hälfte davon Frauen und Kinder. Die Bedingungen für Menschen auf der Flucht übersteigen alle schrecklichen Vorstellungen. Frauen und Kinder sind über das ohnehin Fürchterliche hinaus besonders stark Übergriffen, Ausbeutung und Formen sexualisierter Gewalt ausgesetzt – nicht nur in den Krisen- und Kriegsgebieten, aus denen sie fliehen, auf den Fluchtrouten, sondern auch in Europa, in den Auffanglagern, die ‹das Beste› sind, was wir – und damit meine ich die gesamte europäische Welt – für sie bereithalten.

Ich kann ganz schön in Wallung kommen, wenn ich daran denke. Aber aus dem Bild sprach mich vor allem die Haltung dieser Mutter an, die überzeitlich ist. Nicht umsonst bekam das Bild den Titel ‹Flüchtlingsmadonna›.

Man sieht eine Mutter mit ihrem sehr kleinen Kind, die einen Kosmos für sich bilden. Die empfängliche Haltung, die um das Kind herum entsteht, von außen durch eine Art Schleier umhüllt und gehalten, gibt die Hauptrichtungen des Bildes. Dass diese Schutzhülle golden ist, könnte fast romantisierend wirken. Aber konzentriere ich mich darauf, was hier durch Zufall als Bild entsteht, dann hebt gerade dieser goldene Mantel die Kraft hervor, die man Mütterlichkeit nennen könnte. Eine behütende und trotzdem durchlässige Grenze zu ziehen für das Innigliche, Durchwärmte.

Im Schneidersitz verschwinden die Glieder des Menschen fast ganz und bilden ein Dreieck, das von der Erde zum Himmel weist. Auch der Kopf senkt sich runter in die Brust und neigt sich dem zu, was im Zentrum dieser strahlenden Herzwelt lebt: dem Kind. Dadurch dehnt sich die Mitte dieses mütterlichen Wesens aus und erschafft eine Unendlichkeit in sich. Inmitten der Notdurft, auf einer Decke am Boden, im Freien, in der Kälte kann die Mütterlichkeit noch einen Raum bilden, der sich mit Lebenskräften füllt.

Foto: Theodor Heimann

Kultur ohne Mitte

Aufgrund dieses Bildes arbeite ich mich an der Frage ab, was Mütterlichkeit eigentlich ist. Sofort steigen Querverbindungen im Nachdenken auf: Väterlichkeit demgegenüber, Männlichkeit und Weiblichkeit als nahe Verwandte. Aber es geht mir nicht um eine Polarisierung oder Biologisierung; ich meine, die Mütterlichkeit ist eine Kraft der Welt, die in jedem Menschen west, unabhängig von Mutterschaft und Frausein und was auch immer diese heute bedeuten.

Das Phänomen ist die menschliche Mütterlichkeit, gegenüber deren völliger Hingabe und Verbindlichkeit die Außenwelt abprallt.

An diesem urmütterlichen Anblick der Geflüchteten wird mir auch deutlich, wie wenig Raum die Abendländer für die Mütterlichkeit übrig lassen. Wie auch? Ist unsere Kultur nicht eher wie ein Haufen Köpfe ohne Körper und Füße, die den Köpfen davonrennen? Die Mütterlichkeit lebt und erschafft aber eine Mitte. Sie ist vielleicht die eine Urkraft im Menschen, die den Menschen in seiner Mitte ergreift. Mütterlichkeit erzeugt aus der menschlichen Mitte den Raum im Raum. Ihr Bewusstsein richtet sich auf den Erhalt eines Innenraums, aber nicht für sich selbst allein, sondern für das andere, das nur in ihrem Inneren ausreifen kann, um überlebensfähig aus eigener Kraft zu werden. Dadurch tragen die mütterlichen Mitte-Kräfte ihren Teil zur Reifung der selbständigen Mitte ihres Keimlings bei.

Jedes Raumschaffen für Fremdes in mir und dieses Fremde zu behüten, ist ein Teil der Mütterlichkeit der Welt.

Der aufgehende Raum

Jedes Raumschaffen für Fremdes in mir und dieses Fremde zu behüten, ist so ein Teil der Mütterlichkeit der Welt. Die Väterlichkeit als damit verbundene Urkraft scheint mir ebenso aus der Mitte kommend, öffnet diese jedoch für die Welt außerhalb der Hülle. Sie erschafft mir eine Wahrnehmung der Umgebung und für die Wirksamkeit meines Wesens. So kann sich eine Mitte, ein Innen-wie-außen aus den beiden Urkräften, also eine Lebendigkeit entwickeln. Indem ich Hüllen bilde und mich hingebe, werde ich fähig, etwas, das ich nicht bin, in mir aufzunehmen und gedeihen zu lassen. Indem ich mich jenseits meiner Hüllen hingebe, werde ich fähig, etwas von mir, da, wo ich nicht bin, freizulassen und an andere zu geben. An dieser Stelle muss ich mich korrigieren und sagen: Mütterlichkeit und Väterlichkeit sind zwei zusammenhängende Erscheinungen (in jedem Menschen), die nur in ihrem Wechselspiel Sinn machen, und für beide gibt es aktuell wenig Öffentlichkeit.

Das Kind vor dem Herzen der ‹Flüchtlingsmadonna› ist der Mittelpunkt des Bildes. Die Mutter wird durch es zur Architektur; sie wird zum Haus ihres Kindes. Der Blick des Kindes geht hinaus und öffnet den Bau. Sein Blick zur Welt ist das Auge dieser Welt-in-sich. Dieses Anschauen durchleuchtet die Hülle und befragt die Welt. Für mich wirft der Blick auf diesem konkreten Bild die Frage nach der Mütterlichkeit der ganzen Welt auf. Nicht nur meine Mütterlichkeit fühle ich getroffen, sondern die Mütterlichkeit der Menschheit. Es ist Weihnachten 2020. Kann da etwas wachsen, das in der Hingabe an das Wohl des anderen Menschen, an sein Eigensein lebt?

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Gotteskind

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