Was ist ein Gefühl?

Rudolf Steiner kommt in seinem Werk ‹Die Philosophie der Freiheit›1 verschiedentlich auf das Fühlen oder das Gefühl als seelisches Ereignis zu sprechen. Zunächst grenzt er es im Kapitel III scharf vom tätigen Denken ab, das während seines Auftretens nicht beobachtbar ist. Er bestimmt das Fühlen zusammen mit anderen seelischen Tätigkeiten (wie Gedanken oder Vorstellungen haben, Wünsche und Begierden haben) als beobachtbar. Zugleich wird das Gefühl – im Kontrast zum universellen tätigen Denken – der menschlichen Persönlichkeit zugeordnet.


Das aktive Denken kann durch das Fühlen ein persönlich-individuelles Gepräge, eine eigene Stimmung erhalten; wie und wodurch mein Fühlen mein tätiges Denken begleitet, unterscheidet mich von anderen Menschen – wiederum im Kontrast zum Denken von reinen Ideen, das mich mit allen Menschen verbindet (V.18, S. 90). In einer Weiterführung dieses Gedankens kommt es im Kapitel VI, wo es um die seelische Konstitution des Menschen geht, zu einer ersten Präzisierung des Gefühls (VI.10, S. 108): «Wir begnügen uns aber nicht damit, die Wahrnehmung mit Hilfe des Denkens auf den Begriff zu beziehen, sondern wir beziehen sie auch auf unsere besondere Subjektivität, auf unser individuelles Ich. Der Ausdruck dieses individuellen Bezuges ist das Gefühl, das sich als Lust oder Unlust auslebt.»

Eine eigentliche Definition des Fühlens folgt im Kapitel VIII: «Das Fühlen ist ein rein individueller Akt, die Beziehung der Außenwelt auf unser Subjekt, insofern diese Beziehung ihren Ausdruck findet in einem bloß subjektiven Erleben.» (VIII.4, S. 140)

Hier kennzeichnet Rudolf Steiner das Fühlen in fortschreitender Eingrenzung und Abgrenzung von anderen seelischen und geistigen Tatsachen: Zunächst wird das Fühlen als Ereignis des Individuums charakterisiert, als etwas, das im oder am Individuum auftritt. Im Kontext des vorliegenden Kapitels bestimmt sich das personale Individuum (so wird dieses Wort hier gebraucht) durch das tätige Denken – das als universelles Erkenntnisinstrument mit diesem Individuum nichts zu tun hat – als Vorstellungen habend, fühlend und wollend.

Demzufolge ist der «individuelle Akt» keine Tätigkeit des Individuums, sondern ein bloß für dieses auftretendes Ereignis. Bis hierher könnte diese Definition auch auf das Gedankenhaben und auf das Haben von Wünschen, Begierden etc. angewendet werden. Nun aber folgt im nächsten Satzteil die Angabe einer Richtung, «die Beziehung der Außenwelt auf unser Subjekt». Dies könnte auch noch von Gedanken (im Kontrast zum aktiven Denken) gesagt werden: Das spontane Wissen, dass der Gegenstand vor mir eine Rose ist, sagt mehr über mich als Individuum im hier gemeinten Sinne – also über meine Sozialisierung und Erziehung, meine Gewohnheiten – aus als über die Rose. Nun ist aber hier mit Beziehung keine denkende oder gedankliche Beziehung gemeint, sondern eine unmittelbar erlebte, wie aus dem Rest des Satzes und aus dem folgenden Absatz hervorgeht: «Im Gefühl erlebt es [das Ich] einen Bezug der Objekte auf sein Subjekt; im Willen ist das Umgekehrte der Fall.»

Damit ist man spezifisch beim Fühlen angekommen, als einer individuellen, oder am Subjekt unmittelbar erlebten Beziehung der Außenwelt (wahrgenommener Gegenstand) auf mein Subjekt: Der Gegenstand erhält für mich einen seelischen Bezug oder Wert dadurch, dass ich an ihm etwas fühle.

Nun wird im letzten Teil des Satzes noch weiter präzisiert: Es geht nicht um irgendwelche Erlebnisse an der Außenwelt – etwa beim Sehen um Simultankontraste, farbige Schatten oder die sinnlich-sittliche Wirkung von Farben –, sondern um bloß subjektives Erleben. Um hier keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, muss man den letzten Satz des oben zitierten Absatzes 10 aus Kapitel VI hinzuziehen, wo ebenfalls die genannte Richtung charakterisiert wird, jedoch weiterführend ergänzt wird: «Der Ausdruck dieses individuellen Bezuges ist das Gefühl, das sich als Lust oder Unlust auslebt.»

Obwohl Steiner sonst das Definieren nicht besonders schätzt, wendet er hier diese Denktechnik an, um zu einer genaueren Bestimmung des Fühlens zu kommen. Natürlich beginnt er nicht mit dieser Definition, sondern führt die Lesenden und Mitdenkenden stufenweise immer näher an den Kern des Fühlens heran, bis er diesen endgültig herausschält.


Veranstaltung

‹Rudolf Steiner lesen und verstehen›. Studientagung der Sektion für Schöne Wissenschaften am Goetheanum, vom 1.–4. Mai 2025 mit Andre Bartoniczek, Anna-Katharina Dehmelt, Ariane Eichenberg, Volker Frankfurt, Eckart Förster, Christiane Haid, Jaap Sijmons und Renatus Ziegler.
Mehr Infos Sektion für Schöne Wissenschaften

Fußnoten

  1. Der Kapitelnummer (römische Ziffer) und der Abschnittsnummer (lateinische Ziffer) folgt die Seitenzahl der 17. Auflage. 2021, Rudolf-Steiner-Verlag (GA 4).

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