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100 Jahre Geschichtliche Symptomatologie

Vor hundert Jahren entwickelte Rudolf Steiner seine ‹Geschichtliche Symptomatologie› – ein Weg, um an der Erkenntnis der inneren Kräfte der menschlichen Geschichte zur Selbsterkenntnis aufzuwachen.

Zudem fragten wir die Historiker Johannes Kiersch und Andre Bartoniczek: Was hat Sie in den Vorträgen Rudolf Steiners zur geschichtlichen Symptomatologie beschäftigt oder inspiriert und wie hat es Ihre Anthroposophie geprägt?

Der Beitrag von Johannes Kiersch kann hier gelesen werden.

Der Beitrag von Andre Bartoniczek kann hier gelesen werden.


Was man landläufig als Geschichte betrachtet, eine Sammlung von Fakten und Ereignissen, die man in zeitlicher Abfolge gruppiert und daraus Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge konstruiert, bezeichnet Rudolf Steiner als eine «fable convenue». Die einzelnen Ereignisse sind, wie er 1917 in Zürich (1) entwickelt, nur Spuren eines toten Leibes, «gegenüber dem, was innerlich als geschichtliche Impulse von Zeitalter zu Zeitalter wallt und lebt, und was nur erfasst werden kann, wenn man den Blick nicht richtet auf die äußeren Tatsachen, sondern […] auf dasjenige, was lebt, was so lebt, dass es sich nicht ergeben kann aus den äußeren Tatsachen.» (2) Mit unserem gewöhnlichen Bewusstsein stoßen wir hier an eine Erkenntnisgrenze. Denn Geschichte verstehen bedeutet demnach, in die inneren Zusammenhänge über Zeiten und Räume hinweg einzutauchen und nicht nur das rein Faktische historischer Ereignisse begreifen zu wollen. Letztlich führt Rudolf Steiners Betrachtungsweise zu der Frage, was denn überhaupt die Substanz, der Gegenstand der Geschichte ist. Wir haben es nicht wie in der Geologie mit Gesteinsarten und Erdformationen zu tun, sondern mit Handlungen von Menschen, die bestimmte Wirkungen hervorgebracht haben, aus denen Geschichte entsteht. Es wurde z. B. ein Krieg begonnen, ein Kaiser gekrönt oder ein Politiker entmachtet usf. All diesen Handlungen liegen mehr oder weniger bewusste Absichten zugrunde, die Menschen realisiert haben. Hierdurch werden wir unmittelbar auf das menschliche Seelenleben hingeführt. Dieses gilt es zu erkennen, wenn wir Geschichte verstehen wollen. Zugleich erfordert dies, wie es Rudolf Steiner in seinen ‹Grundlinien einer Erkenntnistheorie der goetheschen Weltanschauung› beschreibt, Selbsterkenntnis und ein Selbsterfassen des menschlichen Geistes.

Selbsterkenntnis der Bewusstseinsseele im Erkennen der Geschichte

Geschichte ist so verstanden ein besonderes Mittel, durch das die Bewusstseinsseele zu einer Erkenntnis von sich selbst kommen kann. Wenn Rudolf Steiner 1917 in Zürich davon spricht, dass dasjenige, was den Verlauf der Geschichte vorwärtstreibt, die menschliche Seele nicht heller durchzieht als ein Traum, so wird die Notwendigkeit evident, diesen Traum durch die Entwicklung imaginativer und inspirativer Erkenntnis mit Bewusstsein zu durchdringen. Man kann Steiners Aufforderung zu solch einer Geschichtsbetrachtung mitten im Ersten Weltkrieg und dem Ausbruch der Russischen Revolution als einen Appell zum Erwachen verstehen. Nach 100 Jahren ist dieser Aufruf angesichts des wieder auflebenden Nationalismus, der Flüchtlingskrise und der Suche nach innerer Orientierung höchst aktuell. Hängt doch die Zukunft davon ab, was Menschen wachbewusst ergreifen und gestalten. Dies wird an dem Zyklus ‹Geschichtliche Symptomatologie› als Weiterführung und Konkretisierung der Gedanken von 1917 eindrucksvoll sichtbar.

Den Begriff der geschichtlichen Symptomatologie (3) prägt Rudolf Steiner in den in Dornach gehaltenen Vorträgen vom 18. Oktober bis 3. November – den letzten drei Wochen des Ersten Weltkrieges. Durch sie werden die geschichtlichen Ereignisse seit dem Beginn des von ihm so bezeichneten Bewusstseinsseelenzeitalters ab 1413 als Zusammenfügung herausragender Erscheinungen gruppiert und mit einem imaginativ-inspirativen Blick als Entwicklungsphänomene der Bewusstseinsseele in meisterhafter Weise gelesen: Vor diesem Hintergrund erscheint die Verlegung des Papstsitzes nach Avignon als eine Erschütterung des mittelalterlichen Universalimpulses, der Mittelpunkt, zu dem man sich in der Suche nach geistiger Orientierung wandte, war unbesetzt. Zu einem dramatischen Erwachen zu sich selbst, in dem Kampf mit einem gänzlich Fremden, führte das Herandrängen der Mongolen und Türken aus dem Osten. Sie erzwangen, dass für den Osten ein Bewusstsein gebildet werden musste. Ein weiteres Symptom war das Auftreten nationaler Impulse und die Bildung von Nationalstaaten im Westen, wodurch der römische Universalimpuls abgelöst wurde. Mit dem Aufkommen des Parlamentarismus in England zusammen lässt sich an all diesen Phänomenen eine Gemeinsamkeit ablesen: das Aufdämmern des Impulses der Persönlichkeit.

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Das Leben und Schaffen in einer toten Welt ist die Grundbedingung, für lebendig Geistiges zu erwachen und sich der übersinnlichen Welt zuzuwenden, durch sie lebensspendende Impulse zu erlangen.

Im dritten und vierten Vortrag werden als besondere Symptome des Bewusstseinsseelenzeitalters Widerstände beschrieben, an denen sich die Bewusstseinsseele als eine Gegenbewegung entwickelt. Das ist die Erfahrung des Todes im Äußeren. Dieser ist eine Folge des an der Naturwissenschaft herangebildeten Denkens des gegenwärtigen Menschen, ein Denken, das von sich aus steril ist und todbringende Wirkungen zeitigt, weil es keine Geistoffenheit mehr in sich hat. Es klingt zunächst paradox und den eigenen Sehnsüchten widersprechend, wenn Rudolf Steiner ausführt: «Man muss Freude haben am Arbeiten, indem man sich sagt: Was man in diesem Zeitalter an Äußerem erarbeiten kann, das erarbeitet man für den Tod und nicht für das Geborenwerden. – Und will man nicht für den Tod arbeiten, so kann man nicht im modernen Sinne arbeiten, denn man muss im modernen Zeitalter maschinenmäßig arbeiten.» (4) Das Leben und Schaffen in einer toten Welt ist die Grundbedingung, für lebendig Geistiges zu erwachen und sich der übersinnlichen Welt zuzuwenden, durch sie lebensspendende Impulse zu erlangen.

Interesse und liebevolles Befassen mit den Fehlern anderer

Das Gegenmittel ist hier beispielsweise im Sozialen statt eines unbewussten Lebens in Sympathien und Antipathien Positivität und ein unablässiges Interesse am anderen Menschen. Seine Fehler sind nicht dazu da, dass ich mich kritisierend über ihn erhebe, sondern dass ich mit naturwissenschaftlichem Interesse mich liebevoll in diese Fehler vertiefe und sie ohne Kritik wahrnehme – als Daseinsmöglichkeit. Dieses Interesse wird dazu führen, die tendenziell sich in die Einsamkeit einschließende Bewusstseinsseele wieder für die Welt und den anderen Menschen zu öffnen. Der Begegnung mit den Kräften des Todes, deren Wirkungen dem Menschen in der äußeren Welt entgegentreten, tritt eine weitere Herausforderung in der Erfahrung des Bösen im Inneren des Menschen entgegen. Das Böse wird hier nicht als eine von außen kommende Macht beschrieben, sondern als eine im Menschen liegende «Neigung zum Bösen», die in jedem als Möglichkeit vorhanden ist. Diese Möglichkeit schließt auch das größte Verbrechen mit ein. Rudolf Steiners Betrachtungen münden im fünften Vortrag in einen Übungsweg der Begegnung mit dem anderen Menschen. In der Begegnung mit dem Du liegt der Schlüssel und das Nadelöhr für die Entwicklung der Bewusstseinsseele. Was traditionell durch Gruppenzugehörigkeiten wie Stände, Klassen, Blutszusammenhänge, Berufsgruppen von außen geregelt wurde, hängt nun von der Fähigkeit ab, dem Seelisch-Geistigen im anderen Menschen begegnen zu können und auf diesem Wege eine neue Form von Gemeinschaft zu bilden. Insofern ist die Vortragsreihe auch 100 Jahre später noch eine aufrüttelnde und inspirierende Anregung, die Gegenwart zu ergreifen.


(1) Rudolf Steiner: Anthroposophie und Geschichtswissenschaft, in: Die Ergänzung heutiger Wissenschaften durch Anthroposophie, GA 73, Dornach 1987.
(2) Ebenda, S. 75. 3 Siehe dazu auch Christoph Lindenberg: Vom geistigen Ursprung der Gegenwart. Studien zur Bewusstseinsgeschichte Mitteleuropas, Stuttgart 1984 und Andre Bartoniczek: Imaginative Geschichtserkenntnis. Rudolf Steiner und die Erweiterung der Geschichtswissenschaft, Stuttgart 2009.
(4) Rudolf Steiner: Geschichtliche Symptomatologie, GA 185, Dornach 1982, S. 70.

Abbildung: Notizbuch Rudolf Steiners von 1918 mit Notizen zu den Vorträgen zu Geschichtlicher Symptomatologie, Rudolf Steiner Archiv, NB 67

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