Anthroposophische Medizin zwischen WHO-Pandemie­abkommen und dem Schritt in ihr zweites Jahrhundert

Die Corona-Zeit hat in einem bis dahin nicht gekannten Umfang eine Mischung von Medizin und Politik in das Bewusstsein aller gebracht. Sie schuf eine ungewöhnliche und für viele unangenehme Verbindung dieser beiden sehr unterschiedlichen Aspekte des Lebens. Jetzt, nach dieser Erfahrung, gibt es breite Bestrebungen, die weltweiten gesundheitspolitischen Strategien zu vereinheitlichen und Behandlungsprotokolle zu standardisieren. Andererseits zeigen sich in einer gegensätzlichen Geste – besonders in der Anthroposophischen Medizin und Gesellschaft – Bemühungen, die individuelle medizinische Entscheidungsfindung zu fördern und zu verteidigen. Wie können diese beiden Aspekte miteinander in Einklang gebracht werden und welche Rolle sollte die Anthroposophische Medizin in dieser Dynamik spielen?


In diesem Jahr ist es hundert Jahre her, dass Rudolf Steiner die Keime für viele anthroposophische Aktivitäten in der Welt gesät hat, mit Kursen für junge Ärzte, Eurythmistinnen, Landwirte, Heilpädagoginnen, Priester und andere. Wir befinden uns nun in einer Zeit, in der viele Menschen nach neuer Orientierung für diese anthroposophischen Tätigkeitsfelder fragen, um sie im 21. Jahrhundert weiterzuentwickeln. In gewisser Weise gehört das zu einem hundertjährigen Zyklus, aber das Geschehen wird auch von den kulturellen und politischen Fragen unserer Zeit beeinflusst. Dazu gehört das aktuelle Pandemieabkommen der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Der Artikel möchte einen Einblick gewähren in die laufenden Verhandlungen innerhalb der Weltgesundheitsorganisation (WHO) über ein vorgeschlagenes Pandemieabkommen (auch als Pandemievertrag bezeichnet).

Während die Arbeit an dem Pandemieabkommen viel Aufmerksamkeit erregt hat, laufen in der WHO zwei wichtige Prozesse parallel. In beiden werden Vorschläge vorbereitet, über die auf der Weltgesundheitsversammlung im Mai abgestimmt werden soll. Die Verhandlungen über das Pandemieabkommen begannen im Jahr 2022. Ein neuer Entwurf des Abkommens wurde Anfang März 2024 veröffentlicht und dient als Grundlage für diesen Artikel. Weniger sichtbar sind die Verhandlungen über eine Überarbeitung der Internationalen Gesundheitsvorschriften (IHR – International Health Regulations). Diese Verhandlungen sind noch im Gange und können online verfolgt werden, jedoch gibt es derzeit keine Entwürfe zur Einsichtnahme. Das letzte verfügbare Dokument ist die dritte Revision der IHR, die 2005 durchgeführt wurde.

Die Überarbeitung der IHR ist komplex, da 16 Länder mehr als 300 Änderungsvorschläge zu den IHR eingereicht haben.1 Diese Änderungsvorschläge betreffen eine Vielzahl von Themen und gehen manchmal in entgegengesetzte Richtungen; ein Überprüfungsausschuss der WHO hat die vorgeschlagenen Änderungen eingehend analysiert.2 Die nächste und letzte Sitzung dieser beiden Ausschüsse vor der Weltgesundheitsversammlung findet vom 22. bis 26. April 2024 statt.

Der Entwurf des Pandemieabkommens

Wir bieten hier einen Überblick und eine Bewertung an, empfehlen zugleich, sich den Text des Pandemieabkommens selbst anzusehen. Der letzte öffentlich zugängliche Textentwurf ist zu finden unter Revised draft of the negotiating text of the WHO Pandemic Agreement.

Ein zentraler Punkt des Pandemieabkommens ist die Frage, wie die Länder in Zukunft Erregerdaten (z. B. Virusproben) und andere damit verbundene Ressourcen auf gerechtere Weise gemeinsam nutzen können. Auslöser dafür war, dass die wirtschaftlich starken Länder während der Covid-19-Pandemie fast alle Impfstoffe für sich selbst aufkauften und sich den Forderungen widersetzten, wirtschaftlich weniger privilegierten Ländern die Erlaubnis zu erteilen, ihre eigenen, billigeren Kopien von Medikamenten und Impfstoffen herstellen zu lassen. Die in dieser Weise während der Coronapandemie aus ihrer Perspektive stark benachteiligten Länder mit geringem Bruttosozialprodukt wollen durch den neuen Pandemievertrag in Zukunft Garantien für den Zugang zu denselben diagnostischen und therapeutischen Optionen erhalten. Diese Überlegungen stehen hinter einem der Ziele des Pandemieabkommens, das «die Bedeutung der Förderung eines frühzeitigen, sicheren, transparenten und raschen Austauschs von Proben und genetischen Sequenzdaten von Krankheitserregern mit Pandemiepotenzial sowie die faire und gerechte Aufteilung der sich daraus ergebenden Vorteile unterstreicht» (Seite 2). Während die internationale Zusammenarbeit in diesem Prozess eine treibende Kraft in den Verhandlungen war, wurde die Verpflichtung der reichen Länder und der Industrie, Ressourcen und Technologien gemeinsam zu nutzen, stark abgeschwächt. In den Artikeln 9 bis 13 des Abkommens werden diese Aspekte am deutlichsten angesprochen.

Im aktuellen Entwurf ist im Vergleich zu dem im Oktober 2023 veröffentlichten auffallend, dass die Sprache offener, weniger verbindlich und auch weniger spezifisch geworden ist. Beispiele hierfür sind Formulierungen wie: «unter Berücksichtigung ihrer nationalen Gegebenheiten und Kapazitäten» oder «im Rahmen der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel und Ressourcen» (Artikel 6), oder «gegebenenfalls zusammenarbeiten» (Artikel 7). Dies kann aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden: Es wird die nationale Souveränität gewahrt und zugleich scheint offen und nicht vorhersehbar zu sein, was die Länder tun werden und wie sie bestimmte Leitlinien oder Abkommen auslegen.

Was ist sonst noch von Bedeutung in dem Abkommen?

Zwei weitere Änderungen in dem neuen Entwurf sind interessant: Zuvor war im Abschnitt ‹Verwendung von Begriffen› (Seiten 3–4) eine Definition für ‹Pandemie› sowie eine Definition für den neuen Begriff ‹Infodemie› enthalten. Die Streichung einer Definition für ‹Pandemie› könnte mit dieser Verlagerung hin zu einer offeneren Sprache zusammenhängen. Während eine genaue Definition des Begriffs ‹Pandemie› stark umstritten sein könnte, lässt ihr Fehlen nun wiederum Raum für Interpretationen. Auch der Begriff ‹Infodemie› wurde gestrichen, der zuvor als «zu viele Informationen, falsche oder irreführende Informationen […], die zu Verwirrung und gesundheitsschädlichem Risikoverhalten führen» definiert wurde. Dieses Element ist jedoch nicht völlig verschwunden, wie weiter unten in Bezug auf Artikel 18 erörtert wird.

Die Befürchtung, dass die WHO durch diesen Verhandlungsprozess zusätzliche Befugnisse erhalten wird, ist nach dem vorliegenden Entwurf wenig wahrscheinlich. So ist in der Pandemieverordnung auch nicht vorgesehen, zusätzliche Befugnisse für die Anordnung von Isolationen oder Zwangsimpfungen zu erteilen. Allerdings werden die gesundheitspolitischen «Vollstreckungsmaßnahmen» durch das IHR abgedeckt, sodass es sich lohnt, diesbezüglich die Überarbeitung der IHR aufmerksam und kritisch zu verfolgen. Wie bereits erwähnt, ist derzeit noch kein Entwurf der IHR-Revision öffentlich zugänglich. Einige allgemeine Informationen über den Überarbeitungsprozess der IHR finden sich unter: International health regulations amendments.

Es gab auch Fragen und Bedenken darüber, ob und wenn ja, wie das Pandemieabkommen die Souveränität der Länder verletzen könnte. Dieser Aspekt ist nur insofern enthalten, als die wirtschaftlich privilegierten Länder die wirtschaftlich schwächeren Länder unterstützen müssen. Dieser Aspekt des Abkommens ist allerdings stark abgeschwächt worden. Er bezieht sich auf die Bereitstellung von Impfstoffen und anderen pandemiebezogenen Materialien.

WHO Logo auf der WHO-Hauptquartiers in Genf, Schweiz, 2023

Anthroposophische Medizin und komplementäre Therapien (TCI)

Für die Anthroposophische Medizin und andere traditionelle und komplementäre Therapien ist es wichtig, das Pandemieabkommen gut im Auge zu behalten. Aus dem Dokument geht eindeutig hervor, dass die angestrebte Strategie der Pandemiebekämpfung ist, auf breiter Basis zu impfen. Entscheidungen über die Verabreichung von Impfungen, einschließlich möglicher Sanktionierungen, werden den jeweiligen Ländern überlassen. Die Tatsache, dass die Länder in der Vereinbarung ihre Souveränität behalten, bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass sie die Rechte ihrer Bürger und Bürgerinnen respektieren werden. Daher ist es das Gebot der Stunde, dass die gesellschaftlichen und politischen Anstrengungen für den Schutz individueller Entscheidungen, vor allem in Bezug auf Pflichtimpfungen, auch auf nationaler Ebene erfolgen müssen.

Ein weiterer Bereich, dem Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte, ist Artikel 18, in dem von «Kommunikation und öffentlichem Bewusstsein» die Rede ist. Auch dieser Passus ist offener und weniger greifbar geworden:

«Jede Vertragspartei fördert den rechtzeitigen Zugang zu glaubwürdigen und faktengestützten Informationen über Pandemien und ihre Ursachen, Auswirkungen und Triebkräfte mit dem Ziel, Fehlinformationen oder Desinformationen entgegenzuwirken und zu beseitigen, insbesondere durch Risikokommunikation und wirksame Einbeziehung der Bevölkerung.

  1. Die Vertragsparteien fördern und/oder führen gegebenenfalls Forschung durch und informieren über Faktoren, die die Einhaltung von Maßnahmen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Gesellschaft im Falle einer Pandemie behindern oder verstärken, sowie über das Vertrauen in die Wissenschaft und die Einrichtungen des öffentlichen Gesundheitswesens.
  2. Die Vertragsparteien fördern wissenschafts- und faktengestützte Ansätze für eine wirksame und rechtzeitige Risikobewertung und eine kulturell angemessene öffentliche Kommunikation und wenden diese an.
  3. Die Vertragsparteien tauschen Informationen aus und arbeiten im Einklang mit dem innerstaatlichen Recht zusammen, um Fehlinformationen und Desinformationen zu verhindern, und bemühen sich, bewährte Verfahren zu entwickeln, um die Genauigkeit und Zuverlässigkeit der Krisenkommunikation zu erhöhen.»

Was eine «Fehlinformation» ist, lässt sich sehr unterschiedlich auslegen und ist oft eine Frage der persönlichen Perspektive, der Erfahrung und auch des Interesses. Im Zeitalter digitaler und sozialer Medien können diese Aspekte noch verwirrender werden. Doch selbst mit diesem Verständnis sind die Empfehlungen in Artikel 18 eine besondere Herausforderung für die Anthroposophische Medizin und andere traditionelle, komplementäre oder integrative (TCI) medizinische Ansätze, die oft nicht in ein Standardbild von Wissenschaft oder Forschung passen. Medizinische Perspektiven, die über die allgemeinen Ansichten hinausgehen oder von ihnen abweichen, könnten dann diffamiert oder unterdrückt werden. Wie die letzten Jahre gezeigt haben, nehmen derartige Einschränkungen zu und richten sich oft gegen die Anthroposophische Medizin. Es ist deshalb weiterhin notwendig und wichtig, Wege zu finden, die anthroposophischen Perspektiven offen, klar und verständlich zu kommunizieren.

Das Pandemieabkommen in den Kontext stellen

Zwei Jahre Verhandlungen stehen nun kurz vor dem Abschluss, und sowohl das Pandemieabkommen als auch die vorgeschlagenen IHR-Revisionen werden der Weltgesundheitsversammlung zur Abstimmung vorgelegt. Artikel 18 des Pandemieabkommens gibt Anlass, vor dem Hintergrund eines freien Geisteslebens darüber nachzudenken, was unter freier Meinungsäußerung und Kommunikation zu verstehen ist, insbesondere, wenn die Gefahr besteht, dass die eigene Meinung als Fehlinformation eingestuft wird. Befürchtungen neuer Bestimmungen in Bezug auf neue Mandate, Befugnisse oder den Verlust der nationalen Souveränität haben sich mit dem aktuellen Entwurf nicht bestätigt. Die tatsächlichen Auswirkungen dieser allgemeinen Verhandlungen werden jedoch erst dann vollständig bekannt sein, wenn die vorgeschlagenen IHR-Überarbeitungen veröffentlicht werden. Deshalb lohnt es sich, diesen Prozess weiter zu beobachten.

Welche Orientierung brauchen wir im zweiten Jahrhundert anthroposophisch-medizinischer Tätigkeit? Medizinische Praxis und politische Interessen stehen auf absehbare Zeit weiter in spannungsvollem Verhältnis. Das macht die Lage vielschichtig und komplex. Es bedeutet, dass wir in der Anthroposophischen Medizin Engagierten die Fähigkeit entwickeln müssen, auf mehreren Ebenen zu beobachten, zu kommunizieren und zu handeln. Wir müssen uns darin üben, die Herausforderungen auf individueller, gemeinschaftlicher, nationaler und internationaler Ebene anzugehen.

Das mikro-, meso- und makrosoziale Gespräch

Auf der individuellen Ebene besteht die Möglichkeit für jeden Menschen, sein eigenes Verständnis zu finden und danach zu entscheiden, was für seine einzigartige Situation und seinen Schicksalsweg das Beste ist. Das ist ein wesentlicher Bestandteil des anthroposophischen freien Geisteslebens. Die Anthroposophische Medizin und die Medizinische Sektion setzen sich dafür ein und unterstützen dies.

Auf der Ebene der Gemeinschaft bedeutet dies, dass wir Formen der Kommunikation pflegen müssen, die viele Menschen informieren und unterstützen. Dazu gehört, zu verstehen und zu wertschätzen, dass es ein breites Spektrum von Ansichten und Erfahrungen gibt, auch innerhalb unserer anthroposophischen Bewegung. Wir sind gut beraten, diese Vielfalt anzuerkennen, so wie wir zwölf verschiedene Ansichten eines Baumes anerkennen, wenn man sich im Kreis um ihn stellt. Es ist kaum zu unterschätzen, wie wichtig es ist, im Gespräch zu bleiben.

Auf nationaler Ebene gibt es viele sich schnell verändernde politische Landschaften. Die aktuellen Vorschläge zur Abschaffung der Erstattung für homöopathische und anthroposophische Arzneimittel in Deutschland sind ein Beleg dafür. Auch in anderen Ländern wachsen die Herausforderungen. Bürgerbegehren, Basisinitiativen und professionelle Lobbyarbeit werden immer wichtiger. Wir sehen, dass auch die Bedürfnisse und Prioritäten der einzelnen Länder komplexer werden, denn in einigen Ländern erlebt die Anthroposophische Medizin ein wunderbares Wachstum, während sie in anderen Ländern so stark angegriffen wird, dass eine anthroposophische Praxis kaum möglich ist. Als medizinische Bewegung schrumpfen und expandieren wir, mit unterschiedlichem Bedarf von Unterstützung. Wir stellen fest, dass wir an vielen Orten aktiv sein müssen.

Auf internationaler Ebene ist es vielleicht am dringlichsten, unseren pflegend und therapeutisch Tätigen eine Stimme zu geben und dieser Gehör zu verschaffen. Die in der Anthroposophischen Medizin Tätigen sollten gute (und vielleicht neue) Wege finden, um zu erklären, warum diese Arbeit wichtig und wertvoll ist. Viele andere Stimmen sind schnell dabei, die Anthroposophische Medizin zu kategorisieren oder abzuurteilen – in der Regel sehr kritisch. Diese Stimmen dominieren, wenn die anthroposophischen Ärzte, Pharmazeutinnen und Therapeuten nicht anwesend sind oder aus dem Gespräch ausgeschlossen werden. Dieses spezifische Bedürfnis, das Bild von Gesundheit und Krankheit zu erweitern, wird auch von vielen anderen TCI-Gruppen geteilt. Die Unterstützung der Anthroposophischen Medizin durch die TCI-Organisation und die Mitgestaltung der TCI-Gesundheitserklärung aus anthroposophischer Perspektive ist ein Beispiel dafür, wie dies möglich ist. Diese Art von Aktivität erlaubt es, mit einer gemeinsamen Stimme für eine Medizin einzutreten, die «den ganzen Menschen in den Mittelpunkt stellt, einschließlich seiner körperlichen, geistigen, sozialen und spirituellen Dimensionen».

Rudolf Steiner sagte, dass Anthroposophen wach sein sollten für die «Zeichen der Zeit». Das fordert auf, im Bewusstsein zu wachsen und auf immer neue Weise zu handeln. Wir drei Verantwortliche der Medizinischen Sektion freuen uns auf eine solche Zusammenarbeit und die Gespräche, die solch gemeinsames Engagement aufbauen.

Von links nach rechts: Karin Michael, Marion Debus, Adam Blanning, Foto: Xue Li

Titelbild Außenansicht eines Teils des WHO-Hauptquartiers in Genf, Schweiz, 2023, Foto: WHO/Pierre Albouy

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Footnotes

  1. Proposed amendments to the International Health Regulations (2005) submitted in accordance with decision WHA75(9) (2022).
  2. Report of the Review Committee regarding amendments to the International Health Regulations (2005).

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