Wiederverkörperung und Karma als Entwicklungsidee

Die Idee der Reinkarnation gehört zum Kern anthroposophischen Denkens und ist mittlerweile die am meisten verbreitete Vorstellung, was nach dem Tod geschieht. In der Corona-Zeit wurde aus ihrer trivialen Deutung eine Speerspitze gegen Anthroposophie. Jens Heisterkamp hat dazu ein kleines Buch geschrieben und kondensiert hier seine Gedanken zu diesem sozialen und ganz persönlichen Thema des Lebens.


Als ‹transreligiöse Erfolgsidee› hat einmal der Religionswissenschaftler Helmut Obst Reinkarnation und Karma bezeichnet. In der Tat glauben heute weltweit mehr Menschen an Wiederverkörperung als an die Auferstehung Christi – selbst in westlichen Kirchenkreisen. In die Alltagskultur hat das Begriffspaar ebenfalls längst Einzug gehalten. So prangt beispielsweise auf den Recyclingmüllwagen der Stadtwerke Frankfurt in Riesenlettern der Schriftzug ‹Mehr Bio – höheres Karma›. Das ist zwar augenzwinkernd gemeint, aber dass eine Werbeagentur der Stadtbevölkerung zutraut, damit umzugehen, sagt auch so einiges. Und kürzlich erklärte sich in dem einfühlsamen Kinofilm ‹Past Lives› das Protagonistenpaar seine eigentümliche Anziehung dadurch, dass es schon viele gemeinsame Leben durchgemacht hatte. Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Entgegen solchen Phänomenen genießen Wiederverkörperung und Karma in anderen Kreisen eher einen schlechten Ruf. Karma gilt manch einem als irrationale Esoterik. Einige Kritiker verdächtigen Anhänger dieser Idee, sie würden unterstellen, dass Menschen selbst schuld seien, wenn sie ein Unglück trifft oder wenn sie krank werden. In Zeiten der Corona-Politik klebten aufklärerische Autorinnen wie Pia Lamberty deshalb der Karma-Idee sogar das Etikett ‹menschenverachtend› an (Lamberty/Nocun, ‹Gefährlicher Glaube›, 2022).

In beiden Richtungen, sowohl bei der Abwehr dieser Idee als auch bei ihrer naiven Popularisierung, zeigt sich indessen Klärungsbedarf: Karma im abendländischen Sinne ist nicht (mehr) die deterministisch geschlossene Kette von Ursache und Wirkung, die man damit in Asien verbunden hat. Sie ist aber auch keine Rundumerklärung, durch die sich alles, was uns begegnet, mit dem Ausruf «Das ist eben Karma!» erledigen ließe. Es wird öffentlich wenig differenziert, dass Wiederverkörperung und Schicksal im Abendland eine andere, freiere Prägung erfahren haben. Das zeigt schon das erste systematische Auftreten dieser Idee bei Lessing Ende des 18. Jahrhunderts und bei dem Philosophen Gideon Spicker (‹Lessings Weltanschauung›, 1883). Beide haben das Prinzip mehrfacher Erdenleben erstmals in einen Entwicklungskontext gestellt. Unsterblichkeit nicht mehr als ewige Verdammnis oder Seligkeit nach dem Tod, sondern als Entwicklung über das eine Leben hinaus. Für beide liegt das Ziel der Wiedergeburten nicht mehr – wie im Osten – im erhofften Ausstieg aus dem ‹Rad der Wiedergeburt›, sondern in einer fortschreitenden Persönlichkeitsreifung.

Erst recht gilt diese auf Individualisierung ausgerichtete Qualität für die Art, mit der Rudolf Steiner dieses Motiv aufgegriffen und weitergeführt hat. Sie ist Schlüssel zu seinem Menschenbild, aber auch eminente Erkenntnisaufgabe. Im modernen Sinn kann man an Reinkarnation gar nicht ‹glauben›, es ist keine einmal getroffene weltanschauliche Wahl. Mit Reinkarnation und Karma umzugehen bedeutet vielmehr, sich auf einen Weg einzulassen, der immer neu zu Annäherungen an das schlechthin Andere führt, das mit den Voraussetzungen des materiell-naturalistischen Weltbilds nicht zusammenpasst. Wichtiger als jedes etwaige Identifizieren konkreter früherer Inkarnationen ist der vollständige Wandel des konventionellen Wirklichkeitsverständnisses, der sich mit der Hinwendung zu Reinkarnation und Karma vollzieht. Wenn man Reinkarnation und Karma für möglich hält, geraten die Grundfesten des herrschenden Weltbildes ins Wanken.

Reinkarnation und Karma als Provokation

Es beginnt damit, dass es ein unsterbliches Subjekt gibt, das sich wiederverkörpert. Das scheint angesichts der naturwissenschaftlich als geklärt geltenden menschlichen Existenz eigentlich provokativ. Die Persönlichkeit als Produkt von sozialen Prägungen und Hirnströmen – wo ist da Platz für ein Weiterleben? Dass eine Existenz nach dem Tod etwas schlechthin Anderes berührt, merken wir indessen ganz deutlich, wenn wir das Sterben eines Menschen miterleben. Sobald der letzte Atemzug vergangen ist, steht die Radikalität der Begrenztheit des physischen Lebens vor Augen: Nichts mehr von dem Seelisch-Geistigen ist anwesend, das Aristoteles als die belebende Form des Körpers bezeichnete. Wo ist der eben noch anwesende Mensch hin? Ganz grundsätzlich: Wo sind die Toten? In welcher Art von ‹Welt› leben sie? Noch weiter gefragt: Wie genau leben sie nach dem Tode, wie füllen sie ihre Existenz? Keine an der physischen Wirklichkeit gebildete Vorstellung hilft uns hier weiter und wir tun gut daran, auf jegliche Bilder von einem nachtodlichen Leben und seinen Bedingungen zu verzichten. Halten wir aus, dass ein schlechthin anderes Verständnis der gesamten Wirklichkeit aus dies- und jenseitiger Welt nötig ist, um die Vor- und Nachgeburtlichkeit des Menschen denken zu können? Halten wir aus, wie wenig wir davon erst – trotz der erstaunlichen Mitteilungen Rudolf Steiners – wissen?

Eine zweite Provokation macht sich geltend im Nachdenken über die Art, wie so etwas wie Karma wirken muss, damit gelten kann, dass es ein universales Gesetz des Ausgleichs ist. Karma bedeutet nicht nur, dass es eine Dimension zwischen Tod und neuer Geburt gibt, in der wir als unsterbliche Individuen immer wieder aufgehoben sind, in der wir uns nach dem Tod weiterentwickeln, von Lasten befreien und uns auf neue Aufgaben vorbereiten. Diese Welt ist auch permanent mit der irdischen Realität verflochten, sodass Folgen aus Früherem und Ursachen für Künftiges veranlagt werden können. Das ‹Hier› und das ‹Dort›, das Diesseits und das Jenseits, sind keineswegs streng geschieden, vielleicht eher zwei Seiten einer umfassenderen Wirklichkeit. Wie geschieht es denn beispielsweise, dass eine sich wiederverkörpernde Geist-Seele zu einem Elternpaar findet, das es ihr erlaubt, den karmischen Weg weiterzugehen? Und dann die berühmten Synchronizitäten, die sogenannten Zufälle, die schicksalhaften Momente – bedarf es nicht auch da helfender Geister, die ‹von der anderen Seite aus› das Wirken von Karma unterstützen? Hier spielen auch die sogenannten Toten eine Rolle, die zur ganzen Wirklichkeit dazugehören, und zwar nicht nur, insofern wir an sie denken, sondern auch, insofern sie geistig real in unser tägliches Leben verflochten sind. Karma als Prinzip des moralischen Ausgleichs ist eine die Welt tragende Struktur, und wir sind existenziell in ihr Geflecht eingebunden, im ‹Jenseits› der Nach- und Vorbereitung unseres Lebens und im ‹Diesseits› mit seinen potenziellen Schicksalsmomenten – an jedem Tag.

Karma ist kein Uhrwerk

Aber: Diese Schicksalsfäden gehören zu keinem Marionettentheater und die Logik dieses Geflechts ist nicht die eines Uhrwerks. Ein wesentlicher Zug modernen Karmadenkens liegt darin, Karma nicht mehr als Gegensatz zur Freiheit, sondern, ganz im Gegenteil, als eine Konsequenz zu verstehen, wenn wir unsere Freiheit ernst nehmen. Alles, was eine Wirkung ist, hat eine Ursache – auch im menschlichen Leben. Mit den Folgen von Ursachen, die wir selbst in die Welt setzen, werden wir als verantwortliche Wesen konfrontiert. Solange man sich auf die eine biografische Existenz beschränkt, wird dieser Gedanke kaum Widerspruch auslösen: Wenn ich mich schlecht ernähre, hat das Folgen für meine Gesundheit. Wenn ich Menschen grob behandle, werden sie sich von mir abwenden. Bei Verfehlungen eines gewissen Grades tritt die irdische Gerichtsbarkeit auf den Plan.

Bei karmischen Zusammenhängen stellt sich die Lage komplexer dar. Denn den Ereignissen meines Lebens sehe ich es nicht ohne Weiteres an, wie und ob sie überhaupt mit Folgen aus früheren Leben zu tun haben. Was ist hier Wirkung, was ist Ursache? Und habe ich nicht auch die Möglichkeit, in jedem Moment frei auf die Dinge zu reagieren, die mir begegnen? Schicksal ist immer auch Gegenwart!

Leider hat unser Verstand eine starke Affinität zum mechanischen Denken. Wenn man so über Karma denkt, dann können tatsächlich Urteile entstehen, bei denen man die Ebenen vermischt: Dann ‹müssen› Opfer grundsätzlich an ihrem Leid ‹schuld› sein, weil Karma eben so ‹funktioniert›. Und manche sagen (oder denken) lieblos: «Du hast das alles ja selbst so gewollt, das ist eben Karma.» Das aber wäre nicht nur übergriffig, sondern bliebe auch ohne tiefere Wirklichkeit, weil sich solche Situationen von außen gar nicht beurteilen lassen. Für Gegnerschaft jedenfalls eine Steilvorlage.

Nicht vergangenheitsbezogen

Ein weiterer, wichtiger Aspekt in diesem Zusammenhang: Karmischer Ausgleich hat nichts mit ‹Strafe› zu tun, wie noch oft unterstellt wird. Allerdings wirken hier noch immer archaische Bilder in kollektiven Tiefen weiter. In populären Haltungen in Indien etwa kommt es durchaus vor, dass negative Lebensumstände als karmisch (selbst-)verursacht interpretiert werden, manchmal sogar von den Betroffenen selbst und zu ihrem Trost, weil das geduldige Tragen des Unglücks ein besseres künftiges Leben vorbereitet. In den abrahamitischen Religionen gibt es zwar kein Karmadenken, aber hier wurden Schicksalsschläge als Akte göttlicher Strafe gesehen, obwohl diese Erklärung eigentlich schon bei Hiob nicht funktionierte und es sich auch bei der ‹Heilung des Blindgeborenen› im Johannesevangelium als unrichtig erwies: Sowohl die Zeitgenossen des alttestamentlichen Patriarchen wie auch von Jesus konnten sich Unglück nur als Strafe Gottes erklären – und das wirkt bis nahe an unsere Gegenwart nach.

Bei Steiner findet sich indessen nirgends im Zusammenhang mit Karma die Kategorie der Strafe. Die Ausgleichsgeschehnisse sind viel subtiler. In den Vorträgen über die ‹Offenbarungen des Karma› von 1910 (GA 120) erzählt Steiner ein Beispiel: Eine Individualität gelangt in ihrem nachtodlichen Lebensrückblick an die Stelle, wo sie einen Menschen geschlagen hat. Dies aber veranlagt nun nicht etwa, im nächsten Leben selbst ‹zum Ausgleich› etwas Schlechtes erfahren zu müssen, sondern umgekehrt, der damals geschädigten anderen Individualität etwas Gutes zu tun. In anderem Zusammenhang spricht Steiner explizit von den ‹Guttaten› als Ausgleich in einem nächsten Leben (GA 155, S. 51).

Überhaupt erstaunt, wie viele Konstellationen Steiner schildert, wo ein Schicksalsereignis nichts mit Vergangenem zu tun hat, sondern mit der Vorbereitung von Zukunft. So charakterisiert er etwa im Vortrag vom 24. Oktober 1916 Unglücksfälle, die ein gewaltsames Lebensende zur Folge haben, nicht als ausgleichende Vorgänge aus Vergangenem, sondern als Gewinn an Ich-Kraft für eine zukünftige Verkörperung (GA 168, S. 129 f.).

Grundsätzlich mahnt Rudolf Steiner, es sich nicht zu leicht zu machen mit vermeintlichen karmischen Erklärungen, zum Beispiel, indem man den Schlag durch einen herabstürzenden Ziegelstein vorschnell als karmische Notwendigkeit erklärt: «Dies ist durchaus nicht notwendig. Im Leben eines jeden Menschen treten fortwährend Ereignisse auf, die mit seinem Verdienst oder seiner Schuld in der Vergangenheit durchaus nichts zu tun haben.» (GA 34, S. 362) «Karma ist das große Gesetz der Weltengerechtigkeit. Aber man darf Karma nicht fatalistisch verstehen», sagt Steiner. (GA 94, S. 148) Vor allem in Zusammenhang mit Krankheiten dürfe man nicht zwanghaft an Wirkungen aus Vergangenem denken (GA 224, S. 22). Das Gleiche gilt auch für angeborene körperliche und seelische Einschränkungen. Wer das berücksichtigt, beugt Missverständnissen und Ablehnung von Esoterik-Kritikern vor.

Fazit

Die Idee von Wiederverkörperung und Karma führt nicht nur zu einem neuen Blick auf unser Leben und unsere Beziehungen. Sie führt unweigerlich auch zu einem vollständigen Paradigmenwechsel unserer Sicht der Wirklichkeit. Jede noch so kleine Ahnung der Realität des Schicksalswirkens und das Weiterdenken seiner weltanschaulichen Implikationen bringt die Oberfläche des Materialismus zum Platzen wie der berühmte Keimling, der durch die Straßendecke stößt. So gesehen ist nichts so wirkungsvoll für die Überwindung des Materialismus wie die Idee von Reinkarnation und Karma. Eine Idee ist so alt wie die Menschheit – und doch noch ganz am Anfang, begriffen zu werden.


Zu den Bildern von Jochen Breme

‹Behütung›, Installation, plastische Objekte, Fotografien. Galerie «Kunst 77», Bonn, 2006. Studioaufnahmen und Ausstellungsansichten: Bernd Zöllner

Acht Personen jeweils vor einer großflächigen Membran aus Aluminiumfolie platziert. Aus dieser jeweils eine blütenartige Flächenfigur ausgeschnitten und durch Zusammenraffen und Stauchen des Materials zu einem barock anmutenden Hut geformt. In einem zweiten Formvorgang vier von den acht Hüten jeweils über einem Gipsabguss des Kopfes der jeweiligen Person wie über einem Amboss zu einer fragmentarischen Schädelform zusammengeschmiedet. Die vier Schädelformen auf Sockeln, die vier anderen Hüte auf den dazugehörigen Schädelambossen präsentiert. Die acht zurückgebliebenen Randstücke der Aluminiummembrane über Glasflaschen und über den Boden geschmiedet und das entstandene Konglomerat im Schaufenster der Galerie abgelegt. Den Studioaufnahmen, die diesen Prozess am Beispiel von vier Personen zeigen (Figur vor Silbergrund, Figur mit Hut, Figur mit Schädel), wurden Fotografien von den acht Personen mit Hüten gegenübergestellt, die im städtischen Alltag entstanden sind.

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Zum Weiterhören Podcast ‹Vom Leben›: Karma neu denken, Jens Heisterkamp im Gespräch mit Wolfgang Held.

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