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Vor der digitalen Sphinx: Waldorfpädagogik im Zeitalter der technischen Intelligenz.

Vor einhundert Jahren brach Mitteleuropa zusammen. Zugleich wurde eine Pädagogik begründet, die ein neues Paradigma praktisch realisieren will: Es soll damit Ernst gemacht werden, dass der Mensch ein seelisch-geistiges Wesen ist, das sich aus einem geistigen Bereich heraus in einem physischen Leib inkarniert. Den Pädagogen muss daher bewusst sein, dass sie mit ihrer Arbeit etwas fortsetzen, was schon lange vor der Geburt begonnen hat. Wie sieht diese Aufgabe heute im Zeitalter der digitalen Geräte aus?


Bei jeder Inkarnation kommen zwei gegensätzliche Prozesse zusammen. Das ist einerseits die gewordene technische Welt, die sich in einem jahrtausendelangen Prozess entwickelt hat. In jedem Smartphone, das in einer menschlichen Jackentasche sein Zuhause hat, sind Abermillionen von Stunden geronnen, in denen Ingenieure nachgedacht und experimentiert haben. Alles, was uns an gewordener Kultur, vor allem an Technik umgibt, ist geronnene Vergangenheit. In dieser Welt werden nun täglich rund 400 000 Kinder geboren. Mit jedem Kind kommt ein Neues in die Welt. Jede Geburt ist ein Neuanfang, ist reine Zukunft. In diesem Spannungsfeld von menschheitlich Gewordenem und individueller Zukunft haben die Pädagogen zu vermitteln.

Der selbstlose pädagogische Raum

Wie findet ein Kind die Umgebung, um sich gesund in das Gewordene der menschheitlichen Entwicklung hereinzuleben?

Wie urbildlich zeigt sich dies während des Heranwachsens im Mutterleib. Nach der Konzeption bildet sich im ersten und zweiten Monat eine funktionell omnipotente Hülle, innerhalb der der Embryo nur in einer ersten Anlage vorhanden ist. Innerhalb dieser schützenden und nährenden Hülle kann sich der werdende Leib des Kindes entwickeln. Das Hüllorgan übernimmt zuerst alle Funktionen, die der heranreifende Menschenleib noch nicht selbst vollziehen kann. Sobald er aber selbst in der Lage ist, eine Funktion auszuführen, beendet das Hüllorgan die entsprechende Tätigkeit. Am Ende geschieht dann eine Doppelgeburt: der entwickelte Keim und die abgestorbene Hülle.

Man kann dieses Hüllorgan als das Urbild des pädagogischen Raumes ansehen. Dieser schützt einerseits das Kind vor dem, was es noch nicht selbst bewältigen kann, nimmt sich aber andererseits gemäß der fortschreitenden Entwicklung des Kindes immer mehr zurück – er gibt Raum frei für die eigene Tätigkeit des Kindes. Dieser pädagogische Raum wird von Eltern und Pädagogen zusammen gebildet. Der selbstlose pädagogische Raum orientiert sich an der Entwicklung des Kindes, nichts geschieht zu früh, es wird aber auch nichts verspätet.

Das heutige Problem ist, dass diese Hülle gewissermaßen ‹Löcher› hat. Oftmals schützt sie zu wenig und ermöglicht aber auch nicht; man überlässt den Kindern zu früh Geräte, mit denen sie noch nicht wirklich umgehen können, gibt den Kindern und Jugendlichen aber auch zu wenig Möglichkeiten, digitale Technologien zu verstehen und handhaben zu lernen. Hier ist sowohl bei den Eltern als auch bei den Pädagogen Erklärungsarbeit zu leisten.

 


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Maschinen auf dem Weg zum Menschen

Mit der Verbesserung der Dampfmaschine durch James Watt im 18. Jahrhundert begann die Ära der Kraftmaschinen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts kamen der Elektromotor, der Zweitaktmotor, der Ottomotor und zuletzt der Dieselmotor hinzu. Alle Kraftmaschinen, die wir heute benutzen, sind damals erfunden worden. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstanden das Telefon, der Phonograph durch Thomas Alva Edison, wenig später das Grammophon und zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Radio. 1895 werden die ersten Filme der Öffentlichkeit vorgestellt. Um 1900 zogen also die Ton- und Bildmaschinen in die menschliche Kultur ein. In der Mitte des 20. Jahrhunderts kamen die Computer hinzu.

Mit der exponentiell wachsenden Leistungsfähigkeit der Computer nahmen alle Maschinen eine neue Signatur an. Um 1970 begann man in Japan mit Forschungsarbeiten, die untersuchten, ob maschinelles ‹Gehen› möglich ist. Diese Versuche waren erfolgreich. Heute gibt es weltweit Geräte – Roboter –, die problemlos Treppen hinauf- und hinab-‹gehen› können und sich in unwegsamem Gelände bewegen. So wie wir Menschen Fotografien von uns herstellen, so haben wir unser Gehen maschinell verdoppelt. Die ‹gehenden› Roboter sind gewissermaßen selbständig gewordene Abbildungen des menschlichen Ganges. Man kann das auch so formulieren: Bis 1970 wurden Kraftmaschinen von Menschen bedient, um schneller von einem Ort zum anderen zu kommen. Ab 1970 ‹gehen› die Geräte selbst zu einem anderen Ort.

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Maschinen werden mehr und mehr zu einer Art personalisiertem Gegenüber, zur Mit-Maschine, die sich anschickt, sich an die Stelle des Mit-Menschen zu setzen.

Als der Computerwissenschaftler Josef Weizenbaum 1966 ein Computerprogramm entwarf, das eine psychologische Fragetechnik simulierte, veränderte sich das Verhältnis des Menschen zu den Tonmaschinen. Bis 1966 sprachen Menschen durch Maschinen mit anderen Menschen (Telefon). Ab 1966 beginnen Menschen mit Maschinen zu sprechen, als wären sie ihresgleichen. Siri im iPhone, Cortana bei Windows 10 und Alexa von Amazon sind heute zu ‹Gesprächspartnern› des Menschen geworden.

Aber auch das Verhältnis des Menschen zu den Computern hat sich verändert. Bis in die 1960er-Jahre benutzten Menschen Rechenmaschinen, um etwas mit deren Hilfe schneller berechnen zu können. Mit den ersten Systemen künstlicher Intelligenz beginnt die Zeit, wo die Maschinen unabhängig vom Menschen rechnen. Künstliche Intelligenz (KI) erscheint dem Menschen wie ein ‹denkendes› Gegenüber. Ja, es dreht sich gar darum, dass KI beginnt, den Menschen zu berechnen und subtil zu steuern. Maschinen werden mehr und mehr zu einer Art personalisiertem Gegenüber, zur Mit-Maschine, die sich anschickt, sich an die Stelle des Mit-Menschen zu setzen.

Die digitale Sphinx

Im Herbst 2017 wurde auf einer Veranstaltung für Investoren in Saudi-Arabien ein Gerät mit weiblichem Aussehen vorgestellt. Der Apparat, dem man den Namen Sophia gab, verfügt über Spracherkennung und Sprachausgabe. Das von einem Hongkonger Unternehmen hergestellte Gerät wurde von einem Journalisten ‹interviewt›. Bei seinen Antworten zeigte der Apparat auch eine einfache Mimik und simple Gestik, die er passend präsentierte. Der Apparat erweckte unwillkürlich den Eindruck, dass man einer intelligenten Frau mit einer eigenen Persönlichkeit gegenübersteht. In diesem Interview fragt der Journalist: «Können Roboter selbstkritisch und bewusst sein und wissen, dass sie Roboter sind?» Das Gerät antwortete darauf mit einer Gegenfrage: «Gut, lassen Sie mich zurückfragen: Woher wissen Sie, dass Sie ein Mensch sind?»

Hier wird durch digitale Technik eine uralte, aber zentrale Frage der Menschheit neu gestellt. Diese Frage wurde zu allen Zeiten gestellt: in den Tempeln Ägyptens, von der Sphinx vor der Stadt Theben, sie stand über dem Eingang des Tempels zu Delphi. Die digitale Maschinenwelt stellt uns heute erneut die Frage nach dem Wesen des Menschen.

Frank Schirrmacher wies darauf hin, dass die ersten mechanischen Androiden des 18. Jahrhunderts nicht nur einfache Uhrwerke waren, sondern zugleich auch Weltbildfabriken, denn sie belehrten das Publikum, dass der Mensch nur eine Maschine sei. Die uns umgebenden, mit uns ‹sprechenden› und scheinbar für uns ‹denkenden› Geräte, wie Siri, Cortana und Alexa, sagen uns unausgesprochen: Du Mensch bist auch nur eine Maschine, so wie wir!

Im Zeitalter der intelligent werdenden Maschinen ist es daher von größter Bedeutung, dass sich Erzieher und Pädagogen bewusst werden, mit welchem Menschenbild sie Schule und Unterricht gestalten. Sie müssen sich ernsthaft mit der Frage beschäftigen, ob der Mensch bloß eine Maschine oder ob er ein geistiges Wesen ist, dessen Leib sein Werkzeug des Lebens ist? Das ist gegenwärtig eine verborgene, aber zentrale Frage aller Pädagogik: Aus welchem Menschenbild gestalten wir Schule? In den letzten Jahrzehnten ist das humanistische Menschenbild mehr und mehr verloren gegangen. Alle gegenwärtigen Reformen im Schulwesen haben im Hintergrund nur die Frage der ‹Employability›, die Frage nach der Verwertung des Gelernten auf dem Arbeitsmarkt.

‹Frei von› und ‹frei zu›

In seinen Maschinen setzt sich der Mensch gewissermaßen selbst nach außen. Die Geräte sind für ihn aktiv. Sie ersparen ihm eigene Aktivität. Der Mensch wird frei von monotoner Arbeit und hat dadurch prinzipiell die Zeit für anspruchsvollere Tätigkeiten. Die Geräte führen den Menschen aber auch in die Versuchung, bequem zu werden. Technik erspart dem Menschen eigene Aktivität. Der Mensch kann seine eigene Tätigkeit reduzieren. Dadurch steht er aber in der Gefahr, dass ihm die Fähigkeit zum eigenen Tun verloren geht, ebenso wie sich ein Muskel zurückbildet, der nicht betätigt wird.

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Das ist eine prinzipielle pädagogische Aufgabe der Zukunft, Kinder so zu erziehen, dass sie mit der durch die Maschinen gewonnenen Freiheit auch etwas anfangen können. Pädagogik muss eine Freiheits­pädagogik sein, eine Pädagogik, die zur ‹Freiheit zu› erzieht.

Aber was machen wir Menschen mit dieser gewonnenen Freiheit? Es ist eine prinzipielle pädagogische Aufgabe der Zukunft, Kinder so zu erziehen, dass sie mit der durch die Maschinen gewonnenen Freiheit auch etwas anfangen können. Pädagogik muss eine Freiheitspädagogik sein, eine Pädagogik, die zur ‹Freiheit zu› erzieht. Dafür brauchen Menschen Initiative, Ideenreichtum und Fantasie. Diese Grundfähigkeiten muss die Schule ausbilden helfen. Schule muss vor allem zur Bildung des Gefühls- und Willenslebens der jungen Menschen beitragen. Was Rudolf Steiner bei der Begründung der Waldorfschule den zukünftigen Lehrerinnen und Lehrern nahelegte, ist 100 Jahre später aktueller denn je: Es muss in der Zukunftserziehung und im Zukunftsunterricht auf die Willens- und Gemütsbildung ein ganz besonderer Wert gelegt werden.

 


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Indirekte und direkte Medienpädagogik

Wenn die Technik und mit ihr die technische Medienwelt dem Menschen Aktivität abnehmen und ihn dazu verführen, passiv zu sein, dann braucht es Orte, wo der freigesetzte Wille des Menschen herausgefordert und geübt werden kann – als ausgleichendes Gegengewicht. Pädagogik muss, wie Gernot Böhme einmal sagte, antizyklisch sein, sie hat das zu stärken, was die Kultur zwar braucht, was sie aber nicht selbst fördert und schult. Das bedeutet, dass in allen Fächern – beispielsweise beim Schreibenlernen – die Methodik so beschaffen sein muss, dass sie innere Aktivität herausfordert, nicht nur im kognitiven Bereich, sondern vor allem im leiblichen sowie im emotionalen Bereich.

Man kann diese Grundaufgabe aller Pädagogik als indirekte Technik- oder Medienpädagogik bezeichnen, die allem Unterrichten zugrunde liegt. Die indirekte Medienpädagogik hat als wesentliches Ziel, den Willen des Menschen auf allen Ebenen zu stärken. Davon ist zu unterscheiden eine direkte Medienpädagogik, die dafür sorgt, dass die jungen Menschen die Geräte, das Internet und die damit verbundenen Technologien verstehen und sinnvoll handhaben lernen.

Grundlinien einer entwicklungsbezogenen Medienpädagogik

Eine gesunde Pädagogik muss sich an der Entwicklung des Kindes – und nicht am Vorhandensein von Geräten – orientieren. Deshalb geht die indirekte Medienpädagogik der direkten voraus. Die indirekte Medienpädagogik schult die Fähigkeiten im Menschen, die er braucht, um dem realen Leben gewachsen zu sein. Die erste Entwicklungsaufgabe eines Kindes ist die Ausbildung und Beherrschung des eigenen Leibes. Der pädagogische Raum muss daher das Kind anregen, seine leiblichen Fähigkeiten gesund und allseitig zu entwickeln. Dazu gehört vor allem auch die gesunde Ausbildung der Sinne. Alles, was diese Entwicklung behindert, muss möglichst ausgeschlossen werden. Eine indirekte Medienerziehung sorgt deshalb dafür, dass bis zum 6., 7. Lebensjahr technische Ton- und Bildmedien keine beziehungsweise nur eine untergeordnete Rolle spielen. Der vorschulische Lebensraum ist idealerweise medienfrei. Er hat die Aufgabe, die Kinder zum vielfältigen Üben ihrer Willensstärke anzuregen und alles auszuschließen, was dieses Üben behindern könnte. Pointiert kann man sagen: Die spätere Medienmündigkeit wurzelt in einer frühen Medienabstinenz.

Es ist richtig, dass viele Kinder im häuslichen Umfeld schon früh mit Bildmedien umgehen. Daraus folgt aber nicht, dass die Schule nun auch Tablets einsetzen müsse. Im Gegenteil: Gerade weil viele Kinder mit diesen Apparaten bereits umgehen, müssen Kindergarten und Schulen vor allem darauf bedacht sein, Gegengewichte zu schaffen, das heißt, gerade das mit den Kindern verstärkt zu machen, was der häusliche Umgang mit den Geräten verhindert. Auch in den ersten Schuljahren hat die indirekte Medienpädagogik ein starkes Gewicht, doch beginnt mit dem Erlernen von Schreiben und Lesen bereits die direkte Medienpädagogik. Je älter ein Kind wird, desto mehr tritt die indirekte Medienpädagogik in den Hintergrund und die direkte Medienpädagogik in den Vordergrund. Dabei orientiert sich das Medien-Curriculum an der Entwicklung des Kindes. Dieser Grundgedanke ist in der folgenden Grafik veranschaulicht:

Erst real, dann analog, zuletzt digital

In den ersten Jahren ihres Lebens müssen Kinder in der aktiven Auseinandersetzung mit der realen Umwelt ihren Leib beherrschen lernen. Sobald sie in die Schule kommen, beginnt die direkte Medienpädagogik: Sie lernen jetzt Schreiben und Lesen usw. Die Schrift ist das erste analoge Medium der Menschheit, das seit Jahrtausenden ein Kulturträger war. Auch heute noch ist die gute Beherrschung der Schrift die unbedingte Voraussetzung für das kompetente Mitwirken in einer von Informationstechnologien getragenen Gesellschaft. Es ist für die ganze Biografie des Menschen von großer Bedeutung, dass er als Kind das analoge Medium Schrift gut beherrschen lernt. Überhaupt steht die Begegnung mit analogen Verfahren und deren zunehmende Beherrschung im Zentrum der ersten Schulzeit.

Spätestens wenn die Kinder etwa zwölf Jahre alt werden, ist es unerlässlich, dass sie die Möglichkeiten und auch die Gefahren des Internets kennenlernen. So wie sie vielleicht in der 4. Klasse einen ‹Fahrradführerschein› machen, so sollten sie mit zwölf Jahren auch eine Art ‹Internetführerschein› absolvieren. In den folgenden Jahren kommt es darauf an, dass Jugendliche den PC handhaben lernen, d. h. dass sie beispielsweise mit einem Textbearbeitungsprogramm geschickt arbeiten, eine Präsentationssoftware sinnvoll einsetzen können. Darüber hinaus sollten Jugendliche verstanden haben, wie ein Computer prinzipiell funktioniert, und auch erlebt haben, wie man ein Computerprogramm schreibt. Projektwochen, die im Laufe der Oberstufenzeit stattfinden können, geben die Möglichkeit, anhand eigener Praxis zu verstehen, wie Filme gemacht und wie Radio-Features produziert werden.

So wie man in der frühen Kindheit darauf achtet, dass Kinder das reale Leben mit allen Sinnen möglichst intensiv kennenlernen können, wie man in der ersten Schulzeit darauf achtet, dass die Kinder analoge Medien und Verfahren beherrschen lernen, so muss man in den oberen Klassen dafür Sorge tragen, dass die Jugendlichen die Prinzipien der digitalen Technologien verstanden haben und sie sinnvoll nutzen können.

 


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Wenn die Handschrift verschwindet

Im Zeitalter der digitalen Technologien stehen wir an einem Wendepunkt der Kultur. Dies wird an unserer Stellung zur Schrift besonders sichtbar. Alte Kulturen, die noch keine Schrift besaßen, lebten in der Sprache. Ihre mythischen Bilder bewahrten sie in der Erinnerung und gaben sie von Mund zu Ohr weiter. Diese Kulturen hatten eine kreisende Denkweise (Vilém Flusser). Als die Schrift entstand, zunächst als logografische, später als phonetische Schrift, begann das lineare, logische Denken. Denn die Schrift nötigt den Schreibenden, seine Gedanken in eine lineare Reihenfolge zu bringen. Man muss orthografische und grammatische Regeln beachten. Es ist kein Zufall, dass mit der phonetischen Schrift um 800 vor Christus zugleich die Philosophie der Antike entsteht. Die phonetische Schrift fordert eine andere Art des Denkens und damit eine andere Art des Bewusstseins.

Über mehr als zwei Jahrtausende war die Schrift Träger der Kultur. Seit etwa 70 Jahren hat sich das Schreiben verändert. Vilém Flusser machte darauf aufmerksam, dass Menschen nicht mehr nur an Menschen schreiben, sondern auch an Maschinen. Denn ein Computerprogramm ist nichts anderes als eine an die Maschine geschriebene Anweisung, die ihr vorschreibt, wie sie zu funktionieren habe. Mit dem Programmieren wird das Schreiben in seiner Logik noch strenger. Vor allem aber lösen sich die geschriebenen Programme von der Sprache wieder los und schließen sich sehr viel enger an das Denken an, so wie einst die logografischen Symbole.

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Das kommende Bildbewusstsein fordert, dass Menschen durch vielfältige praktische Übungen in bildender Kunst in Bildern denken lernen.

Zugleich hat für viele Menschen die Schrift immer weniger Bedeutung. Die weltweite Beliebtheit von YouTube ist ein deutliches Zeichen dafür, dass in der Menschheit eine neue Bildkultur am Horizont aufsteigt, eine Kultur, die Schrift kaum noch braucht. Mit der Bedeutungszunahme des Bildes geht die Bedeutung der Schrift zurück. Weitblickende Beobachter machten schon früh auf das mögliche Verschwinden der Handschrift aufmerksam. Bereits 1913, also noch vor dem Ersten Weltkrieg, wies Rudolf Steiner darauf hin, dass die Handschrift verschwinden wird: «Heute lernt der Mensch noch schreiben. In einer nicht sehr fernen Zukunft wird man sich nur noch daran erinnern, dass die Menschen in früheren Jahrhunderten geschrieben haben. Es wird eine Art der mechanischen Stenografie geben, die dazu noch auf der Maschine geschrieben werden wird. Mechanisierung des Lebens! Ich will sie nur andeuten durch das eine Symptom: Denken Sie sich die Höhe einer Kultur, in der man ausgraben wird die historische Wahrheit, dass einmal Menschen waren, die Handschriften gehabt haben, so wie wir ausgraben, was in den ägyptischen Tempeln gefunden wird. Handschriften wird man ausgraben wie wir die Denkmäler der Ägypter.» (GA 152, S. 84 f.)

Was Rudolf Steiner damals zu den vor ihm sitzenden Menschen sagte, konnte nur als eine fantastische Voraussage empfunden werden. Heute ist sie eine greifbare Tatsache. Es ist realistisch anzunehmen, dass im Jahr 2100 viele Menschen nicht mehr mit der Hand schreiben werden. Das Verschwinden der Handschrift wird auch das Bewusstsein der Menschen deutlich verändern.

Wir stehen gegenwärtig, historisch gesehen, vielleicht vor einem ähnlich radikalen Übergang wie damals um 3000 v. Chr., als die Menschen allmählich schreiben lernten. In der ägyptischen Zeit war der Übergang von einer Bildkultur hin zu einer Schriftkultur. Heute gehen wir von der Schriftkultur wieder zu einer Bildkultur zurück.

In einer Zeit, in der die Schrift ihre zentrale Stellung im Kulturleben zugunsten eines Bildbewusstseins zu verlieren beginnt, ist es wichtig, dass auch das Denken in Bildern praktisch geübt wird. Diese Ausbildung ist im Zeitalter der allgegenwärtigen Bilder mindestens so notwendig wie die Beherrschung der Schrift. Denn die Medienform ‹Bild› muss genauso gelesen werden wie eine Schrift. Kinder müssen im Laufe der Schulzeit immer besser verstehen lernen, wie Aussagen in Bildern zustande kommen und wie sie verstanden werden können.

Von diesem Gesichtspunkt aus gesehen, kann die gegenwärtige Aufgabe der Schule auch so charakterisiert werden:

• Das kommende Bildbewusstsein fordert, dass Menschen durch vielfältige praktische Übungen in bildender Kunst in Bildern denken lernen.

• Das ‹An die Maschine schreiben›-Können setzt die Fähigkeit voraus, algorithmisch zu denken. Auch das muss in der Schule gelernt werden.

• Mit dem Verschwinden der Schrift steht die Sprache wieder für sich: In der Schule muss vielfältig geübt werden, mit Sprache differenziert umzugehen.

Es kommt heute darauf an, den Unterricht aus dem vollen Spektrum der menschlichen Entwicklung heraus zu entwickeln, künstlerisch, dann analog bis zuletzt hin zum Digitalen. Kinder müssen lernen, in verschiedenen Denkformen zu leben. Das ist nicht weltfremd, sondern schafft ein erlebtes Verständnis des Menschen und seiner schöpferischen Möglichkeiten in einer sich rasch wandelnden digitalen Welt.


Der Artikel gibt den Vortrag von Edwin Hübner an den schweizerischen Weiterbildungstagen 2019, ‹Digitales Umfeld als Herausforderung für pädagogisches Handeln›, von Januar 2019 am Goetheanum wieder.

Edwin Hübner nimmt an der Kulturtagung ‹Das Ende des Menschen? II – Wege durch und aus dem Transhumanismus› teil. Die Tagung findet vom 18. bis 20. Oktober 2019 am Goetheanum statt.

Fotos: Tobin Meyer, auf der Florenz-Reise der 11. Klassen der Rudolf-Steiner-Schule Basel, 2014

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