Verwandlung durch Umwendung

Eine Ergänzung zum Bild von Fra Angelico ‹Noli me tangere› aus dem Kloster San Marco in Florenz (‹Goetheanum› 14-15/2023).


Das Bild entstand in einem Moment, als die Menschheit einen wichtigen kulturhistorischen Schritt tat, der sich darin äußerte, dass sich das Verhältnis zum Raum veränderte: Die Perspektive trat auf und der Goldgrund trat zurück. Fra Angelico stand als Künstler an dieser Schwelle, er begann, die Perspektive zu verwenden und die Landschaft aus dem Goldgrund zu lösen und ihr schon eine realistischere Form zu geben. Die beiden neuen Elemente verwendete er allerdings noch ganz im spirituellen Sinn: Der Fluchtpunkt der Perspektive verliert sich nicht irgendwo im Raum, sondern, wie in ‹Noli me tangere› zu sehen, führt zum Kehlkopf des Auferstandenen. Auch die Landschaft wird in ihrer Bildgestaltung ein Teil einer spirituellen Aussage: Die Felsen des Grabes bilden zusammen mit den Falten des Gewandes der Maria die Form einer Klammer (}), die uns wiederum zum Kehlkopf der Maria führt. Wir finden somit den Dialog zwischen der Gestalt des zunächst als Gärtner wahrgenommenen Christus und Maria, auch im Bild umgesetzt. Maria steht in Trauer am leeren Grab. In diesen Raum hinein spricht Christus sie mit ihrem Namen ‹Maria› an. Um Ihn wahrzunehmen, muss sie sich innerlich wenden, das heißt in den Grabesraum, der sich hinter ihr befindet, hineinlauschen. Erst in dieser inneren Wendung – wir können auch im wahrsten Sinne von einer ‹Bekehrung› sprechen – erkennt sie Ihn und vermag selber auszusprechen, um wen es sich handelt: ‹Rabbuni› (Meister).

In dem von Walter Schafarschik zitierten Text von Patrik Roth gibt es sogar vier Wendungen der Maria: Sie wendet sich, weil das Grab leer ist, zu den Jüngern, dann zurück ans Grab, wird von den Engeln angesprochen und wendet sich zum dritten Mal. Dabei ist sie vom Grab abgewandt und bemerkt Ihn gar nicht: Erst da spricht er sie an. Patrick Roth schreibt: Es ist das vierte und entscheidende Mal, dass sie sich wendet und in diesem Sich-Wenden: verwandelt wird.


Bild Fra Angelico, ‹Noli me tangere›, Fresko in einer Zelle des Klosters von San Marco (Florenz) um 1440

Print Friendly, PDF & Email

Letzte Kommentare