Schlupflöcher für die Engel

Eine Reportage von Gilda Bartel

Einblicke in eine kurze Reise, die andauert, zwischen Witten und Den Haag, zwischen Alltag und Innerlichkeit, in die Gefilde weltdurchdrungen, geistvoller Wirklichkeit.


In meinem von Hundehaaren und Schlammresten verdreckten Kofferraum liegt das 17. Mantram der Esoterischen Schule, eingehüllt in Filz. Es ist rund, misst 70 Zentimeter im Durchmesser und ist aus Kupfer. Und eigentlich ist es eine Sie! Es ist eine Schale. Ihre Erschafferin ist Sigrid Schenk. Sie nannte dieses Objekt ‹Hinterhauptresonanzblickschale› – ein Zungenbrecher die ersten Male. Und wir drei – die Schale, Sigrid und ich – sind auf dem Weg nach Den Haag.

Von Witten aus starten wir, und schon 40 Kilometer weiter, mitten im Kreuz zweier Autobahnen, steigt Qualm unter der Motorhaube auf. Er erweist sich recht schnell als Wasserdampf. Ich habe den Deckel des Kühlwasserbehälters nach dem Auffüllen nicht wieder draufgeschraubt. Einfach vergessen. Wir warten neben dem Strom vorbeirauschender Geschäftigkeit zwei Stunden auf den Abschleppdienst. Der nimmt uns dann in die proletarisch-solidarische Männerwelt des Ruhrpotts mit, wo wir innerhalb von 30 Minuten und ohne großes Pipapo, dafür mit umso mehr Willen zur Selbstwirksamkeit, einen neuen Deckel haben und weiterfahren können. Nach diesem Ausflug in die Erdensphäre, den wir wohl brauchten, um in der Wirklichkeit anzulangen, fühlen Sigrid und ich uns ein bisschen wie ‹religiöse Geheimagenten›. Uns wird plötzlich und durchaus etwas mulmig bewusst (vielleicht gerade, weil die Männer nichts davon wussten), welch kostbare Fracht wir geladen haben. Dieses ‹Werk› verrät etwas über den Zusammenhang zwischen uns und den geistigen Welten, bis in die höchsten Hierarchien hinein, wage ich zu verstehen. Oder ist es ein Instrument? Sigrid ist sich da auch nicht sicher. Sie schuf die Hinterhauptresonanzblickschale aus dem Leben und Umgang mit dem 17. Mantram. Ihren Verstand hat sie dafür bewusst nicht gebraucht. Und wir beide tasten ahnend eine Tatsachensphäre, die für die beherzten Werkstattmänner genauso gilt wie für uns und alle Menschen auf diesem Planeten. In unserem Rücken liegt also gut verschnürt etwas ziemlich Geheimnisvolles. Schwingt die ganze Zeit bereits etwas mit uns mit? Strahlt nicht schon längst und immer etwas von dieser und jener Welt ineinander? Und welchen Wert hat es, sich darüber gewahr zu werden?

Hinterhaupt

In Den Haag lebt Martje Brandsma. Sie war die letzten Jahre im Goetheanum-Eurythmie-Ensemble tätig und bildet jetzt in Leiden Studierende der Eurythmie aus. Sie stand im Mai in Basel das erste Mal vor der Schale, als Sigrid sie im Unternehmen Mitte im Zusammenhang mit einer Mantrenwerkstatt gezeigt hatte. Und sofort tat Martje völlig selbstverständlich, was Sigrid, die ebenfalls Eurythmistin ist, im Werken der Schale tat: in den Raum hinter sich, den Raum in unserem Rücken, eintauchen und von dort aus wahrnehmen und schaffen. Dieser ‹Dunkelraum› in Martjes Rückseite begann direkt zu resonieren. Sigrid wiederum nahm das unmittelbar wahr und beschloss, Martje die Schale für die Arbeit mit ihren Studierenden zu schenken. Ich für meinen Teil fand es eine Reise und Erkundung wert, dieses Objekt mit dem unklaren Namen, der so viel öffnet, was sonst verschlossen liegt oder schwer besprechbar ist, nach Holland zu bewegen.

Den Haag ist die Stadt des Friedens und des Rechts. Der Europäische Gerichtshof ahndet hier Völkermorde, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Tatsächlich kommt uns die Stadt sehr friedlich vor. Licht und Meereswind strömen hier anders durch die Wohnungen, als wir es aus Deutschland kennen. Es herrscht ein anderes Verhältnis von privat und öffentlich. Zum Abendessen bei Martje, zwischen West- und Ostfensterfront, steht die Schale mit auf dem Tisch. Sie strahlt eine Wärme aus, die merklich fehlt, wenn sie mit einem Tuch abgedeckt ist. Diesen Versuch machen wir einmal bewusst. Unerwartet kalt wird es dann. Auch ein bisschen, als wäre ein Leben entzogen. Ich spüre zwar noch nicht, was das mit meinem Hinterhaupt oder meiner Resonanzfähigkeit zu tun hat, zumindest aber fehlt mir die wirksame, geheimnisvolle und bewegliche Schönheit dieses Objekts, die mit uns lebt wie eine reale Tatsache, wenn sie entschleiert ist. Martje hat die Schale sechs Monate nicht gesehen, und erlebt und vollzieht dasselbe wie damals. Etwas beginnt in ihrem Rücken zu brummen, etwas wird aktiviert, was sich nicht aus dem Oberstübchenbewusstsein speist. Wir fragen uns, ob diese Wirkung auch eintreten würde, wenn die Hinterhauptresonanzblickschale in einem Museum stünde und ein nicht eurythmisch geschulter Körper ihr begegnet. Würden alle Menschen irgendwann beginnen, etwas zu spüren? Sigi und Martje sind sich sicher: Ja. Es ist eine Frage des Sich-Einlassens, denke ich. Zumindest jedoch spricht die denkbare Möglichkeit von einem menschlichen Wesenszug.

Resonanz

Am nächsten Morgen lesen wir die 17. Klassenstunde und das dazugehörende Mantram. Die Schale steht nach wie vor auf dem Tisch. Wenn mein Blick sie streift, habe ich den Eindruck, von dort strömt Licht aus, aber nicht wie bei einer Lampe. Es erscheint wie ‹versubstanzialisiertes› Licht, als hätte es sich einen anfänglichen Körper geschaffen, als hätte sich Licht verflüssigt. Vielleicht verleiht die Wärme des Kupfers den Lichtspiegelungen in der Schale diese Substanz. Wärme hat mit Schaffen zu tun, aus Wärmeprozessen entstehen die Dinge. Es ist ein perlmuttartiges, rötlich goldenes, kräftiges und doch zartes Glanzspiel, was den Raum bescheint, aber wie von innen. Als würde Licht zu Raum werden. Als stamme dieses Licht nicht aus der ‹Erscheinungswelt›, obwohl das physikalisch natürlich Quatsch ist. Beziehungsweise in der Tat kann ich in diesen seltsamen Lichterscheinungen nachvollziehen, dass es ein ‹substanzbildendes› Tun gibt, was aus ‹Dunkelräumen› stammt. Die sind nicht Finsternisse, sondern nur Unsichtbarkeiten.

Tageslicht, ‹Lichtsubstanz› und Wortsubstanz mischen sich in unseren Vormittag und unsere Aufmerksamkeit hinein. Am Ende des Lesens sind wir lange sprachlos, in geborgener Stille. In der letzten Stunde ist etwas geschehen. Und das ist groß. Zu groß für Hasenherzen und Unberührbare. Dieses Geschehen findet in verschiedenen Ebenen oder Bewusstseinsreichen zugleich statt. Wir lesen die vor 100 Jahren gesprochenen Worte und den daran anschließenden Versuch, Wirkzusammenhänge zwischen Himmel und Erde in eine Sprache zu bringen, die wie poetische Esoterik ist, wenn es so etwas überhaupt gibt. Zugleich scheint sich etwas davon je in dem direkten und unmittelbaren Moment zu vollziehen, beziehungsweise scheint in unserem Bewusstsein als Tätigkeit aufzutauchen, wenn wir wirklich offen in den ‹Mantrenwelten› zu leben beginnen. Also vollziehen auch wir etwas. Etwas gehört zusammen, was sich im Nichtsichtbaren vollzieht. «Bei der Schale habe ich das Erlebnis von unmittelbarer Gleichzeitigkeit, in dem gewohnten, vertrauten, physisch-sinnlichen Raum zu sein, mich also ganz in dieser Gewohnheit zu bewegen, und trotzdem geht dieser andere Raum auf, wenn ich mich mit der Schale in Beziehung setze», sagt Sigrid. Also ist die Schale doch ein Instrument? Und sind die Mantren auch ein Instrument? Bringen auch sie etwas miteinander in Resonanz, wenn wir mit ihnen arbeiten? In Martje lebt nach dem Lesen eine große Dankbarkeit. «Ja, ich bin ein ganz kleiner Mensch mit all meinen Fehlern. Aber dass ich überhaupt bin, ist eine Folge der Wirkung der hierarchischen Wesenheiten. Und das ist jeden Moment so. Ich fühle mich dankbar und ganz glücklich von innen.» Ja, etwas vom verloren gegangenen Himmel verbindet sich wieder zurück. Genau das löst auch, zumindest bei mir, die Erschütterung aus.

Resonanzblick

Mir ist manchmal noch schleierhaft, was die beiden Eurythmistinnen in und an der Schale durch ihre Körperwahrnehmung spüren. Es dauert lange, bis ich ein ‹Gedankengefühl› dazu bekomme. Ich komme mir auch ziemlich stumpf dabei vor. Ja, da lebt im Unsichtbaren meines hinteren Raumes etwas Schaffendes. Es liegt jenseits und wirkt doch durch sein Tun ins Diesseits. Und von da aus webt es in mir, mit mir und mit meinem Leben auf der Erde. Neulich hörte ich den Begriff ‹vertikaler Horizont›. Irgendetwas klingt in dieser Richtung. Aber eigentlich ist es fast diagonal. Ich versuche, meinem eigenen ‹Logos-Bau› gemäß, mir selbst ein Tor zu öffnen. Aber ich verstehe nicht, von wo aus mein Blick schaut, wenn ich auf die Hinterhauptresonanzblickschale schaue. Es ist, als müsste ich mit einem anderen Bewusstsein blicken lernen – von jenseits der Schale, die mal ein Regenbogen war, durch den ich schon getreten bin. Dieses Blicken ist wissend, denn es hat sich erkannt. Martje erlebt es so, dass der hintere Raum (hinter Kopf, Schultern, Rücken und Beinen) ganz warm wird und groß, wie ein naher Himmel, der anfängt zu resonieren und im Resonieren den ganzen Leib ergreifen möchte. «Das Gefühl, an den Himmel angeschlossen tätig werden zu können, stellt sich ein. Dieser Resonanzraum fängt beim Blicken in die Schale an zu wirken, zu tragen und zu impulsieren. Gleichzeitig entsteht eine Präsenz im Umraum und in der Gestalt, und dazu eine warme Ruhe im Herzen.»

Blickschale

Ebenfalls in einer Schale landen auf der anderen Seite der Wirklichkeit unsere Gedanken, erzählt das 17. Mantram. Und die Hierarchien machen etwas damit. Meine Gedanken werden von geistigen Wesen verdaut, umgewandelt, belebt, erfüllt und wieder in meine Willenswelten und ‹ich› wollend in die Welt gewirkt. Es fließt von hier nach da und von da nach hier und baut miteinander an Wirklichkeit. Das bedeutet eine große Verantwortlichkeit. Es ist überhaupt nicht unerheblich und erst recht nicht irrelevant, was und wie ich über Menschen, Welt, Tiere, Zusammenhänge, Geister, Kunst oder das Sein denke. Und ich bin frei darin, zu entscheiden, wie ich blicken will. «Meine Dankbarkeit und die gefühlte Schönheit sind vor allem, dass ich mich durch die Klassenstunden erinnern darf, wie ich konstituiert bin, dass ich meine Konstitution erkennen kann. Und ich bin froh, dass meine Biografie dafür gesorgt hat, dass ich einen Zugang dazu habe. Wie mit der Verantwortung umzugehen ist, ein tägliches Suchen. Es gibt in mir diese sanfte Stimme, die die Verantwortung versteht, und dann gibt es mein suchendes Wesen, das es nicht wirklich versteht. In diesem Paradox stehe ich. Wie bewusst kann ich das jetzt greifen und gestalten? Ich möchte danach streben, aber ich bin nur eine Übende», sagt Martje.

Sigrid findet, in dieser Bewegung zwischen den Welten liegt auch eine unendliche Gnade und etwas Tröstliches. «Das sind unsere toten Gedanken, die in dieser Schale landen. Aber die Engel verlebendigen sie. Dann strömen sie als Liebe durch die Welt. Die ganze Welt ist durchlichtet von Sonne und Sternen. Immer strömt Liebe, diese Seinskraft dort herein, und daraus wird die Welt gebildet. Also die Substanz unserer Welt sind unsere durch die Hierarchien vergeistigten Gedanken. Wir sind im Kreislauf mit ihnen. Ich kann dann irgendwann nicht mehr unterscheiden und merke, ich habe die Sonne, das Lichtstrahlende schon in meinem Blick. Und ist es jetzt mein Kopf, mein Hinterhaupt oder ist es das Himmelszelt? Es erscheint mir beides gleichzeitig. Ich bin es und es ist es. Kennt ihr das? Kann also der Anlage nach auch in mir dieser Prozess stattfinden, dass vielleicht aus meinem Blick wie aus der Sonne diese Qualität kommen kann, die dann wirklich Welt …?» Sigi stockt. Ja, sie wollte fragen, ob unser Blicken dann eigentlich auch Welt bauen kann. Immer wieder geraten wir ins Stocken. Es ist eine Unglaublichkeit, die zu glauben vielleicht nur gewagt werden kann.

Wir brauchen eine Pause, einen Coffee to go, ein Cookie, einen Spaziergang am Strand und frische, ‹selbst gebaute› Luft! Eigentlich könnte jede von uns auch schweigend spazieren. Mit weichen Schritten gehen wir auf weichem Sand. Die Muscheln, angespült an der Schwelle zwischen Meer und Erde, sind nur eine der Schönheitsgerinnungen der Welt.

Hinterhauptresonanz

Sigrid hatte damals im Mai bei der Präsentation geplant, einen Satz auf einem kleinen Zettel zur Schale zu stellen: ‹… und der Himmel wird mir zum Antlitz›. Die Menschen hätten ganz nahe an die Schale treten müssen, um das Kleingedruckte zu lesen, und mit diesem Satz rückwärts in die Betrachtung gehen können. Aber das ging unter. Allerdings stammt ihre Arbeit an der Schale von dieser Erfahrung. Die Schale ist in diesem Zusammenhang kein Blasinstrument und auch kein Klanginstrument, sondern ein Blickinstrument. «Wenn ich da hineingehe und es mit meinem Hinterhaupt in Verbindung setze, passiert es, dass die Schale selbst blickend wird, also auch der ganze hintere Raum. Das Einzige, was ich machen muss, ist, den Blick zu richten und Resonanz herzustellen», meint Sigrid später. Wird mein Blick dann zum Tor? Es ist für mich immer noch sehr mysteriös, bleibt vielleicht und zum Glück immer ein Geheimnis, dessen Schleier immer wieder gelüftet werden kann. Ich stehe an einer Schwelle, vor allem der Formulierbarkeit. All mein Vorstellen muss zurücktreten und einer anderen Art von Wahrnehmung weichen. Ich ahne Umstülpungen und die Potenz von Ahnungen. Hat mein Geist es verstanden? Hat meine Seele etwas begriffen? Hat mein Leib etwas erlebt? Es ist etwas in Resonanz gebracht. Nun fühle ich mich selbst wie das Instrument, das ich stimmen lernen muss, um die Klänge und Spielarten des vereinten Orchesters zu vernehmen, jene webenden Klänge, an deren Schaffen wir beteiligt sind. Wie zittert meine Lippe, die zum Lächeln sich bewegen will, wenn das Lächeln sich für dieses eine Jetzt ins Ich begibt!

Zu Hause

Mein Auto hat zwei Tage irgendwo in Den Haag gestanden und wir laufen am Morgen durch den Stadtwald, bevor wir uns wieder auf den Weg machen. Eigentlich wollten wir noch mal den Kühlwasserstand prüfen, aber das haben wir schon wieder vergessen. Ein bisschen Unsicherheit ist wohl immer dabei. Sie ist ein Schlupfloch für ‹Gestaltungen›, von denen wir noch nicht wissen können. Und tatsächlich, der Weg nach Hause verläuft ohne Komplikationen. In Witten lasse ich Sigrid raus und fahre noch weiter gen Osten. Unsere Reise hat ein Kreuz geschlagen. Weimar, Witten, Den Haag, Weimar als Horizontalachse in Menschenform. Witten, Basel, Witten, und dann mit neuer Richtung nach Den Haag als Vertikal/Diagonalachse in Schalenform. Der Kreuzschenkel von Witten aus zum Nordstern liegt im Nichtsichtbaren. Er war womöglich das Einfallstor zu Sigrids Werken der Schale. Das ist eine Metapher für die Umfänglichkeit, die ich empfinde.

Wie nun gehe, laufe, handle ich mit diesen Erfahrungen und Fragen in meiner ‹normalen› Alltagswelt, in der ich eine konkrete Biografie habe? Sigrid fühlt, da, wo wir waren, liegt ihr eigentliches Wesen. «Und dann bin ich plötzlich einfach wieder hier im so, wie es jetzt ist und wie unsere Zeit ist und wie die ganzen Vorstellungen, Gedanken, Bilder sind, die uns als Menschheitswesen tief in den Knochen stecken. Ich erlebe das immer als so einen langen Weg. Aber ich glaube, es ist möglich, diese zwei Zustände, diese zwei Seiten so zu verbinden, dass das eine in das andere hineinfließen kann.»

Im späteren Austausch über ‹Reisearten› mit den Mantren taucht bei einer Freundin eine Sehnsucht auf: «Ich möchte es ins Leben hineinlieben.» Hat sie mit diesem Empfinden das Blickinstrument schon genutzt, auch wenn sie nicht davorstand? Wir sind nicht ohnmächtig. Und ich frage mich: Kann es dann überhaupt passieren, dass bei wahrhaftem Ansinnen, Lieben, Verstehenwollen etwas anderes als eine Wohltat herauskommt, wenn wir in einem Kreis mit den Geistern sind? Ich tue die Wohltat für die Welt.

Gilda Bartel


«Nur eine blaue Karte als Stütze»1

Hilde Domin hat das schon sehr klar gesehen. Unsere Stützen sind dünn, biegsam, pieksig, gebrechlich, auch mal abgestoßen trotz einer Schutzhülle. Trotzdem gebrauchen wir sie und wähnen uns sicher, sicherer als ohne sie. Wir tun so, als wären sie aus fester Erdmaterie, verlässlich und gut, fast mütterlich und Geborgenheit schenkend. Und dann die Entdeckung: Wie zart und sogar zerbrechlich das alles ist: alles das, worauf wir uns verlassen haben. Wohl verstanden: Wir haben uns verlassen … auf etwas. Wenn ich mich aber verlasse, und wer täte das nicht von Zeit zu Zeit, dann laufe ich Gefahr, verlassen zu werden. Also doch keine Geborgenheit? … Deutlicher geht es kaum noch.

… Die blaue Karte, die uns stützt(e)? Sie ist ohnehin immer da, sogar wenn wir sie vergessen haben, dann, wenn wir selbst – in uns – den Raum der Ernsthaftigkeit betreten. Ich betrete den Raum der Ernsthaftigkeit. Wir laden uns gegenseitig ein, den ganz bestimmten Raum – in uns – zu betreten. Wenn es ruhig wird in uns, dann plötzlich können wir sie wie ein Zeichen gewahr werden, als übersinnliches Ereignis ist sie da, und ich halte sie vor mich hin und zeige sie mir selbst, indem ich mich erinnere: Ich bin Mensch auf dem Weg, bin mit anderen auf dem Weg und wir zeigen uns einander und wir zeigen uns uns selbst. Wir schenken uns gegenseitig Präsenz und Spiegel und Gespräch und wir sind uns gegenseitig die alles entscheidende Erinnerung an das Mensch-Werden.

Ob es eine gelingende oder nicht gelingende Begegnung ist, bleibt sich gleich, alles ist in jedem Falle Erinnerung an unser Mensch-Werden. Denn: Was heißt schon gelingen? Geht es denn immer um das Glück? Aber doch: Im glücklichen Fall wäre die blaue Karte in uns, indem wir uns erlauben, den Raum im richtigen Moment mutig zu betreten. Zeichen für Präsenz, Spiegel und Gespräch. Nicht in der Natur, aber am Menschen auf dem Weg, in der Stadt, in der Bahnhofstraße, hinter dem Autohof, in der Lounge am Flughafen. Eben da, wo ich mich öffnen will, aber auch verschließen kann.

Christian Schikarski


Fotografien von Enno Schmidt während der Präsentation der Schale bei einer Mantrenwerkstatt im Mai 2024 im Unternehmen Mitte, Basel. Fotos von der Reise und die Zeichnung von Gilda Bartel.

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Footnotes

  1. bezogen auf das Gedicht von Hilde Domin ‹Nur eine Rose als Stütze›. ‹Blaue Karte›: Die Mitgliedskarte in der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft ist in blauer Farbe.
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