Der Königsweg zur Anthroposophie ist die Phänomenologie.
Wenn man sich aus der Perspektive der Philosophie der Anthroposophie Rudolf Steiners nähern möchte, kann man sein Verfahren als ein phänomenologisches auffassen. In einer Phänomenologie werden in einer weitestgehend theorie- und hypothesenfreien, ‹unbefangenen› Weise die Dinge, so wie sie sich zeigen, betrachtet, beschrieben und klassifiziert, das heißt nach ihren wesentlichen Merkmalen bestimmt. Nun geht es in der Anthroposophie freilich nicht um irgendwelche Phänomene, sondern, zumindest nach dem Aufriss, den Steiner 1910 in ‹Anthroposophie. Ein Fragment› (G 45) gibt, um die Phänomene des Geistigen, wie sie im und am Menschen in Erscheinung treten.
Man kann unterschiedliche Formen von phänomenologischer Beschreibung (des Geistigen) unterscheiden. Zum Beispiel eine goethische, eine brentano-husserlsche und eine hegelsche Form. Steiner hat unter diesen Formen phänomenologischen Denkens integrative Stellung. Wobei er zur Phänomenologie oder zur ‹deskriptiven Psychologie› Brentanos schrieb, dass sie bis ‹zur Pforte der Anthroposophie gelangt› (in: ‹Von Seelenrätseln›, GA 21, S. 97). Steiners integrativ-phänomenologische Grundhaltung wird im Textfragment zur ‹Anthroposophie› (GA 45) deutlich.
Hierfür ist es wichtig, zu sehen, dass das Textfragment und die zugeordneten weiteren Fragmente eine Anthroposophie im engeren Sinne bringen, welche erst zusammen mit einer Psycho- und einer Pneumatosophie die Anthroposophie im weiteren Sinne bildet. Diese Anthroposophie im weiteren Sinne fungiert wiederum als Zwischen-, ja Verbindungsglied zwischen Anthropologie und Theosophie. (Zusammen mit der Theosophie bildet die Anthroposophie im weiteren Sinne dann die Anthroposophie im weitesten Sinne, die Erkenntnis des Geistigen im Kosmos überhaupt.)
Die eigentliche Geist-Phänomenologie dagegen hat in der Psycho- und der Pneumatosophie ihren genuinen Ort, wo dementsprechend auch die Auseinandersetzung mit Brentano und dessen Klassifikation der seelischen Phänomene stattfindet (wie gut an den Vorträgen GA 115 zu sehen ist). Die im Fragment ‹Anthroposophie› phänomenologisch erschlossenen Sinneserfahrungen, an denen das Icherlebnis sich entzündet, bilden also den bzw. einen neuen Ausgangspunkt für die schon in der ‹Philosophie der Freiheit› von 1894 und der ‹Theosophie› von 1904 inaugurierte Geist-Phänomenologie.