Nach oben fallen

Schwerkraft ist das Gesetz der Erde. Es ist das Gesetz der Verwirklichung und der Last. Menschen, die ihr verletztes Sein behutsam tragen können, verwandeln die Schwere in Gnade.


Heute Morgen früh auf dem Weg zum Bahnhof – Ort der Offenbarung –, sah ich einige afrikanische Männer, die bei Tagesanbruch am Strassenrand still schweigend warteten, bis sie zum Obstpflücken abgeholt wurden. Sofort wand ich den Blick auf die andere Seite. Weil ich in mir nicht genügend Kraft zur Barmherzigkeit finden konnte. Weil ich von ihrer so offenbaren Verletzlichkeit selbst verwundet wurde und nicht imstande war, diese Wunde zu tragen. Ihre Wunde. Nicht meine.

Viele Menschen erleben die heutige Weltlage aus sehr verschiedenen Gründen als eine ‹schwere› Zeit. Vieles drückt und lastet. Bis zu einem Ausmaß, dass die Kräfte zum Tragen nicht mehr ausreichen. Es scheint immer weniger zu geben, das uns trägt. Fast als ob die Schwerkraft zugenommen hätte. In solchen Momenten offenbart sich die Verletzlichkeit unseres Menschseins. Sie offenbart sich genau dort, wo wir am verletzlichsten sind, da, wo es einen lebendigen Zusammenhang gibt. Es ist der Zusammenhang aller Lebewesen, welcher die potenzielle Grundlage unserer Geschichte auf Erden bildet. Eine Geschichte, die es nur gibt, wenn wir sie miteinander in diesem Sinne teilen können. Ein lebendiger Zusammenhang ist kein vorgegebener oder vorgebildeter Zusammenhang, in dem die Spielarten der Verbindung auferlegt wurden. Es ist kein System. Zusammenhang wird gestiftet. Immer aufs Neue, in jedem Moment. Es geht um eine Tat. Nur ein Einzelner kann aus sich Zusammenhang stiften; nur durch seine Tat kann es weitergehen.

Wenn dieser lebendige Zusammenhang sich nicht mehr offenbaren kann, sei es als bewirkende Idee, sei es als Möglichkeit einer Tat oder beides, stehen wir heute vor einem Problem. Die ungeheure Komplexität, die sich in den verschiedenen, miteinander wetteifernden Krisenbereichen manifestiert, widerstrebt der Offenbarung eines lebendigen Zusammenhangs. Nicht wegen des Zusammenhangs, sondern wegen des Lebendigen.

Angst verbreitet sich aus einer existenziellen Not, dem Bedürfnis nach Macht und dem Drang, diese Komplexität zu lösen oder wenigstens zu entwirren. Selbstverteidigung, sich schützen, abgrenzen sind alles Strategien, um die Kontrolle über das Eigene und seine Eigentümer zu erhalten oder wiederzugewinnen.

Daran kann ein lebendiger Zusammenhang zerbrechen. Er zerfällt in Einzelstücke, zerschlägt sich in einer sich immer weiter ausdehnenden Vervielfältigung. Aus ihm wird ein Universum von vernetzten Abstraktionen. An diesem zerbrechen viele Menschen. An diesem zerbricht das Menschsein in uns.

Ohne den lebendigen Zusammenhang findet man sich in der Kälte einer anonymen Gleichgültigkeit wieder. Einer leeren Schale, die keine Innerlichkeit aufweisen kann, nur glatte Oberfläche. Es ist der Ort der größten Verletzlichkeit. Und zugleich der Ort, wo es offenbar wird, dass nur da, wo wir verletzlich sind, die Menschlichkeit in jedem von uns wieder aufstehen kann.

Johannes Nilo, ‹Membran›, 2020, 46×56,5 cm, Öl und Bienenwachs auf Leinwand.

Im Anfang der Schöpfungskraft

Das Leben, von dem hier als ‹lebendiger Zusammenhang› die Rede ist, wird von Rudolf Steiner als ein schöpferisches Prinzip dargestellt. Prinzip heißt: dasjenige, was aus sich eine Dynamik, einen Prozess in Bewegung setzen kann, welcher sich im Lauf der Zeit verwirklicht. In einem Vortrag über den Manichäismus beschreibt Steiner das Prinzip des Lebens unmittelbar zusammen mit dem Prinzip der Form.1 Zwei Prinzipien, aus deren ständiger Wechselwirkung durch die Zeit hindurch Neues hervorgebracht werden kann. Das Neue erscheint nicht auf einmal, es ist keine endgültige Form, aber nimmt in dem Zeitverlauf eine sich ständig wechselnde Gestalt an, eine Zeitgestalt. Was sich durchzieht, ist die Wechselwirkung zwischen den beiden. Auf der einen Seite ist das Prinzip des Lebens wirksam. Es enthält in sich die Möglichkeit, Form anzunehmen. Dieses Potenzial trägt in sich die Intention, Gestalt anzunehmen. Dazu bedarf das Prinzip des Lebens der Wirksamkeit des Prinzips der Form. Beide sind in gleichem Maß schöpferisch, obwohl ihre Wirkung entgegengesetzt ist. Die Form hält die aus sich ausströmende schöpferische Potenz des Lebens auf, begrenzt sie und bietet ihr den notwendigen Widerstand. Erst wenn beide sich begegnen, kann von einem Zusammenhang die Rede sein.

Leben, insofern es als schöpferisches Prinzip gedeutet wird, ist nicht gleich ‹Bios›, das natürliche Leben. Das natürliche Leben ist uns zugeteilt worden, an seiner Erschaffung nahmen wir nicht teil. Leben als Potenz, als reines Vermögen kann sich erst verwirklichen in einer gestaltenden Bewegung, die in mir ihren Ursprung findet. Sich zu fragen, welche die Ursache dieser Bewegung sei, kann bloß auf externe Beweggründe ablenken. Der reale Grund dieser Bewegung ist aber nur in mir zu finden, da, wo ich am Quell meiner Schaffenskraft mich einen Moment aufhalten kann. Nicht nur bin ich am Ursprung, ich bin im Ursprung. Ich bin in mir.

Ich bin in mir dort, wo ich verletzlich bin. Dort, wo ich schöpferisch tätig werden kann.

Der Gegenwart beraubt

«In mancher Großstadt in Europa schliefen Menschen in diesem Sommer auf der Straße. Sie schliefen vor einem Gebäude, dessen Tür sich erst am nächsten Morgen ab 9 Uhr öffnen würde. Sie schliefen da während des ganzen Sommers. Wenn der Abend kam, setzten sie sich auf ein Stück Karton oder einige Plastiktüten und warteten, bis die Nacht eintrat und sie sich hinlegen konnten. Sobald das erste Morgenlicht kam, standen sie wieder in der Reihe an, damit ihr Platz nicht verloren ging. Die Tür wurde aufgemacht. Ein sich jeden Tag wiederholendes Ritual fing an. Ihre Namen, die sie bei der Anmeldung auf einen Zettel geschrieben hatten, wurden abgerufen. Manchmal waren sie zu zwei-, dreihundert. Die Zahl der Aufgerufenen ging selten über zwanzig hinaus. Im Gedränge und im Geschrei, es waren auch Kinder dabei, war es nicht einfach, schon beim ersten Aufruf sofort richtig zu verstehen. Öfters kam ein Name ganz anders, wie fremd heraus. War das vielleicht mein Name? Jeden Tag dieses gespannte, überspitzte Lauschen, ob nicht dieses Mal? Lauschen, wobei man sich keinen Augenblick gönnen kann, an etwas anderes zu denken, geschweige einen Mitmenschen anzureden. Nicht nur bekommt man keinen Zugang zum Raum da draußen, auch die Zeit wird einem weggenommen. Dazu verurteilt, nur noch warten zu können, ob man seinen Namen hört.»2

Ich bin in mir. Dort, wo ich verletzlich bin. Dort, wo ich schöpferisch tätig werden kann.

Was ich lese, klingt wie ein Bild aus einem Mysteriendrama. In ‹Schwerkraft und Gnade› deutet Simone Weil auf ähnliche Situationen in Europa – wo Unzählige warteten, bis ihre Namen aufgerufen wurden –, Bilder des größten Rätsels des menschlichen Daseins. Es ist die Lage, in der jeder Mensch als völlig ausgeliefert auf Erden geboren wird. Ausgeliefertsein nicht als ein Zustand, der durch die Maschinerie der Geschichte oder durch machtpolitische Interessen entsteht, sondern ein intrinsischer Teil der Wesensnatur eines jeden Menschen: das Mysterium der Inkarnation. Ich bin meinem Wesen nach verletzlich. Es ist die Stelle, an der jeder Mensch schon von Geburt an eine Wunde trägt. Jeder Mensch wird in einem Zustand vollkommener Hilflosigkeit geboren. Als Neugeborener ist er einer Gesamtheit von Handlungen, die er nicht selbst ausführen kann, ausgeliefert. Er kann sich selbst weder stillen noch warmhalten oder beschützen.

Genau das nennt Simone Weil das Unglück («le malheur») und sie vergleicht diese Situation des Völligausgeliefertseins gegenüber der Willkür eines fremden Willens mit Sklaverei: «Warum ist die Unterordnung unter die Willkür Sklaverei? Der letzte Grund liegt in dem Zusammenhang zwischen der Seele und der Zeit. Wer der Willkür unterworfen ist, hängt am Faden der Zeit, er wartet (die demütigendste Lage), was der nächste Augenblick bringen wird. Er verfügt nicht über seine Augenblicke; die Gegenwart ist für ihn kein Hebel mehr, der auf die Zukunft wirkt.»3 Schmerz und Leiden («la souffrance») versteht sie als Folgen dieser primordialen Verletzlichkeit, dieser Wunde, mit der jeder Mensch auf die Welt kommt.

Zwei Kräfte herrschen über das Weltall

«Die Schwerkraft zieht hinab», schreibt Simone Weil ganz am Anfang der Notizen, die in ‹Schwerkraft und Gnade› gebündelt sind. Wie kein Mensch vor ihr hat sie diese Gesetzmäßigkeit nicht nur dargestellt, sondern auch erlebt. Es sind nicht nur physische Gesetzmäßigkeiten. Sie lassen sich auf seelische, sogar auf geistige Ebene übertragen. Die Schwerkraft ist das Gesetz der Schöpfung schlechthin. Simone Weil beschreibt es wie «eine Abwärtsbewegung».4 Zu gleicher Zeit findet eine Art Verdichtung statt, bis der Punkt erreicht wird, an dem die Verdichtung auf ihre eigenen Grenzen stößt. Es entsteht die Materie als das Gewordene, dasjenige, was sich nicht mehr weiterentwickelt und das Widerstand bietet. Wie eine Härte. Härte, an der man aufwachen kann. Härte, an der man sich auch verwunden kann.

Der Schritt vom ‹Geflüchteten› zum ‹Migranten› ist der Schritt von einem harten, aber potenziell würdigen zu einem harten und faktisch unwürdigen Leben. Die Zehntausenden von Menschen, die in dieser Falle feststecken, sind durch ein Konglomerat von Abmachungen und Verhandlungen ihrer Lebenszeit – einem Menschenrecht – beraubt. Ihr Unglück hat die Grenze der spontanen Hilfsbereitschaft überschritten. Gebunden an einen Punkt ohne Ausdehnung in Raum und Zeit, haben sie den Status der Nichtexistierenden erreicht.

Erstaunlich, wie leicht man an ihnen vorbeigehen kann. Die Schwerkraft hat an ihnen ihre Arbeit getan. «Woran liegt es, dass, sobald ein Mensch merken lässt, dass er eines anderen mehr oder weniger bedarf, dieser Letztere sich entfernt? Schwerkraft.»5

Schwerkraft ist das Gesetz der Schöpfung schlechthin.

Schwerkraft als Wirkung und die Phänomene, woran man sie erkennen kann, deutet Simone Weil als ‹Niedrigkeit›.6 Das Herz kann sich nicht mehr erheben, es wird ‹schwer›. Es gibt also im Prozess der Verdichtung eine Grenze, von der aus, wenn sie einmal überschritten worden ist, keine Rückkehr mehr möglich ist. Die Niedrigkeit fängt an, da wo diese Grenze überschritten worden ist. Man kann sich in der Höhe nicht mehr aufhalten. Oberhalb dieser Grenze könnte man vielleicht noch von einer gewissen ‹Trägheit des Herzens› reden; wenn man zum Beispiel so sehr mit seinen eigenen Sorgen und der Selbsterhaltung beschäftigt ist, dass man die Leiden des anderen nicht wahrnehmen kann. Unterhalb gibt es nur noch die Niedrigkeit als Phänomen der Wirkungen der Schwerkraft. Und die Folgen desjenigen, was die primordiale Verletzlichkeit eines jeden Menschen ist. Das Herunterfallen ist unumkehrbar geworden, buchstäblich ‹zu Grunde›, bis auf den Boden, geht es. Für Simone Weil heißt das: zu gleicher Zeit unterhalb des Mitleids gefallen zu sein. «Ein übergroßes Unglück lässt ein menschliches Wesen unterhalb des Mitleids geraten: Abscheu, Grauen und Verachtung; das Mitleid steigt nur bis zu einer gewissen Stufe hinab und nicht darunter? Wie gelingt es der Barmherzigkeit noch, darunter herabzusteigen?»7

Die Abwärtsbewegungen als Phänomene der Schwere werden von ihr mit schlichten Strichen skizziert. Und überraschen immer. Zum Beispiel: sich im Gemüt und Denken entfernen von jemanden, der deiner bedarf, der deine Hilfe braucht. ‹Ihn fallen lassen›, so wie es zutreffend genannt wird. In erster Linie ist es derjenige, der sich entfernt, der in den Griff dieser Abwärtsbewegung gekommen ist, nicht derjenige, der von ihm sich selbst überlassen worden ist. Vielleicht ist ein ‹verlassener› Mensch nicht unbedingt jener, der – obwohl erniedrigt – der Niedrigkeit deswegen zugehörig wird. Vielleicht ist er noch der Barmherzigkeit fähig, denn Barmherzigkeit gehört zur Tiefe, nicht zur Höhe. Vielleicht kann der verlassene und nicht existierende Mensch deswegen in ihre Tiefe schauen.

Johannes Nilo, ‹Oh›, 2020, Pigment, Binder auf Leinwand auf Keilrahmen.

Ohne Schwerkraft abwärtstragen

Es kann überraschen, wie sowohl Rudolf Steiner als auch Simone Weil Schwere und Licht miteinander in eine Wechselbeziehung bringen. «Licht strömt aufwärts, Schwere lastet abwärts», so Rudolf Steiner mittels dieses Spruchs für die eurythmische Arbeit. Überraschend auch, weil Schwere und Licht nicht unmittelbar einen Gegensatz bilden. Sie sind auch nicht als Gegensätze gemeint. Licht und Finsternis wären ein Gegensatz. Ihre Eigenheit zu ehren, heißt zum Beispiel, die Schwere nicht durch Finsternis zu ersetzen oder mit Leichte die Schwere überwinden zu wollen. In der wunderbaren eurythmischen Darstellung offenbart sich, wie beide einander bedingen, ohne ihre Eigenheit zu verlieren. Ihre jeweilige Gebärde setzt im Bereich des anderen an: die Schwere im Bereich des Lichtes und umgekehrt. Dadurch eröffnet sich ein dritter Bereich, ein Ort des Ursprungs, der schöpferischen Potenz.

Im Zentrum steht aber für Simone Weil die Frage, ob es möglich wäre, ohne Schwere abwärtszutragen? Oder umgekehrt: Ob man nach oben fallen könnte? «Die Schwerkraft zieht hinab, der Flügel trägt empor: Welcher Flügel in der zweiten Potenz kann abwärtstragen ohne Schwere?»8 Die Gnade ist dieser Flügel! Die Gnade, die sich als eine Aufwärtsbewegung erst mal offenbart, wird wirksam in der zweiten Potenz. Das heißt: im Abwärtstragen ohne Schwere. Die primordiale Verletzlichkeit, ‹das Unglück› und alle ihren Folgen, die uns im Leben begegnen können, machen uns der Schwerkraft gegenüber wehrlos. Die Gnade ist nicht dasjenige, was die Schwerkraft ausgleicht, sondern wird erst in der Abwärtsbewegung wirksam. Die Gnade ist die Ausnahme, weil sie ohne Schwerkraft in die Tiefe herabsteigt und bewirkt, dass wir in dieser Tiefe den Ort finden, wo Wunde und Wesenskern, Verletzlichkeit und Potenz sich in uns als ein- und derselbe Ort erst zeigen. «Die Schwerkraft des Geistes lässt uns nach oben fallen.»9 Wir sind in der Gnade.


Zwischen
deinen Augenbrauen
steht deine Herkunft
eine Chiffre aus der Vergessenheit des Sandes.

Du hast das Meerzeichen
hingebogen
verrenkt
im Schraubstock der Sehnsucht.

Du säst dich mit allen Sekundenkörnern
in das Unerhörte.

Die Auferstehungen deiner unsichtbaren Frühlinge
sind in Tränen gebadet.

Der Himmel übt an dir
Zerbrechen.

Du bist in der Gnade.

Aus: Nelly Sachs, Werke. Band II. Gedichte 1951–1970, Berlin 2010, S. 76.

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Footnotes

  1. Rudolf Steiner, GA 93, 11. November 1904.
  2. Aus der Interviewreihe ‹Warten bis man seinen Namen hört› in De Morgen, August 2022.
  3. Simone Weil, Schwerkraft und Gnade, Matthes & Seitz, Berlin 2021, S. 168.
  4. Ebd., S. 10.
  5. Ebd., S. 7.
  6. Ebd., S. 8.
  7. Ebd., S. 10.
  8. Ebd.
  9. Ebd.

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