Was braucht es mehr, um der Falle der Zuschreibungen zu entkommen? Eine kritische Erweiterung zum Artikel ‹Die Hypermoral tötet die Freiheit› in ‹Goetheanum› 18/2023.
Alexander Grau warf in dem Beitrag die Frage auf, ob wir heute von einer freiheitsbeschränkenden Gruppenmoral beherrscht werden, uns vor lauter Political Correctness bereits in einer modernen Form von Inquisition befinden. Er sprach über «Netzwerke, welche die Macht hätten, Einzelne oder Gruppen von Diskursen auszuschließen», und beklagte einen (Hyper-)Moralismus, bei dem Moral ohne ein übergeordnetes Gedankengebäude nur noch als Ideologie um ihrer selbst willen daherkommt.
Man hält sich für aufgeklärt und trotzdem ist Angstmachen eine beliebte Form des Argumentierens geworden und Aufregung dient als Ersatz für Zukunft gestaltende Politik. Und tatsächlich: Es gibt tägliche Berichte über extreme Protestformen, die ärgerliche Stauungen verursachen. Gender-Sprache, die sich um Gleichbehandlung von Frauen bemüht, wird als Zumutung aufgefasst. Auf der anderen Seite will die Diskriminierung von Frauen, Schwarzen und Minderheiten nicht mehr einfach verschwiegen werden. Ganz offensichtlich bringen die zunehmenden globalen Krisen unaufhaltsam strukturelle Unausgewogenheiten auf den Tisch. Sie zeigen, wie subtil die globalen Gesellschaften auf allen Ebenen durchsetzt sind von hierarchischen Machtstrukturen, deren Mechanismen auf Diskriminierung bauen. Wer oben ist, gilt als wertvoller Leistungsträger, wer unten ist, ist weniger wert. ‹Europäisch, weiß, gebildet› löst ganz andere Assoziationen aus als ‹afrikanisch, schwarz, arm›. Das öffentliche Weltgeschehen reicht längst bis ins Persönliche hinein. Widerstand regt sich, Bewegung kommt auf. Der symptomverstärkende Versuch, eigene Sicherheiten zu verteidigen, die andere Seite abzuwehren, wird lauter und erreicht nur weitere Verhärtungen. Das eigentliche Problem wird von Krach und Getöse überlagert, siehe Klimawandel, Rassismus, Armut, soziale Teilhabebedingungen, Pandemie usw. Die Reiz-Reaktions-Muster, Übertreibungen und tiefgreifend schädliche Feindbildproduktion zu überwinden, macht Mühe und braucht perspektivenreichen Austausch darüber, was da wirkt oder fehlt, wenn so viele Wunden in einer so kurzen Zeitspanne fast gleichzeitig aufbrechen und erhebliche Verunsicherungen erzeugen. Eine Besinnung auf das Evangelien-Wort «Denkt neu, wendet euren Sinn» scheint notwendiger denn je.
Was findet da statt?
Denkt man an Hetze in ‹un-social› Medien oder an Menschen, die, um Klimaschutz herbeizuzwingen, ihre Hände auf den Asphalt kleben, kann man ein unvermitteltes Hereinwirken persönlicher Absichten ins Öffentliche beobachten. Besserwisserei, Ignoranz und nicht zuletzt Ängste und Kontrollansprüche halten das öffentliche Leben in Atem und wirken lähmend bis in persönliche Beziehungen hinein. Das war während der Pandemie zu beobachten. Darüber, was derlei Rechthaberei anrichtet, ist sich die jeweils andere Seite meist nicht bewusst. Das Wesentliche bleibt verborgen, unbeachtet oder wird überlagert von kenntnisarmen Urteilen und Behauptungen über andere. Dazu kommt die menschliche Neigung, all die Dinge abzulehnen, oft sogar zu hassen, die bedrohlich oder unangenehm erscheinen. Dinge, die auf Schwächen, eigenes Unvermögen und Schattenseiten verweisen. Anthroposophisch betrachtet scheint im Innern eine alle Menschen unterschiedlich betreffende Auseinandersetzung mit der Frage nach einer lebensbejahenden Weltanschauung und einem lebensförderlichen Menschenverständnis zuzunehmen. Anders formuliert: Findet die allgegenwärtig das eigene Ego vergrößernde, aber sich absondernde und linear denkende Verstandesseele den Weg zu einer bewusst die Welten verbindenden Bewusstseinsseele? Oder dominiert die aus Gewohnheiten und Trieben sich formende Empfindungsseele das Tun und Lassen? «Aufwärts oder hinab!» ist die Freiheitsfrage an die menschliche Seele, deren Kern ein warm dem Dasein zugewandtes, geistdurchdrungenes Ich ist. Nicht Systeme, Vereinszugehörigkeiten, gesellschaftlicher Status, sondern die individuelle Zuwendung und das eigene, unverwechselbare Hinzufügen zur jeden Menschen anders umgebenden ‹Welt› macht den Unterschied. «Alles wirkliche Leben ist Begegnung.»1
In diesem Zusammenhang ist der Satz von Rudolf Steiner fruchtbar: «Wirklichkeit entsteht im Zusammenfließen von Wesen und Erscheinung.» Erleben und erkennen Wesen andere Wesen? Entsteht Wirklichkeit durch Beziehung? Wesen und Erscheinung erfahren und beeinflussen einander. Vom geistigen Standpunkt aus ist die Sinneswelt nicht eine fertige Wirklichkeit, sondern eine Scheinwirklichkeit, «zu der erst hinzukommen muss dasjenige, was der Mensch zu ihr hinzubringt, was dem Menschen in seinem Inneren aufleuchtet und was er dann erarbeitet.»2 Also erst durch das bewusste (erarbeitete) und menschliche Hinzufügen entsteht volle Wirklichkeit.
Rezitativ
Zwei lesenswerte Bücher, die das bisher Geschilderte perspektivenreich aufgreifen, seien hier empfohlen. Beide Bücher stellen sich anders in das Zeitgeschehen als Alexander Grau. Bei der Erzählung ‹Rezitativ›3 handelt es sich um ein Werk von Toni Morrison. Sie war eine der bedeutendsten Vertreterinnen der afroamerikanischen Literatur und erhielt 1993 als erste afroamerikanische Autorin den Literaturnobelpreis. Sie schrieb Romane, lehrte an Universitäten und ist Autorin ebenfalls empfehlenswerter Essays (‹Selbstachtung›). Von ihr gibt es nur diese eine Erzählung. Dieses sprachliche Kleinod ist nun erstmals ins Deutsche übersetzt erschienen. Es wird darin die Geschichte zweier Mädchen erzählt, deren Mütter sie aus unterschiedlichen Gründen in ein Kinderheim geben. Die eine ist krank, die andere Mutter, die der Ich-Erzählerin, «tanzt die ganze Nacht». Beide Mädchen fühlen sich abgeschoben an einen falschen Ort, denn sie sind «keine echten Waisenkinder». Außerdem müssen sie das Zimmer mit einer Fremden mit anderer Hautfarbe teilen. Die beiden können sich erst nicht leiden, müssen aber zusammenhalten und werden so langsam zu Freundinnen, die sich im späteren Leben immer wieder begegnen, sich annähern und voneinander entfernen, ganz nach Verlauf der jeweiligen Begegnungen. Man erfährt nicht, welches der Mädchen welche Hautfarbe hat, welches aus reichem oder armem, gläubigem, gebildetem oder ungebildetem Haushalt stammt. Die Sprache (das Wie) der Erzählung ist meisterlich präzise und andeutend zugleich. Die Geschichte ist bewegend und erzählt über Begegnungen der beiden, Situationen und gesellschaftliche Veränderungen im Umfeld und wie diese sich auswirken. Beim Lesen beginnt man sogleich mit der Suche nach äußeren Kategorien, die eine Zuordnung der Hautfarbe, des sozialen Stands ermöglichen. Meint man, ein Merkmal zuordnen zu können, stellt sich im nächsten Moment dessen Fragwürdigkeit heraus. Man wird auf sich selbst zurückgeführt. Das eigene Denken in Schubladen und Zuordnungen pendelt zwischen dem Mitgefühl mit der einen und der anderen hin und her. Dabei wird es immer menschlicher, die ‹fließenden Ausdruckserfahrungen› wirken tiefer als vorgefasste Kategorien. Der Philosoph Ernst Cassirer schreibt dazu: «Das Verstehen von Ausdruck ist wesentlich früher als das Wissen von den Dingen.»4 Das aus der Erzählung zu erschließen und zu vertiefen, leistet das anschließende Essay von Zadie Smith.
Das Neue verhandeln
Emilia Roig, geboren 1983, geht mit ihrem Buch ‹Why We Matter›5 einen anderen Weg. Sie ist Gründerin und Direktorin des Center for Intersectional Justice (CIJ) in Berlin und hat an der Berliner Humboldt-Universität und an der Science Po Lyon promoviert. In Deutschland, Frankreich und den USA lehrt sie zum Thema Intersektionalität, Critical Race Theory und Postkoloniale Studien sowie Völkerrecht und Europarecht. In diesem beeindruckenden, engagierten und facettenreichen Buch kann man lernen, dass Feminismus eine ernst zu nehmende und notwendige Haltung meint, keine modische Attitude. Feminismus bedeutet nicht Männerfeindlichkeit, wie das häufig empfunden wird, sondern versucht gründlich und politisch verantwortungsvoll, den Wert des Menschen von willkürlichen äußeren Facetten wie Geschlecht, Hautfarbe, Bildung oder sozialem Status zu befreien. Intersektionalismus ist dabei ein wissenschaftliches Forschungsgebiet, das beschreibt, wie hierarchisierende Zuordnungen anhand von Status, Annahmen und äußeren Merkmalen einander überlagern und oft unbewusst und kulturell eingeübt zusammenwirken, wenn Menschen übereinander urteilen. Es spiegelt sich darin die soziale Frage, die durch zunehmende Ungnädigkeiten, gegenseitige Verständnislosigkeit und Übertreibungen von Heilungsansätzen nur weiter abgelenkt wird. Um davon freizukommen, ist es nötig, so Emilia Roig, dass Gesellschaften und somit Menschen sich aufmachen, «Dinge zu sehen, die wir lange Zeit noch nicht sehen wollten». «Die Grenzen der Normalität werden kontinuierlich neu verhandelt und neu definiert. Allerdings bleibt das Fundament der Unterdrückung bisher unverändert.» Hier sind wir wieder beim erwähnten Thema der Weltanschauung, die eine Anschauung des Menschen, seines Denkens, Fühlens und Handelns ist.
Reift die Bereitschaft und Fähigkeit heran, aus der Perspektive der Betroffenen auf die Mechanismen von Unterdrückung im Alltag und deren strukturelle Ursachen zu schauen? Anhand ihrer persönlichen Erfahrungen und jener ihrer nach Frankreich immigrierten Familie deckt Emilia Roig Muster von Anpassung, gegenseitiger Missachtung und Grobheit auf, denen Frauen, Schwarze, Minderheiten, aber auch Männer innerhalb der sämtliche Vorstellungen vereinnahmenden kapitalistischen Leistungsgesellschaft ausgesetzt sind. Sie leitet zu radikaler Solidarität und einem «Leave no one behind» an, und plädiert für ein unterschiedslos allen Menschen zugestandenes Selbstbewusstsein, das nicht ausgrenzt. Die Autorin Kübra Gümüşay, deren Buch ‹Sprache und Sein› an dieser Stelle ebenfalls empfohlen wurde, nennt ‹Why We Matter› «radikal und behutsam zugleich. […] ein heilsames, inspirierendes Geschenk».
Zusammenfassend zu dem hier Aufgeführten: Wie anders wäre das Menschsein und im erweiterten Sinn das Zusammenleben mit allem Lebendigen, das leben will6, wenn das Interesse an Freiheit stärker wäre, sodass Menschen das fremde Andere willkommen heißen können und dabei sich die Fähigkeit entwickeln würde, über sich hinauszukommen, indem man zugleich bei sich ist und das – zunächst fremde – Andere als zu sich gehörig anerkennen lernt.
Bild Kaleidoskop. Foto: Sofia Lismont
Footnotes
- Martin Buber, Ich und Du. Verlag Lambert Schneider, 1983, S. 18.
- Rudolf Steiner, GA 255b, 16.11.1919.
- Toni Morrison, Rezitativ. Mit einem ausführlichen Nachwort von Zadie Smith. Rowohlt-Verlag, 2023.
- Ernst A. Cassirer, aus: Philosophie der Symbolischen Formen. Zitiert nach: Johannes Kiersch, Vom Land aufs Meer. Steiners Esoterik in verändertem Umfeld. Verlag Freies Geistesleben, 2008, S. 40.
- Emilia Roig, Why We Matter. Das Ende der Unterdrückung. Aufbau-Verlag, 2020.
- Albert Schweitzer (1875–1965): «Ehrfurcht vor dem Leben»; «Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.»; «Wahrhaft ethisch ist der Mensch nur, wenn er der Nötigung gehorcht, allem Leben, dem er beistehen kann, zu helfen, und sich scheut, irgendetwas Lebendigem Schaden zuzufügen.» Zitiert nach Albert Schweitzer, Aus meinem Leben und Denken. TB, 1995.