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Liebendes Schauen

In über 200 Notizbüchern hat der Schriftsteller Peter Handke seine Erfahrungen festgehalten, denn er will auf alles, was ihm begegnet, mit der Sprache reagieren. Dabei überrascht der Faden, der sich durch alle Notizbücher zieht: das Wort der Evangelien.


Früh ahnte Peter Handke, dass er einmal ‹weltberühmt› werden würde. Schon während seiner Schulzeit war er ein herausragend guter Schüler. Seinem Deutschlehrer Reinhard Musar hatte er im Alter von 15 Jahren bereits eigene Texte anvertraut. Sie machten Spaziergänge, dabei zeigten sie einander, was sie geschrieben hatten, und aßen Äpfel von den Bäumen am Wegrand. Kurz nach seinem 19. Geburtstag schrieb Peter Handke ihm, dass er mit dem Jurastudium in Graz begonnen habe, mit dem Ziel: «Später will ich die Diplomatenlaufbahn einschlagen, sofern ich nicht schon vorher Millionär bin, doch im Grunde ist die Sache gar nicht so komisch.»

Anfänge

Peter Handke hat seinen Anfang als Schriftsteller für das Jahr 1963 angegeben. Drei Jahre später erschienen bereits seine ersten Werke im damals schon renommierten Suhrkamp-Verlag. Als ‹Die Hornissen› angenommen wurde, riet ihm der Verleger, er solle doch Theaterstücke schreiben, damit habe er mehr Chancen, Geld zu verdienen. Wenige Wochen später, im Oktober 1965, kam Post von Peter Handke mit dem Sprechstück ‹Publikumsbeschimpfung› und dem Kommentar: «Es ist mein erstes und mein letztes.» Claus Peymann brachte es im Juni 1966 mit großem Erfolg im Frankfurter Theater am Turm zur ‹Experimenta 1› zur Uraufführung. Zwei weitere Sprechstücke wurden noch 1965 dem Verlag übergeben: ‹Weissagung› und ‹Selbstbezichtigung›, die am 22. Oktober 1966, ebenfalls mit großem Erfolg, im Oberhausener Theater uraufgeführt wurden. Von nun an veröffentlichte Peter Handke jährlich meist mehrere Bücher und Übersetzungen aus dem Englischen, Französischen, Slowenischen und Griechischen. An Theaterstücken waren es Shakespeares ‹Wintermärchen›, Aischylos’ ‹Prometheus gefesselt›, Sophokles’ ‹Ödipus in Kolonos› und Euripides’ ‹Helena› wie auch Theaterstücke von Marguerite Duras und Jean Genet.

Notizbücher

Außer Romanen, Lyrik, Hörspielen, Filmscripten, Texten für Komponisten, Essays und den Theaterstücken entstanden als ein wichtiger Teil von Handkes Werk die Notizbücher, die er immer bei sich trägt. Über zweihundert davon, die inzwischen im Marbacher Literaturarchiv liegen, stammen aus der Zeit zwischen 1975 und 2015. Nur eine kleinere Auswahl der Notizen ist seit 1977 in Büchern veröffentlicht. Im ersten Notizbuch, dem Journal ‹Das Gewicht der Welt›, schrieb Handke in einer Vornotiz, dass er sich darin übte, auf alles, was ihm zustieß, mit Sprache zu reagieren. Die Aufzeichnungen wurden in allen Lebenslagen gemacht, nur nicht am Schreibtisch. In einem späteren Notizbuch ‹Am Felsfenster morgens› handelt es sich «vor allem um Notizen, Wahrnehmungen, Bedenklichkeiten, seit der Sesshaftigkeit […] in meinem Geburts- und Heimatland».

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Die Aufzeichnungen wurden in allen Lebenslagen gemacht, nur nicht am Schreibtisch.

Eine Maxime zum Schreiben in diesem Notizbuch lautet: «Dadurch, dass ich das Griechische, Lateinische und das Recht gelernt habe, bin ich im Stand aller Mittel, die Wörter zu […] verdinglichen durch das Griechische, reinigen durch das Lateinische, im ‹Abstand halten› durch das Rechtsstudium.» In seinem späteren Notizbuch, ‹Gestern unterwegs›, als Handke drei Jahre ohne festen Wohnsitz umherreiste, notierte er nachträglich, leicht zeitversetzt. Es waren dann Notate von ‹gestern›, ‹vorgestern› und ‹vor einigen Tagen›. Die meisten Einträge in allen Notizbüchern sind zur Person Goethe zu finden, vom ersten bis zum vorerst letzten (‹Vor der Baumschattenwand nachts›), und so reichhaltig wie zu keinem anderen Menschen.

Evangelien

Ein Faden, der sich durch viele der Notizbücher zieht, aber bisher selten ins öffentliche Bewusstsein trat, ist das Wort der Evangelien sowie dazu Bilder- und Skulpturenbeschreibungen aus der Kunst und dem Besuch der heiligen Messe. Dass Handke eine Liebe zur griechischen Sprache schon seit seiner Schulzeit hatte, tritt bei seiner langen Reise von 1987 bis 1990 hervor. Er nahm als einzige Lektüre die Evangelien in der Ursprache, dem Griechischen, mit. Zum Lesen der Evangelien notierte er: «Warum liest du die heilige Schrift?» – «Um in mir das Licht des Erzählens zu erhalten.» Drei Wochen später, ein Zweifeln? «Die Evangelien werden mir immer wieder unheimlich, weil ich ihnen im Leben kaum folgen kann – sie werden mir so zum Abgrund – während die Kunst mich auffängt in irdischer Heiligkeit und ich ihr folgen kann, urbe et orbe …»

Aber dann heißt es auch: «Am klarsten – unvergleichlich klar – lese ich die Bedingungen, Gesetzlichkeiten, offenbaren Geheimnisse des Erdendaseins aus den Evangelien. Das Lesen der Evangelien […] bringt mich zu mir […], durch Schreiben und Lesen den (auch meinen) unreinen Geist austreiben.»

Am Ende des Notizbuchs ‹Gestern unterwegs› lesen wir noch einmal wie eine Zusammenfassung: «Die Evangelien erzählten in einer Sprache der Durchdrungenheit vom Göttlichen, leisteten diesem ‹selbstredend› Gefolgschaft und erweckten so das Vertrauen.»

Heilige Messen

Eintragungen zur heiligen Messe hat Handke über viele Jahre hin gemacht. Sie scheinen direkter und persönlicher zu werden. So 1977: «Mich in die Formen zu begeben – auch eine Messfeier ist eine Form – das gibt mir zu denken – Wenn die Prediger doch Sprache hätten – Mit Hilfe der Messe lernen die Priester, schön mit den Dingen umzugehen: das sanfte Halten von Kelch und Oblate […] – Jeder Priester müsste sich doch die ganze Woche […] darauf freuen, das Evangelium zu verlesen. Aber wie ist es wirklich? (Rhetorische Frage) Die Mikrofone als der Tod der Frohbotschaften – Das Religiöse – der Gottesdienst – ist in mir drin […] als Kraft.» Dann 2013 schreibt er von den ‹Wohltaten der heiligen Messe›: «Ich sitze ordentlich, ich stehe, zum Beispiel beim Lesen des Evangeliums ordentlich auf; ich setze mich bei der Predigt ordentlich nieder; ich knie bei der Wandlung ordentlich hin; ich reihe mich beim Gehen hin zum Empfangen des ‹Corpus Christi›.»

Durch das Erwähnen des Sakraments der Wandlung in der Messe soll der Blick erweitert werden auf die sieben Sakramente. Einzelne Eintragungen zu einem Sakrament sind gelegentlich in den Notizbüchern zu entdecken, wie zum Beispiel: «Die Liebe kannst du nicht dem Geliebten versprechen. Ihr müsst sie einander einem dritten versprechen (Sakrament).»

Farben der Sakramente

Ein Schwerpunkt in der Malerei ist die Bilderserie zu den sieben Sakramenten des französischen Malers Nicolas Poussin (1594–1656). Er hat viele Bilder zum Alten und Neuen Testament gemalt. Von Handke gibt es seit 1977 immer wieder Notate über Nicolas Poussin. Im Januar 1989 besucht er die Gemäldegalerie von Edinburgh, in der die sieben Bilder (117 x 178 cm) einer zweiten Serie zu den Sakramenten hängen. Handke notiert: «Das gewaltige Rot der Taufe, der glühende Anfang, die Taufschale über dem Täufling als kleines Boot. […] dann die Firmung, immer noch glührot, aber inzwischen in der Dunkelheit der Katakomben, mit dem Schatten des salbenden Daumens auf des Firmlings leuchtender Stirn […] dann die Kommunion, Abendmahls­szene im Mittelgrund, Judas, der das Mahl geradezu stolz verlässt, unterwegs zum Verrat, Zeigen Jesus auf das eigene Herz: ‹Das ist mein Blut›, die unten verhängten Fenster im Pessah-Saal des Gründonnerstags, davor die Kerzenleuchter, die Apostel als Strahlenkörper, die zu Christus hinstrahlen, das Brot ‹das ist mein Leib› – ist schon gebrochen […].»

Im Jahr 2018 erschien im Kunstmagazin ‹Blau› ein neuer Text zu den sieben Sakramenten von Poussin, nachdem Handke die Bilder in Edinburgh erneut sah. ‹Das Brot brechen› wird sogar mit kleinen Zeichnungen von Handke im Notizbuch festgehalten (2017). Dort wird auch das Treffen mit den zwei Jüngern in Emaus erwähnt. «An seinem Brotbrechen erkannten sie ihn.» Neben Poussin beschäftigte sich Handke mit Grünewald. «In der ‹Auferstehung› erscheint Christus als neuer, gerade erst entstehender Planet.» (1977) Oder eine weitere Wahrnehmung: «Das Fresko des gerade von den Toten Auferstandenen in der Kirche des Nikolaos Orfanos in Thessaloniki; so etwas habe ich noch nie gesehen: Wie herrlich der auferstandene Christus zunächst allein seines Weges wandelt, noch im weißen Leinentuch, das ihn umweht, die Rechte in die Morgendämmerlandschaft gehalten wie segnend […].»

Mit 21 Jahren schrieb Peter Handke an seine Mutter: «Du brauchst dir über mich keine Sorgen machen, ich bin schon ziemlich zäh und außerdem werde ich sicher weltberühmt.» Etwa zehn Jahre später schrieb er in sein Notizbuch: «Meine Mutter glaubte von mir seit je, dass ich mich ‹nicht halten› würde. Sie erwartete früher oder später meine Niederlage, meinen Fall. Ist das bei allen Müttern so?» Auch Mütter können sich täuschen.


Titelbild: Peter Handke in Salzburg 1987. Foto: Ulrich Kurtz

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