Letzte Vorträge in Deutschland

Im ausgezeichnet besorgten und kommentierten Archivmagazin Nr. 8 des Rudolf-Steiner-Verlages gibt es wertvolle Auskünfte, wie Rudolf Steiner seine zwei öffentlichen Vortragsreisen in Deutschland im Jahr 1922 gehalten hat, wie die Presse reagierte und wie Zuhörende die Vorträge erlebt haben. Auch Einzelheiten von Augenzeugen über das Attentat auf ihn sind aufgeführt.


Deutschland war 1922 nach der Kriegsniederlage einerseits in Aufbruchstimmung, anderseits in Unordnung. Die Münchener Räterepublik wurde im Mai 1919 gewaltsam niedergeschlagen, politisch aktive Gruppierungen kämpften für ihre Ziele, darunter vor allem deutschnationale, antisemitische, völkische Kreise. Im Juli 1921 wurde Hitler zum Vorsitzenden der NSDAP gewählt. Aber es gab auch die Dreigliederungsarbeit und ein wachsendes Interesse für die Anthroposophie mit ihren konkreten Erneuerungsimpulsen und Antworten auf existenzielle und praktische Fragen der jüngeren Generation. Deshalb fragte die renommierte Konzertagentur Wolff & Sachs bei Rudolf Steiner an, eine Vortragsreise für ihn zu organisieren, weil man «durch öffentliche Vorträge der bedeutendsten Redner»1 ein Bild über die geistigen Strömungen der Zeit geben wollte. Steiner stimmte zu, was nicht ungefährlich war. Bereits ein Jahr zuvor hatte ihn Hitler im ‹Völkischen Beobachter› als «den Gnostiker und Anthroposoph[en] Rudolf Steiner, Anhänger der Dreigliederung des sozialen Organismus und wie diese ganzen jüdischen Methoden zur Zerstörung der normalen Geistesverfassung der Völker heißen» beschimpft. Und im Januar 1921 hatte die völkische Presse in der Zeitschrift ‹Hammer› geschrieben: «Tatsächlich muss Steiner politisch als Bundesgenosse von Deutschlands Verderbern angesehen und behandelt, deshalb auf Tod und Leben bekämpft werden.» Andererseits war Rudolf Steiner populär, stand im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses, war eine ‹Erscheinung der Epoche›, ‹eine der wirkungsmächtigsten Persönlichkeiten der Gegenwart›, wurde Prophet und neuer Messias genannt. Seine Bücher verkauften sich gut. Viele Menschen wollten ihn sehen und hören. Bei der ersten Vortragsreise waren die Säle in den zwölf Großstädten nach kurzer Zeit ausverkauft. Viele Interessierte mussten enttäuscht werden, auf dem Schwarzmarkt wurden Wucherpreise bezahlt. Vor insgesamt etwa 20 000 Menschen hat Rudolf Steiner über ‹Das Wesen der Anthroposophie› gesprochen.

Das Echo der öffentlichen Presse war ganz entschieden negativ. Steiner wurde mit Schimpf- und Spottnamen bedacht. Fast alle Rezensionen lehnten die Anthroposophie vehement ab, obwohl einzelne Berichte doch eine ziemlich korrekte Zusammenfassung des Inhaltes des Vortrages darboten.

Es muss für die zahlreichen nicht anthroposophischen Zuhörenden enttäuschend gewesen sein, dass er nicht der sensationelle, imponierende, charismatische ‹Geistesführer› war, auf den sie gehofft hatten. Friedrich Rittelmeyer, damals 50 Jahre alt, hat den Vortrag im vollen Berliner Saal (3000 Hörer) miterlebt und gibt seinen Eindruck wieder : «Damals hätte Rudolf Steiner der Mann des Tages werden können – wenn er gewollt hätte. Aber es kam anders. Immer wieder fragte ich mich: Hat je ein Mensch die Gelegenheit, der Menschenmasse zu imponieren, so souverän aus der Hand gegeben? […] Für wen redete er eigentlich? […] Die Anthroposophen abgerechnet, schätze ich fünf bis zehn. Für diese redete er, vollkommen bewusst. Kein Flackerschein des Imponierenwollens huschte über die Versammlung hin.» Auch aus den anderen Vorträgen wird bestätigt, dass Steiner ernst, sachlich, nüchtern, ausführlich und gründlich gesprochen hat. Er wollte offenbar vor allem vermeiden, durch mitreißende Überredungskraft zu wirken. Ganz wenigen, meist jungen Menschen wurde aber das Herz geöffnet. Sie erlebten, wie sie sagten, großartige Zusammenhänge der Gedanken, wurden zutiefst aufgewühlt, bekamen neue Impulse und Zukunftshoffnung für das Leben, traten den konkreten anthroposophischen Erneuerungsimpulsen bei. «Auf die Bewusstseinshaltung des Einzelnen kommt es an, wenn man in die Zukunft schreiten will. Das erklang sehr deutlich aus Rudolf Steiners Worten.»

Es ist nicht verwunderlich, dass wegen der ‹Rufmordkampagne› gegen ihn das Interesse an der zweiten Vortragsreise bedeutend geringer war. Viele Säle waren nur noch halb gefüllt. Dabei kam es während des dritten Vortrags am 15. Mai 1922 in München zum Attentat auf sein Leben, was zu den wichtigsten Nachrichten in Deutschland wurde und auch die ‹New York Times› erreichte. Danach hatten viele Menschen Angst, zu den Vorträgen zu kommen, was nicht unberechtigt war. Zwei Tage später, beim Vortrag in Elberfeld (heute Wuppertal), wurde mit knapper Not verhindert, dass eine Gruppe von 50 mit Knüppeln bewaffneten nationalsozialistischen Menschen den Saal stürmte. Rudolf Steiner hat diese zweite Tournee doch abgerundet und im Anschluss daran am 22. Mai in Leipzig noch seinen letzten öffentlichen Vortrag in Deutschland gehalten. Danach ging es nicht mehr.


Grafik: Fabian Roschka

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Footnotes

  1. Archivmagazin, Beiträge aus dem Rudolf Steiner Archiv, Nr. 8, Dezember 2018. Alle Zitate stammen aus diesem Magazin.

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