Krieg – Was geschieht zwischen den Menschen?

Die anthroposophische Bewegung als Friedensbewegung

Die Frage nach Krieg und Frieden beschäftigt die Menschheit seit Jahrtausenden. Als der griechische Komödiendichter Aristophanes sein Stück ‹Der Friede› schrieb, setzte er sich bereits gegen den Krieg ein. Eigentlich könnte man erwarten, dass die Zivilisation durch ihre moralische und technische Entwicklung lernen würde, vernichtende Kriege zu vermeiden, aber das ist nicht der Fall. Krieg hat seit dem 20. Jahrhundert eine neue und grausamere Form angenommen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, über die Quellen des Krieges nachzudenken und zu verstehen, warum die anthroposophische Bewegung von Anfang an und in all ihren Bestrebungen eine Friedensbewegung ist.


Am 14. August 1898 wurde die erste Haager Konferenz ins Leben gerufen. Der Außenminister von Zar Nikolaus II. schrieb einen Brief an Papst Leo XIII. und berichtete über den Plan einer internationalen Konferenz, um «den unaufhörlichen Rüstungen ein Ende zu setzen und nach Mitteln und Wegen zu suchen, die Kalamitäten, die die ganze Welt bedrohen, zu verhindern». Diese Initiative führte zu weiteren Konferenzen und Projekten, um die Voraussetzungen für einen Weltfrieden zu schaffen. Daraus entstand der ‹Ständige Schiedsgerichtshof› in Den Haag, eine neue Institution zur Vermeidung von Kriegen, und später der Friedenspalast, in dem der Gerichtshof seinen Sitz haben sollte. Der Haager Friedenspalast, dessen Ornamente der Friedensgöttin Irene gewidmet sind, wurde 1913 eingeweiht. In diesem Jahr wurde auch der Grundstein für das Erste Goetheanum gelegt, ein weiteres Gebäude mit weltweiten pazifistischen Zielen. Aber diese bedeutenden Initiativen verhinderten nicht, dass im folgenden Jahr der Erste Weltkrieg ausbrach und danach der Zweite und alle anderen Kriege, die sich aneinanderreihten und noch heute toben. Afghanistan, Irak, Jugoslawien, Syrien, Jemen, Ukraine …

Das Gefühl der Ohnmacht kann angesichts des unaufhaltsamen Räderwerks von Gewalt, Hass und Zerstörung überwältigen. Der Krieg – oder auch nur die Kriegsgefahr – stellt uns vor existenzielle Fragen. Er stellt die Frage nach der Menschlichkeit. Abgesehen von den Rechtfertigungen oder Verurteilungen dieser oder jener Partei stellt der Krieg eine Frage an die gesamte Menschheit. Es ist natürlich wichtig, die Quellen von Konflikten zu untersuchen, etwa die Entwicklungen der diplomatischen Beziehungen, die Geschichte der Staatsbildung oder sogar die Unterschiede von Kulturen und Religionen, aber das beantwortet nicht die Frage nach dem Krieg aus allgemein menschlicher Sicht. Wenn wir den Standpunkt der Menschheit als Ganzes einnehmen, sind es nicht mehr die Schuldzuweisungen, die uns interessieren, sondern wir können uns alle verantwortlich fühlen und ahnen, dass tiefere Kräfte am Werk sind, welche das Potenzial für Krieg in sich bergen und von denen der äußere Krieg nur ein Symptom ist.

Keimzellen des Krieges

Im März 2022, als der Krieg in der Ukraine ausbrach, schrieb der italienische Politologe, Pazifist und Menschenrechtsaktivist Riccardo Petrella: «Der Geist des Krieges ist der vorherrschenden Wirtschaft inhärent. Die finanzialisierte Marktwirtschaft hat uns zum Krieg erzogen, zum Denken, zum Mitwirken und zur Teilnahme an Kriegen: um Öl, Weizen, Computer, Medien, Container, Impfstoffe, Smartphones, Autos, Reis, Bananen, Universitäten; um Netzwerke, Patente, KI, den Weltraum. Der Krieg ist in unseren Köpfen, in variablen Formen und Worten: Wettbewerbsfähigkeit, Rentabilität, Marktführerschaft, Nr. 1, Markteroberung, Widerstandsfähigkeit, Anpassung, Innovation …»1

Bereits 1933 hatte die französische Philosophin Simone Weil, die in revolutionär-marxistischen Kreisen aktiv war und den Totalitarismus und Faschismus auf dem Vormarsch sah, in ihren ‹Reflexionen über den Krieg› eine ähnliche Analyse vorgelegt. Auch für sie ist die moderne Gesellschaft in ihren Grundstrukturen im Dienste des Krieges aufgebaut. Die Unterdrückung der Arbeiterklasse durch das Räderwerk der kapitalistischen Industrie erreicht im Krieg ihren Höhepunkt. Noch bevor es auf Schlachtfeldern wütet, ist der Keim des Krieges in den modernen Gesellschaften und ihrem Wirtschaftsleben gelegt, in der Art und Weise, wie Menschen sich organisieren und ihre Interaktionen gestalten: «Der moderne Krieg unterscheidet sich absolut von allem, was man unter früheren Regimen mit diesem Namen bezeichnete. Einerseits verlängert der Krieg nur jenen anderen Krieg, der Konkurrenz heißt und der die Produktion selbst zu einer bloßen Form des Kampfes um die Vorherrschaft macht; andererseits ist das gesamte Wirtschaftsleben gegenwärtig auf einen zukünftigen Krieg ausgerichtet.»2

Der russische Philosoph Nikolaus Berdjajew wies 1946 in seinem Buch ‹Über die Sklaverei und die Freiheit des Menschen› neben dem Kapitalismus auch auf das Kriegspotenzial des Nationalismus hin, der bis heute stark in den Köpfen und in den staatlichen Strukturen verankert ist: «In dem Moment, in dem die Macht des Staates und der Nation als höchster Wert verkündet wird, ist der Krieg bereits praktisch erklärt, alles ist bereits auf seine Möglichkeit vorbereitet, und zwar sowohl in geistiger als auch in materieller Hinsicht, und der Krieg kann jeden Moment ausbrechen.» Er macht aber auch auf eine ‹psychische Atmosphäre› aufmerksam: «Das kapitalistische Regime wird immer eine Ursache für Krieg sein, und hinter Regierungen mit pazifistischen Tendenzen werden immer Händler von Kanonen und Erstickungsgasen stehen, die Kriege vorbereiten. Krieg hat als Voraussetzung eine bestimmte psychische Atmosphäre, die man auf verschiedene, oft unmerkliche Weise erzeugen kann. Selbst die Angst vor dem Krieg kann eine Atmosphäre schaffen, die eine Kriegspolitik begünstigt. Furcht und Angst haben niemals Gutes zur Folge.»3

Die Atmosphäre des Krieges durch Konkurrenz und Machtkämpfe durchzieht die kapitalistische Gesellschaft, vor allem wenn nationalistische Tendenzen hinzukommen, die den Staat als höchsten Wert verstehen. Diese gesellschaftlichen Faktoren sind heute fast überall auf dem Globus verbreitet. Abgesehen von äußeren Gegebenheiten geht es darum, wie Menschen denken, was in ihren Köpfen, in ihren Herzen und in der Atmosphäre menschlichen Miteinanders vor sich geht. Dadurch werden wir auf uns selbst zurückgeworfen, auf unser Innenleben.

Wie lässt sich die Evolution denken?

Im Herbst 1905 hielt Rudolf Steiner in Berlin zwei öffentliche Vorträge zum Thema ‹Krieg›.4 Überraschenderweise beginnt er nicht mit sozialen Fragen, sondern wendet sich der Frage der Naturwissenschaften zu. Er macht darauf aufmerksam, dass das Konzept des ‹Daseinskampfes› seit Darwin unsere gesamte Vorstellung von der Evolution des Lebendigen durchdringt. Nach dieser Vorstellung wäre der ‹Daseinskampf› die wichtigste Triebfeder der Evolution. Haeckel, ein Vertreter des Darwinismus, sah entsprechend im Krieg einen kulturellen Hebel: Der Kampf macht stark und der Schwache wird zum Aussterben gezwungen, was ein Segen für die Kultur sei. Und so kommen wir von den Naturwissenschaften zu der sozialen Frage. Diese Auffassung, die nicht wenige teilen, wurde von ihren Kritikern und Kritikerinnen als ‹Sozialdarwinismus› bezeichnet. Dieses Verständnis des Kampfes aller gegen aller bildet eine Atmosphäre, die das Innenleben der Menschen durchdringt.

Als Gegengewicht zu diesem Entwicklungsbegriff macht Steiner auf einen Forscher aufmerksam. Es handelt sich um einen russischen Zoologen namens Karl Fjodorowitsch Kessler, der die entgegengesetzte Auffassung vertrat: Nicht der ‹Daseinskampf›, sondern die ‹gegenseitige Hilfe› sei der Hebel der Evolution. Kessler stützte seine Theorie auf seine Forschungen und Beobachtungen der Wirbeltierfauna, die er in der Ukraine, am Dnjepr, an der Küste des Azowschen- und des Schwarzen Meeres durchgeführt hatte und in seinem Buch ‹Naturgeschichte der Provinzen des Kiewer Bildungsbezirks› veröffentlichte. Seiner Meinung nach sind die Lebewesen, die die sich am besten weiterentwickeln, diejenigen, die sich gegenseitig helfen können. Dieser Ansatz – Kooperation statt Kompetition – hat sich zu einer allgemeinen Denkrichtung entwickelt.5

Mit seiner auf ‹gegenseitiger Hilfe› basierenden Evolutionstheorie beeinflusste Kessler das soziale Denken, durch den russischen Geografen und Anarchisten Pjotr Alexejewitsch Kropotkin, der ebenfalls von Steiner in diesen Vorträgen zitiert wurde. Kropotkin begründete den libertären Kommunismus, der insbesondere in seinem Werk ‹Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt› formuliert wurde. Sein politisches Engagement führte dazu, dass er in Russland und Frankreich im Gefängnis landete. Kropotkins Philosophie erlangte Weltruhm und er wurde zu einem der Väter des Anarchismus, aber gerade in der Ukraine kamen seine Ideen einer konkreten Umsetzung am nächsten, und zwar zwischen 1917 und 1922 durch den libertären Kommunisten Nestor Machno und seine Bewegung, die Machnowschtschina. Es ging darum, alles auf gegenseitige Hilfe aufzubauen, indem man den Einheitsstaat abschaffte und föderalistische Strukturen einführte, autonome Räte, in denen horizontal frei kooperierende Gemeinden zusammengeschlossen waren. Doch dieser Versuch konnte den Großmächten, die ihn umzingelten, nicht lange standhalten.

Mars und Merkur

Sagte Heraklit nicht, dass der Krieg Vater aller Dinge sei? Der Kampf ums Dasein, der dem Krieg zugrunde liegt, kann als notwendiges formgebendes Prinzip innerhalb der Evolution angesehen werden. So wie das Kind lernt, «Nein!» zu sagen und sich der Welt gegenüberzustellen, sich als Individuum zu behaupten, haben die Menschen einen Prozess der Selbstbehauptung und Individualisierung durchlaufen, um ihr ‹Ich›, ihre moralische Autonomie und ihre Freiheit zu erleben. Dieses Prinzip der Konfrontation, das in einer Phase der Evolution notwendig ist, verweist auf die Kräfte des Kriegsgottes Mars. Doch als Träger des ultimativen Prinzips des Krieges, des Krieges aller gegen alle, verlangt er in einem bestimmten Stadium seiner Entwicklung, dass ihm ein anderes Prinzip hinzugefügt wird, das dieser Entwicklung einen neuen Impuls verleiht. Dieses neue Prinzip beruht nicht auf Konfrontation und Kampf, sondern auf dem Raum zwischen den Wesen, dem Zwischenraum. Dieses Prinzip ist mit Merkur verbunden, dem Botengott, dem Gott, der verbindet und fließende Bewegungen und Kommunikation fördert. Dieses Prinzip ist ebenso mit dem Dialog, der Interaktion und dem Austausch verbunden wie mit Medizin und Heilung, denn es hilft, einseitige Impulse, Sackgassen der Isolation, Verschlossenheit zu überwinden sowie Konfrontationen und Konflikte zu lösen.

Diese Polarität lässt sich imaginativ bis in die wissenschaftliche Auffassung von Materie erkennen, wie sie sich im 20. Jahrhundert entwickelte: den Welle-Teilchen-Dualismus. Auf der einen Seite kann Materie als Korpuskeln verstanden werden, als immer kleinere, voneinander getrennte und in sich zentrierte Einheiten, die sich wie Bausteine aneinanderfügen und die materielle Welt bilden. Das sind die formenden Kräften der Vergangenheit. Aber gleichzeitig kann dieselbe materielle Realität auch in Form von Wellen und Schwingungen beschrieben werden. Da öffnen sich Perspektiven und Lebensfelder. Wellen und Schwingungen sind Ausdruck von Wechselwirkungen und befinden sich in einem Zwischenraum, der aus Intervallen, aus Musikalität besteht.

Jedes Problem kann auf kriegerische Weise angegangen werden: durch das Prinzip der Konfrontation, welche impliziert, dass man eine bestimmte Feindfigur identifiziert (z. B. eine andere Person, einen anderen Staat oder sogar ein Virus) und ihr den Krieg erklärt, um den Sieg zu erringen. Umgekehrt ist es möglich, das Problem in Form eines Dialogs, einer Interaktion zu stellen. In dieser Situation gibt es nicht zwei feindliche Lager, sondern potenzielle Dialogpartner, die in der Lage sein müssen, eine Form der Verständigung zu finden und sich durch diese Interaktion auf eine höhere Ebene zu erheben, auf der jeder Beteiligte den für ihn richtigen Platz finden kann. Wir leben gerade an einer Wende in der Entwicklung der irdischen Menschheit, wo die alten Kräfte von Mars weiterwirken und das neue Prinzip von Merkur uns langsam entgegenkommt, damit eine Zukunft möglich wird. Diese Umbruchsituation zeigt sich in der Kluft zwischen den großen Idealen des Friedens, die die Herzen der Menschen bewegen, und der traurigen Realität der Gewalt, die unerbittlich fortdauert.

Die Menschheit ist eins

Wie können wir uns für eine Entwicklung einsetzen, die den Krieg überwindet? Politische Initiativen und institutionelle Reformen sind sicherlich unerlässlich, aber es scheint wichtig, zuerst an die Wurzel des Problems zu gehen: das innere Leben des Menschen, das spirituelle Leben.

Um einen Weg aus diesem ‹Daseinskampf› zu finden, verweist Steiner in seinem oben erwähnten Vortrag auf das pazifistische und brüderliche Ideal der geisteswissenschaftlichen Bewegung, die er förderte. Die ersten Grundsätze der von Helena Blavatsky begründeten Theosophischen Gesellschaft, die er damals vertrat, lauteten in der Tat: «Die Einheit allen Lebens als eine Tatsache der Natur aufzuzeigen und einen Kern einer universalen Bruderschaft zu bilden», und weiter: «Durch das Studium alter und moderner Religionen, Wissenschaften und Philosophien ein besseres Verständnis unter allen Völkern und die Erkenntnis der essenziellen Einheit allen Lebens zu fördern.»

Jedoch ist das Erleben dieser einheitlichen Seele der Menschheit, jener Realität, auf der das Ideal der universellen Geschwisterlichkeit beruht, dem Menschen nicht angeboren, sondern muss bewusst entwickelt werden. Es gilt, einen Raum zu schaffen, in dem dieses Bewusstsein in der inneren Erfahrung intensiviert werden kann, es gilt «einen Bruderbund zu gründen über die ganze Erde hin, ohne Rücksicht auf Rasse, Geschlecht, Farbe und so weiter. Das ist die Anerkennung der Seele, die der ganzen Menschheit gemeinsam ist.»6 So Steiner. Dieses Projekt möchte nicht für eine Sache kämpfen oder sich unmittelbar für Reformen einsetzen, sondern das innere Leben entwickeln und das Bewusstsein verändern, damit die Geschwisterlichkeit zuerst in den Seelen der Menschen entsteht: «Wir kämpfen nicht, wir bekämpfen auch nicht den Krieg oder etwas anderes, weil der Kampf überhaupt nicht zur höheren Entwickelung führt […] Da müssen wir nicht nur von Friede sprechen, uns den Frieden als Ideal hinstellen, Verträge schließen, Schiedsgerichtssprüche herbeisehnen, da müssen wir das geistige Leben, das Spirituelle pflegen, dann rufen wir in uns die Kraft hervor, die als Kraft der gegenseitigen Hilfeleistung sich über das ganze Menschengeschlecht ausgießt.»7

Die Geschichte der Theosophischen Gesellschaft und der Anthroposophischen Gesellschaft bis hin zu ihren jüngsten Entwicklungen zeigt, dass dieser Weg mit Prüfungen und Schwierigkeiten beladen ist, dass es sich um eine echte Arbeit handelt, auch wenn sie innerlich ist. Und dieses Streben nach Geschwisterlichkeit, diese Kultur der Geschwisterlichkeit betrifft nicht nur die Theosophische Gesellschaft oder die Anthroposophische Gesellschaft, es ist ein Prinzip, das alle Gemeinschaften und Netzwerke betrifft, die im Hinblick auf dieses Zukunftsideal entstehen, das auf ‹gegenseitiger Hilfe› beruht, um die alten Gesellschaftsformen zu überwinden, die vom Prinzip des ‹Daseinskampfs›, von Konkurrenz, Zwang und Krieg geprägt sind. Es geht nicht darum, den Krieg zu bekämpfen, sondern Gegengewichte zu schaffen. Diese Art von Gemeinschaften, die nach diesem übergeordneten Ideal streben, bilden Räume, aus denen echte Kraft entspringt, denn, so Steiner, «Zauberer sind die Menschen, die in der Bruderschaft zusammen wirken, weil sie höhere Wesen in ihren Kreis ziehen. Man braucht sich nicht mehr auf die Machinationen des Spiritismus zu berufen, wenn man mit Bruderliebe in einer Gemeinschaft zusammenwirkt. Höhere Wesen manifestieren sich da. Geben wir uns in der Bruderschaft auf, so ist dieses Aufgeben, dieses Aufgehen in der Gesamtheit eine Stählung, eine Kräftigung unserer Organe.»8

Ist das Prinzip der Gemeinschaftsbildung nicht der einzige Weg aus dem Gefühl der Ohnmacht, das uns in einer vom ‹Daseinskampf› beherrschten Welt überfällt? Es ist offensichtlich, dass bei der Bewältigung schwieriger materieller Aufgaben die Zahl derer, die sich gegenseitig helfen, entscheidend ist. Dies ist jedoch weniger offensichtlich, wenn es sich um eine geistige, innere Aufgabe handelt. Vielleicht ist es gerade diese Täuschung, die es heute zu überwinden gilt. Denn wir brauchen notwendig die anderen für diese geistige Entwicklung. Die spirituelle ‹gegenseitige Hilfe› wird zur Quelle neuer Kräfte!

Freundschaft in finsteren Zeiten

Das Ideal der menschlichen Brüderlichkeit und das Bewusstsein für diese einheitliche Seele der Menschheit, die alle Menschen ohne Ausnahme vereint, will in der Praxis, in der täglichen Realität verwirklicht werden. Wie der Philosoph Wladimir Solowjew in seinem Buch ‹Der Sinn der Liebe› beschreibt, muss die allgemeine menschliche Liebe in konkreten Beziehungen zwischen bestimmten Menschen verwirklicht werden, sonst bleibt sie nur ein unverwirklichtes Potenzial. Solowjew sieht in der Partnerschaft des Ehepaars den geeignetsten zwischenmenschlichen Raum für die Realisierung der spirituellen Liebe. Jedoch bildet jede reale zwischenmenschliche Beziehung einen solchen privilegierten Raum für die Verwirklichung der Liebe.

Hannah Arendt weist auf die Bedingungen hin, die für diesen zwischenmenschlichen Raum notwendig sind. In einer 2018 veröffentlichten Rede mit dem Titel ‹Freundschaft in finsteren Zeiten›, die sie zu Ehren Lessings hielt, beschreibt sie den schöpferischen Moment der menschliche Begegnung in seiner kosmologischen Tragweite. Wenn die Welt unmenschlich geworden ist, dann haben die Menschen keine andere Wahl, als einander erneut zu suchen. Und wenn Menschen es gelingt, sich in diesen «finsteren Zeiten» zusammenzufinden, dann steht das ‹Wort› im Mittelpunkt, die Fähigkeit, einen Dialog zu führen und sich über die Welt auszutauschen. Sie meint sogar, dass die Welt nur dort existiert, wo zwei Menschen sich über sie austauschen können. Wenn es nicht mehr möglich ist, sich über die Welt auszutauschen, dann verschwindet die Welt.

«Denn menschlich ist die Welt nicht schon darum, weil sie von Menschen hergestellt ist, und sie wird auch nicht schon dadurch menschlich, dass in ihr die menschliche Stimme ertönt, sondern erst, wenn sie Gegenstand des Gesprächs geworden ist. Wie sehr wir von den Dingen der Welt betroffen sein mögen, wie tief sie uns anregen und erregen mögen, menschlich werden sie für uns erst, wenn wir sie mit unseresgleichen besprechen können. Was nicht Gegenstand des Gesprächs werden kann, mag erhaben oder furchtbar oder unheimlich sein, es mag auch eine Menschenstimme finden, durch die es in die Welt hineintönt; menschlich gerade ist es nicht. Erst indem wir darüber sprechen, vermenschlichen wir das, was in der Welt, wie das, was in unserem eigenen Innern vorgeht, und in diesem Sprechen lernen wir, menschlich zu sein.»9

Hier reicht die Geschwisterlichkeit nicht aus, und deshalb sagt Hanna Arendt, dass wir ‹Freundschaft› brauchen. Eine Geschwisterlichkeit, in der das Gespräch unmöglich ist oder deren Teilnehmende sich an allgemein unwiderlegbare Wahrheiten halten, ist unmenschlich. Die Wahrheit muss in jeder menschlichen Begegnung infrage gestellt werden. In einem wirklich menschlichen Raum verschwinden alle vorgegebenen Wahrheiten, und was zählt, ist die Wahrheit, die der andere mitbringt. Das Wesentliche liegt nicht in einer Wahrheit, sondern in der Begegnung vieler Wahrheiten. Und so betreten wir einen realen zwischenmenschlichen Raum, eine ‹geistige Freundschaft›, deren Bedingungen Steiner ebenfalls beschreibt: «Tolerant sein, heißt in geisteswissenschaftlichem Sinne noch etwas anderes, als was man gewöhnlich darunter versteht. Es heißt, auch die Freiheit des Gedankens der anderen zu beachten […]. Nicht bloße Freiheit der Person sollen wir gewähren, sondern völlige Freiheit, ja sogar die Freiheit der fremden Meinung sollen wir schätzen.»10 Das ist lebenspraktisch gemeint. Sie ist in der heutigen Welt zu wenig praktiziert.

Die Anthroposophische Gesellschaft und ihre Hochschule für Geisteswissenschaft können als Ausbildungsraum für die Steigerung dieser zwischenmenschlichen Kompetenz dienen. Wir brauchen diese Dialogfähigkeit, die darin besteht, die Welt und uns selbst menschlicher zu machen. Dafür brauchen wir die anderen Menschen und Räume für Dialoge, in denen diese menschliche Substanz erzeugt werden kann, so wie der Honig im Bienenstock erzeugt wird. Diese Kompetenz des vermenschlichenden Dialogs wird in der gegenwärtigen Welt dringend gebraucht: Das ist es, was uns der Krieg ‹sagt›. Der Krieg beginnt dort, wo der Dialog aufhört. Wenn die diplomatischen Kanäle unterbrochen werden, bricht der Krieg aus. Das Ende des Dialogs ist der Beginn des Krieges – und nur der Dialog kann den Krieg beenden.

Gedanken der Liebe

1933 forderte das ‹Institut für intellektuelle Zusammenarbeit für den Dialog im Dienste des Friedens› prominente Persönlichkeiten auf, mit einem Partner ihrer Wahl einen Dialog über das Thema ‹Krieg› zu führen. So kam es zum Briefwechsel zwischen Albert Einstein und Sigmund Freud, der unter dem Titel ‹Warum Krieg?› veröffentlicht wurde. Mehr als der Inhalt des Briefwechsels beeindruckt beim Lesen die Haltung, mit der diese beiden bedeutenden Persönlichkeiten das Thema angegangen sind. In Bezug auf die Frage des Krieges fühlen sich die beiden Intellektuellen jenseits ihres Fachgebiets als Menschen angesprochen – als Menschen gegenüber einer allgemein menschlichen Frage, die sie zu großer Bescheidenheit aufruft. Nach einigen Überlegungen zu den möglichen äußeren oder institutionellen Ursachen des Krieges sehen sie sich veranlasst, die Frage nach der menschlichen Psyche zu stellen. Was kann im Menschen die Ursache der Neigung zum Krieg sein? «Wie ist es möglich, dass sich die Masse […] bis zur Raserei und Selbstaufopferung entflammen lässt? Die Antwort kann nur sein: Im Menschen lebt ein Bedürfnis zu hassen und zu vernichten», schreibt Einstein.11 Freud, der sich auf seine Forschungen zur Tiefenpsychologie beruft, gibt zu, dass es einen solchen Zerstörungsinstinkt gibt, der jedoch von einem zweiten Instinkt begleitet wird. Durch die Stärkung dieses zweiten Instinkts könnten sich Kräfte entfalten, die die Tendenz zu Hass und Zerstörung überwinden. Es handelt sich um die Liebe, die er ‹Eros› nennt: «Wenn die Bereitwilligkeit zum Krieg ein Ausfluss des Destruktionstriebs ist, so liegt es nahe, gegen sie den Gegenspieler dieses Triebes, den Eros, anzurufen. Alles, was Gefühlsbindungen unter den Menschen herstellt, muss dem Krieg entgegenwirken.»12

Ein anderer Dialog fragt auch nach der Liebe. 1909 begann auf Gandhis Initiative hin ein Briefwechsel zwischen dem hinduistischen Pazifisten und dem russischen Schriftsteller Tolstoi über die Frage der ‹Gewaltlosigkeit›, des ‹Nichtwiderstehens gegen das Böse›. Auch hier sind der tiefe Respekt der beiden Gesprächspartner füreinander, ihre Bescheidenheit, ihr Streben nach Dialog, ihre Komplementarität sowie ihre Übereinstimmungen beeindruckend. Über ihre geografische Entfernung, ihre kulturellen und religiösen Unterschiede hinaus fühlen sich der indische Aktivist und der russische Denker in ihren Bestrebungen tief verbunden. Man kann spüren, dass ein unsichtbarer Faden sie verbindet, so wie er alle Menschen auf der Erde verbindet, die sich nach dieser universellen Brüderlichkeit sehnen, um ein Netz des Lichts über den ganzen Globus zu bilden. Inspiriert von ihrem Austausch, lässt Tolstoi die politische Dimension seiner Vorstellung von Liebe erahnen: «Die Frage ist nun, dass wir uns für eines von zwei Dingen entscheiden müssen – entweder zuzugeben, dass wir überhaupt keine religiöse Ethik anerkennen, sondern unsere Lebensführung durch das Recht der Macht bestimmen lassen, oder zu fordern, dass alle Zwangsabgaben abgeschafft werden und alle juristischen und polizeilichen, vor allem aber die militärischen Institutionen abgeschafft werden. […] Sozialismus, Kommunismus, Anarchismus, Heilsarmeen, die Zunahme der Kriminalität, die Arbeitslosigkeit, der immer absurdere Luxus der Reichen und das zunehmende Elend der Armen, die erschreckend steigende Zahl der Selbstmorde – all das sind Anzeichen für diesen inneren Widerspruch, der aufgelöst werden muss und wird. Und zwar so, dass das Gesetz der Liebe anerkannt und jegliches Vertrauen auf Gewalt aufgegeben wird.»13

Hier wird Anthroposophie zur Kraft, als Geisteswissenschaft, die die spirituelle Dimension des Menschen objektiv beschreibt. Sie zeigt, dass der Geist nicht eine Wolke von Gedanken ist, die vom Gehirn abgesondert wird, sondern dass der Geist umgekehrt eine ursprüngliche Realität im Hintergrund aller sichtbaren äußeren Manifestationen ist. Diese Wahrnehmung ermöglicht es, den wirksamen Realitätscharakter unseres eigenen spirituellen Lebens zu spüren. Gedanken der Liebe sind wirkende Realitäten. Nicht nur Liebesgedanken für diejenigen, die wir von Natur aus lieben, sondern vor allem Liebesgedanken für diejenigen, die uns schwieriger zu lieben sind, mit denen wir vielleicht nicht einverstanden sind, die uns verletzt haben, die wir als feindlich empfinden. Liebe ist eine sehr konkrete Kapazität, die jeder Mensch besitzt und einsetzen kann, wenn er über den eigenen Schatten zu springen vermag. «Liebe ist die stärkste Macht der Welt, und doch ist sie die demütigste, die man sich vorstellen kann», hatte Gandhi gesagt. Liebe ist eine Macht, die in der Lage ist, die Welt von innen heraus, vom Grund aus zu verwandeln. So formuliert Steiner das Friedensprinzip der anthroposophischen Bewegung: «Wir bekämpfen nicht, wir tun etwas anderes: Wir pflegen die Liebe, und wir wissen, dass mit diesem Pflegen der Liebe der Kampf verschwinden muss. Wir stellen nicht Kampf gegen Kampf. Wir stellen die Liebe, indem wir sie hegen und pflegen, gegen den Kampf. […] Nicht durch Kampf überwindet man den Kampf, nicht durch Hass überwindet man den Hass, sondern den Kampf und den Hass überwindet man in Wahrheit allein durch die Liebe.»14


Bilder Miriam Wahl, Dshamilja, zehnteilige Serie, Dispersion und Aquarell auf Papier, je 70 × 50 cm, 2018

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Footnotes

  1. Riccardo Petrella, Pour mettre fin à la guerre en Ukraine, il faut savoir comment empêcher les nouvelles guerres. L’Agora des Habitants de la Terre. (Übersetzt aus dem Französischen vom Verfasser dieses Artikels.)
  2. Simone Weil, Écrits historiques et politiques. Paris 1960. (Übersetzt aus dem Französischen vom Verfasser dieses Artikels.)
  3. Nicolas Berdiaev, De l’esclavage et de la liberté de l’homme. Aubier 1992. (Übersetzt aus dem Französischen vom Verfasser dieses Artikels.)
  4. Rudolf Steiner, Die Welträtsel und die Anthroposophie. Zweiundzwanzig öffentliche Vorträge, gehalten im Architektenhaus, Berlin. GA 54.
  5. Siehe zum Beispiel Eric Tariant, ‹Nous sommes l’espèce la plus coopérative du monde vivant›, in: Le Temps, 2. Januar 2018.
  6. Unsere Weltlage. Krieg, Frieden und die Wissenschaft des Geistes. Berlin, 12. Oktober 1905. GA 54.
  7. Ebd.
  8. Bruderschaft und Daseinskampf. Vortrag in Berlin am 23. November 1905. GA 54.
  9. Hannah Arendt, Freundschaft in finsteren Zeiten. Gedanken zu Lessing. Berlin 2018.
  10. Bruderschaft und Daseinskampf. A. a. O.
  11. Albert Einstein, Sigmund Freud, Warum Krieg? Ein Briefwechsel. Diogenes, 2005.
  12. Ebd.
  13. Correspondence between Tolstoy and Gandhi. (Übersetzt aus dem Englischen vom Verfasser dieses Artikels.) https://en.wikisource.org/wiki/Correspondence_between_Tolstoy_and_Gandhi
  14. Unsere Weltlage. Krieg, Frieden und die Wissenschaft des Geistes. Berlin, 12. Oktober 1905. GA 54.

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