Zur Kosmologie der Abend- und der Morgenkräfte von Jungfrau und Fischen. Die Morgen- und die Abenddämmerung sind im Tageslauf die wechselvollste Zeit, denn hier ändert sich in jeder Minute das Licht, gewinnt die Landschaft von Moment zu Moment anderes Aussehen.
«Es wird die Aufgabe der guten, der heilsamen Wissenschaft sein, gewisse kosmische Kräfte zu finden, welche durch das Zusammenwirken zweier kosmischer Richtungsströmungen auf der Erde entstehen können. Diese zwei kosmischen Richtungsströmungen werden sein: Fische – Jungfrau. Vor allen Dingen wird das Geheimnis zu entdecken sein, wie dasjenige, was aus dem Kosmos in der Richtung von den Fischen her als Sonnenkraft wirkt, sich verbindet mit dem, was in der Richtung von der Jungfrau her wirkt. Das wird das Gute sein, dass man entdecken wird, wie von zwei Seiten des Kosmos her Morgen- und Abendkräfte in den Dienst der Menschheit gestellt werden können; auf der einen Seite vonseiten der Fische, auf der andern Seite vonseiten der Jungfrau her.» Rudolf Steiner, GA 178, Vortrag vom 25. November 1917. Die Morgen- und die Abenddämmerung sind im Tageslauf die wechselvollste Zeit, denn hier ändert sich in jeder Minute das Licht, gewinnt die Landschaft von Moment zu Moment anderes Aussehen. Es überrascht deshalb nicht, dass auch für die Seele diese Zeit des Wechsels als besonders gehaltvoll erlebt wird. In diesen Stunden des Übergangs herrscht eine einzigartige Balance zwischen der Ruhe und Weite der Nacht und der Aktion und Konzentration des Tages. «Und alles war erquickt, mich zu erquicken», so besingt Goethe in seiner ‹Zueignung› die Morgenstunde, und Shakespeare schreibt über den Abend, dass man hier «den Rahm des Tages schöpfe». Der Kirchenlehrer Thomas von Aquin denkt in diesem Sinne in seiner ‹Summe der Theologie› darüber nach, wie sich im Reich der Engel und deren Inspiration für den Menschen Abend und Morgen unterscheiden. Ein morgendliches Erkennen stehe am Beginn und würde, so Thomas, mit dem Werdenden, dem Sohn verbunden sein und ein abendliches Denken mit dem Gewordenen, dem Denken aus dem Vater. Der Rückblick am Abend, die philosophische Grundstimmung der Seele im Blick auf das Gewordene und umgekehrt der unternehmerische Geist am Morgen spiegeln diese Denkseiten in der Seele. (1) Wie wäre wohl die Konferenz der Waldorfschulen beschaffen, wenn sie nicht am Abend, der Zeit der Reflexion, sondern am Morgen, der Zeit der Progression stattfinden würde?
Der Wechsel von Tag und Nacht ist im strengen Sinne ein Rhythmus, der nur den Menschen betrifft. Eine Katze kann man, so oft man will, in der Nachtruhe stören, das Tier bleibt gesund. So wie es am Tage wachend träumt, ruht es ‹schlafend-träumend› in der Nacht, hat einen Nickschlaf. Anders der Mensch. Er schöpft die Pole von Tag und Nacht aus, ist am Tage vollständig wach und geht in der Nacht durch die vielfältigen Phasen des Schlafes.
Für den Wechsel von Tag und Nacht ist die Erdrotation verantwortlich, die sich besonders im menschlichen Organismus spiegelt. Wir Menschen sind also ganz mit der Erde verbunden, weil wir ihre Rotation in unseren Zeitorganismus aufgenommen haben. Wir messen die Zeit heute von Sekunde, Minute und Stunde über Tag und Woche zu Monat und Jahr in sieben Einheiten. Jeder dieser sieben Rhythmen hat seine eigene Beziehung zum Menschen. Dass der Tageslauf, als mittlerer zentraler Rhythmus, dabei sich im menschlichen Wesenskern, dem Ich spiegelt, in dessen zwei Zuständen von Schlafen und Wachen, überrascht ebenfalls nicht.
Für die anthroposophische Heilmittelgewinnung spielt nun Rudolf Steiners Hinweis über die Kräfte des Morgens und des Abends eine Rolle, denn er spricht von ‹heilsamer› Wissenschaft. Wie ist dabei zu verstehen, dass er Abend und Morgen mit den Tierkreisbildern von Jungfrau und Fischen gleichsetzt? In den Fischen steht die Sonne im Frühling und im Tierkreisbild der Jungfrau im Herbst. Nun spiegelt der Frühling die Stimmung des Morgens und der Herbst ist der Abend des Jahreslaufes. Deshalb ist Ostern ein Fest des Morgens, Weihnachten ein Fest der Nacht und Johanni ein Fest des Mittags. Für die Übereinstimmung von Jahr und Tag gibt es auch ein theologisches Motiv. So entsprechen den 40 Tagen in der Wüste die 40 Jahre in Ägypten, den drei Jahren des Christus die drei Tage von Karfreitag bis Ostersonntag, und der Prophet Hesekiel lässt Gott als notwendige Zeit der Sühne sagen: «Ich gebe dir einen Tag für ein Jahr.»
Die Tag- und Nachtgrenze in drei Kulturen
Frühling und Herbst ist also der große Morgen, der große Abend. Dabei gehört zum Frühling das Tierkreisbild der Fische, denn aus dieser Sternenregion scheint die Sonne in dieser Jahreszeit, und entsprechend die Jungfrau zum Herbst. Um diesen stellaren Charakter von Frühling und Herbst bzw. Morgen und Abend verstehen zu können, lohnt es sich, größere Zeiträume in den Blick zu nehmen. Die Verschiebung des Frühlingspunktes hat zur Folge, dass diese Jahreszeit nicht immer aus den Fischen eingeleutet wird. So war es in der alten ägyptischen Zeit das Tierkreisbild Stier, von dem aus die Sonne den Frühling feierte. Dieses Bild war es, das im Jahres- und Tageslauf in das Wachbewusstsein führte. Hathor, die Kuhgöttin mit der Sonne auf dem Haupt, aber auch die minoischen Stierkulte bringen den Rang des Stieres in dieser Zeit ins Bild. Und es ist der Skorpion, den die Nacht führt. Das Fremde und Gefährliche, das die Nacht damals bedeutete, kommt im Skorpion zum Ausdruck. Wenn man als Kind nachts durch das Elternhaus irrt, mag man sich allein und verloren vorkommen, wie wohl jeder Ägypter, wenn er die unbekannte Nacht wach erleben musste. Stier und Skorpion markierten jeweils den Gegensatz von Tag und Nacht, als die Erweckung in den irdischen Willen im Stier und als Abgrund im Skorpion. Die Achse Stier–Skorpion, die sich auch noch in den einzigen roten Hauptsternen des Tierkreises Aldebaran und Antares manifestiert, kennzeichnet somit die Tag- und Nachtgrenze als Abgrund.
Mit der griechisch-römischen Kultur wandert der Frühlingspunkt in den Widder. Der Widder führt in den Tag, die Waage in die Nacht. Es sind kleine Bilder, Bilder des Gleichgewichts. Was die Waage als Balance im Raum zeigt, das präsentiert der Widder in der Zeit, denn dieses Bild wird immer mit gedrehtem Haupt dargestellt. Nach vorn gewandt, schaut das Tier in die Vergangenheit. Hier ist nichts mehr von der Dramatik des Übergangs zu finden, die Stier und Skorpion zeigten, sondern Gleichgewicht und Ausgleich. ‹Medèn ágan›, ‹alles mit Maß›, das stand über dem delphischen Tempel und Widder und Waage bringen dieses griechische Ideal zum Ausdruck. Abend und Morgen sind nicht mehr Abgründe, wie in früherer Zeit, sondern Punkte eines Ausgleichs. Der Frühlingspunkt wandert weiter und erreicht die Fische. Nun lautet die Achse Fische–Jungfrau. Sind Widder und Waage die kleinsten Bilder, so sind nun Fische und Jungfrau die gewaltigsten. 46 Grad umspannt die Jungfrau und 38 Grad die Fische. Der Übergang von Tag und Nacht, diese Schwelle des Bewusstseins, wird zu einem eigenen großen Lebensfeld. Wenn heute davon die Rede ist, dass Wandel und Krise zum Dauerzustand werden, dann sind Fische und Jungfrau dafür bildgewaltige Zeugen. (2)
Fische und Jungfrau in der Meditation
So groß das Bild der Fische, so unscheinbar ist es. Deshalb findet man das Bild durch seinen ausdrucksvollen Nachbarn, das quadratische Bild Pegasus. Um dieses Bild greifen zwei zarte Sternreihen der Fische, die in runden Flächen enden. Wie zwei Tastorgane scheinen sie in den Umkreis sich zu strecken. Alles ist auf Weite angelegt. Wie ein Fisch im Wasser, der mit seiner Umgebung eins wird, so sind die Fische ebenfalls an die Umgebung hingegeben. Wie anders die Jungfrau. Hier konzentriert sich alles auf den Hauptstern Spica. Es ist die Ähre, die die Jungfrau Demeter in den Händen hält. Das weit ausgebreitete Sternbild sammelt alle Energie in diesem einen Hauptstern. Was bei den Fischen als Hingabe an die Umgebung zu beobachten ist, ist hier Sammlung und Konzentration. Die von Rudolf Steiner angsprochene ‹heilsame› Achse verbindet diese so gegensätzlichen Bilder. Zugleich erinnert sie daran, dass heute wohl kein Wandlungsmoment, keine Krise zu denken ist, in der zu ihrer Bewältigung nicht beide Eigenschaften notwendig sind. Fortwährend kommt es darauf an, gleichzeitig in Konzentration sich auf sich selbst zu besinnen und dabei sich an die Umgebung hinzugeben. Zum Kern der Meditation gehört es, dass die innere Kraft sich um ein Bild oder Gedanken sammelt und dann in absichtsloser Erwartung in die Peripherie lauscht. Es ist die Wende vom Augenmenschen zum Ohrenmenschen, von der Tag- zur Nachtseite der Meditation. Für diesen intimen inneren Moment sind die Bilder Fische und Jungfrau die kosmischen Repräsentanten. Platon denkt im ‹Timaios› über den Ort der Weltenseele nach und sieht sie dort, wo die Kreise des Seienden, Beständigen und die Kreise des Werdenden sich begegnen. (3) Deshalb steht das griechische Zeichen Chi (X) für die Weltenseele. Der Kreis des Seienden ist der Himmelsäquator, denn hier ziehen ewig gleich die Sterne. Der Kreis des Werdenden ist die Sonnen- und Planetenbahn in ihrem fortwährenden Wandel. Im Frühlings- und im Herbstpunkt schneiden sich beide Kreise und spannen so die große kosmische Achse der platonischen Weltenseele, eine Achse, die in jede Meditation als die Gemeinschaft von Morgen und Abend, von Auge und Ohr sich zieht.
(1) Wolf Ulrich Klünker, Die Erwartung der Engel, S. 195.
(2) Siehe auch: Wolfgang Held, Im Zeichen des Tierkreises, Stuttgart 2015.
(3) Herbert Schade, Lamm Gottes und Zeichen des Widders, Freiburg 1998.
Zu den Bildern: Cautes und Cautopates, die Sinnbilder für die Morgen- und die Abendkräfte im spätrömischen Mithraskult. Cautes hält die Fackel empor, denn hier geht die Sonne auf, Cautopates senkt sie, denn hier geht die Sonne unter. Die Beine sind überkreuzt, um den Schnitt von Himmelsäquator und Ekliptik zum Ausdruck zu bringen.