Gehirnwellen synchronisieren

Im Sommer 2023 veröffentlichte die Zeitschrift ‹Scientific American› einen Artikel über die erstaunliche Synchronisation von Elektroenzephalo­grammen bei Menschen und Tieren in kooperativen Situationen. Ein Forschungsgebiet, das weitreichende Fragen aufwirft.


Ein großer Teil unseres täglichen Lebens findet nicht allein, sondern mit anderen statt. Wenn wir Gedanken oder Gefühle mit anderen austauschen, wenn wir Entscheidungen treffen oder gemeinsam handeln, erkennen wir sofort, dass diese sozialen Interaktionen oft ganz neue Elemente hineinbringen: Die Wärme und Entschlossenheit der Zusammenarbeit ist im Allgemeinen ein solcher Bonus. Und zur geistigen Wirkung sprach Steiner zum Beispiel über die Wirkung von Menschen, die gemeinsam meditieren (nicht notwendigerweise im selben Raum), und sagte, dass sie nicht multiplikativ, sondern exponentiell sei.1 Vor mehr als 20 Jahren begannen Wissenschaftler zu fragen, ob gemeinsame Aktivitäten – sofern sie sich im Gehirn widerspiegeln – dort mit Hightech gemessen werden können.2

Neuronen tanzen

Eine frühe Erkenntnis ist, dass sich die Gehirnwellen von Menschen, die sich unterhalten oder eine Erfahrung teilen, synchronisieren.3 Neuronen an entsprechenden Stellen in den verschiedenen Gehirnen feuern gleichzeitig und erzeugen so passende Muster wie Tänzer, die sich gemeinsam bewegen. Hör- und Sehbereiche des Gehirns reagieren auf ähnliche Weise auf Formen, Geräusche und Bewegungen, während sich Gehirnbereiche höherer Ordnung bei anspruchsvolleren Aufgaben ähnlich verhalten, zum Beispiel wenn es darum geht, aus etwas Gesehenem oder Gehörtem einen Sinn zu machen.

In jüngerer Zeit entdeckte man, dass die Synchronie zwischen Gruppen von Menschen signifikant höher ausfiel, wenn die Individuen miteinander kooperierten, als wenn sie im Wettbewerb standen.4 In einer weiteren Studie waren diejenigen, die zuhörten und sich am meisten um einen Konsens bemühten – und nicht diejenigen, die am meisten redeten, diejenigen, deren Gehirne sich zuerst mit denen der anderen synchronisierten und die die Synchronie in der größeren Gruppe vorantrieben. «Indem sie miteinander sprachen und als Gruppe zu einem Konsens kamen, passten sich die Gehirne der Teilnehmer an.»5 Synchronie wurde mit subjektiven Berichten über soziale Verbundenheit, Engagement und Kooperationsbereitschaft sowie mit Erfahrungen von sozialem Zusammenhalt und ‹Selbst-Andere-Verschmelzung› in Verbindung gebracht.6

Synchronisation als Grundlage des Bewusstseins?

Im jüngsten Gruppenexperiment – insgesamt 49 Probanden! – sprachen Teilnehmende, die als Personen mit hohem sozialem Status wahrgenommen wurden, mehr und signalisierten Unglauben gegenüber anderen, und in ihren Gruppen gab es ungleiche Redeanteile und eine geringere neuronale Ausrichtung. Im Gegensatz dazu ermutigten Teilnehmende mit einer zentralen Position in ihren realen sozialen Netzwerken andere zum Sprechen, was eine größere neuronale Ausrichtung der Gruppe ermöglichte. Sozial zentrale Teilnehmende waren auch eher in der Lage, sich neutral auf andere in ihren Gruppen auszurichten.7

Schließlich ist es interessant, dass in den meisten dieser Studien eine wichtige Frage gestellt wurde: Ist die Synchronisation des Gehirns die Grundlage für menschliche Interaktion? Wenn ja, kann die Synchronisation als der Aspekt des Gehirns angesehen werden, der soziale Interaktion möglich macht – beziehungsweise spiegelt. Noch radikaler als diese These ist die groß angelegte Synchronisation neuronaler Aktivität als neuronale Grundlage des Bewusstseins selbst vorgeschlagen worden.


Bild Aus der Arbeitsgruppe ‹An der Zukunft bauen› mit Rik ten Cate auf der Goetheanum-Weltkonferenz 2023. Foto: Xue Li

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Footnotes

  1. Rudolf Steiner, Aus den Inhalten der esoterischen Stunden. GA 266/III, Dornach 1998, S. 440.
  2. Blutbewegung, elektrische und magnetische Aktivität sind die am häufigsten verwendeten Methoden für neurologische Studien. Die Blutbewegung wird in der Regel mit der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRI) gemessen, die Veränderungen des Blutflusses im Gehirn erkennt, um aktive Bereiche zu identifizieren. Die elektrische/magnetische Aktivität wird mit der Elektroenzephalografie (EEG)/Magnetenzephalografie (MEG) gemessen, bei der die elektrische/magnetische Aktivität des Gehirns über Sensoren auf der Kopfhaut aufgezeichnet wird. Die elektrische Impedanztomografie (EIT) verwendet auch elektrische Ströme, um Bilder des Gehirns zu erstellen, ist aber wesentlich kompakter.
  3. Synchronie, die sich aus dem ‹Hyperscanning› (Aufzeichnung von zwei oder mehr Personen/Organismen) ergibt. Obwohl die Synchronie zwischen einem Organismus und einem Reiz (z. B. Orchester) bzw. zwischen Teilen des Gehirns oder anderen Organen auch Synchronie zeigen kann, ist das hier nicht gemeint.
  4. X. Shi, R. Wang, X. Wu & J. Zhang, Decoding Human Interaction Type from Inter-brain Synchronization by Using EEG Brain Network. IEEE Journal of Biomedical and Health Informatics 1–12 (2023), doi:10.1109/JBHI.2023.3329742.
  5. L. Denworth, Brain Waves Synchronize when People Interact. Scientific American, https://www.scientificamerican.com/article/brain-waves-synchronize-when-people-interact/ (2023).
  6. A. L. Valencia & T. Froese, What binds us? Inter-brain neural synchronization and its implications for theories of human consciousness. Neuroscience of Consciousness 2020, niaa010 (2020).
  7. B. Sievers, C. Welker, U. Hasson, A. M. Kleinbaum & T. Wheatley, Consensus-building conversation leads to neural alignment. Preprint: https://citeseerx.ist.psu.edu/document?repid=rep1&type=pdf&doi=047ce34ac09935ce9a4e323cf620391a3445cacf.

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