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Farbe bekennen: Goethe und die Naturwissenschaften

Der Widerspruch zwischen Goethes Selbsteinschätzung sowie eigentlicher Intention und ihrer Beurteilung durch die Wissenschaftswelt gibt Anlass, sich um einen unbefangenen Blick zu bemühen und das naturwissenschaftliche Vermächtnis Goethes erneut zu prüfen. Einmalige Gelegenheit hierzu bietet eine Ausstellung der Klassik Stiftung Weimar mit dem Titel ‹Abenteuer der Vernunft. Goethe und die Naturwissenschaften um 1800›.


Der Geburtstag des Dichters und Naturforschers jährte sich zum 270. Mal. Noch immer ist eine gewisse Ratlosigkeit gegenüber Goethes naturwissenschaftlichem Werk festzustellen. Diese tritt zumeist im Gewand einer szientistischen Anmaßung auf oder zeigt sich im beständigen Pochen auf Goethes sogenannter ‹verbitterter Polemik› gegen Newton. Auch die naturwissenschaftliche Fachwelt scheint am Wesentlichen vorbeizusehen, gerade dann, wenn deren Vertreter Goethes Beitrag zur Naturforschung entlang ihrer eigenen Kriterien und Standards prüfen und auf dieser Basis dann Gemeinsamkeiten festzustellen oder ‹Irrtümer› zu entlarven versuchen.

Goethe selbst sah sein eigentliches Verdienst nicht in der Poesie, sondern in der Naturforschung, insbesondere in der Farbenlehre: «Dass ich aber in meinem Jahrhundert in der schwierigen Wissenschaft der Farbenlehre der Einzige bin, der das Rechte weiß, darauf tue ich mir etwas zugute, und ich habe daher ein Bewusstsein der Superiorität über viele», soll er gegenüber Johann Peter Eckermann geäußert haben.

Jahrhunderte überbrückende Gespräche

Die Präsentation in der Ausstellung ist sehenswert, nicht zuletzt aufgrund des Widerspruchs, zu dem sie anregt. Auf zwei Etagen werden 400 von 23 000 Stücken aus Goethes naturwissenschaftlicher Sammlung präsentiert, gegliedert in drei Bereiche: Zeit und Erde, Ordnung und Entwicklung, Licht und Substanz. Es wird ersichtlich, wie intensiv Goethe die aktuellen naturwissenschaftlichen Debatten seiner Zeit verfolgte und mit welchen aus seiner Methode gewonnenen Überzeugungen er sich jeweils in die wissenschaftliche Kommunität hineinbegab. Denn Wissenschaft bestand für Goethe nicht nur im eigenen Erforschen der Phänomene, sondern war vor allem ein gleichzeitiges, nachzeitiges, die Jahrhunderte überbrückendes Gespräch innerhalb einer Forschergemeinschaft. Dazu gehörten auch heftige Kontroversen, wie zum Beispiel zwischen Vulkanisten und Neptunisten über die Entstehung des Basalts. In diesem Streit traten schlie­ßlich – überraschend – Goethe und Alexander von Humboldt als Antipoden auf. Mancher Besucher wird auch erstaunt sein, zu erfahren, dass Goethe eine Theorie über die Herkunft der Findlinge entwickelte und offiziell als Vater der Eiszeitidee gilt; oder dass er Mitbegründer und ab 1803 Präsident der ‹Sozietät für die gesamte Mineralogie zu Jena› war, der ersten geisteswissenschaftlichen Gesellschaft der Welt.

In der zweiten Etage der Ausstellung, die vornehmlich der Farbenlehre gewidmet ist, erwartet den Besucher eine weitere Überraschung: Auf einer überdimensionierten Leinwand erklärt der Astrophysiker Harald Lesch (‹Leschs Kosmos›) als Videodozent die Aktualität mancher Exponate. Die Zuschauer erfahren einiges von dem, was Goethe ‹noch nicht wusste› und was erst dank fortgeschrittener Forschung entdeckt wurde: unter anderem, dass das ‹Licht› sich in ‹elektromagnetischen Wellen› durch den Raum bewege und dass der Physiker Joseph Fraunhofer 1813 dank der ‹Zerlegung› des ‹Lichtes› mithilfe einer Doppelspaltblende, der ‹Beugung› am Strichgitter und der Entdeckung von dunklen Linien (‹Fraunhoferlinien›) die spätere ‹Spektralanalyse› der ‹Astrophysik› mitbegründete. Wer Goethes schriftliche Zeugnisse zum ‹Fraunhoferischen Versuch› kennt, weiß, was Goethe selbst von dessen Experimenten hielt: Sie entbehrten einer eigentlichen, wissenschaftlichen Idee und schafften stattdessen bloß eine «zweite fruchtlosere Empirie». Goethe hält Fraunhofer entgegen, was bereits seine Kritik an Newton begründete, nämlich, dass «das ewig reine Licht weder gefärbt noch durchstrichelt werden» könne. Für Goethe war das Licht ein nicht zusammengesetztes Ganzes, das sich einem anderen Ganzen, der Dunkelheit, entgegensetzte, wodurch unter Anwesenheit eines trüben Mediums das Wechselspiel der Farben, die Totalität und Harmonie des Farbenkreises, entstand.

Sämtliche Bewusstseinskräfte

Das Weltbild, innerhalb dessen Rahmen solche Aussagen Harald Leschs in apodiktischer, gleichsam selbstvergessener Weise getätigt werden können, steht Goethes Sicht auf die Natur diametral entgegen. Wenn hier die Rahmung der Ausstellung infrage gestellt wird, sollen damit nicht die ‹Richtigkeit› solcher Theorien und ihr Geltungsraum innerhalb eines herrschenden wissenschaftlichen Bezugsrahmens angezweifelt werden. Tatsächlich können die genannten Erklärungen durch entsprechende technisch-experimentelle Anordnung gestützt, auch die Hypothese der ‹Wellennatur› des Lichtes kann derart technologisch rekonstruiert und in diesem Sinne ‹veranschaulicht› werden. Es darf nur nicht ein Teil der Bedingungen, unter denen etwas erscheint, mit den Gründen und Ursachen der Phänomene verwechselt werden.

Dass ich aber in meinem Jahrhundert in der schwierigen Wissenschaft der Farbenlehre der Einzige bin, der das Rechte weiß, darauf tue ich mir etwas zugute, und ich habe daher ein Bewusstsein der Superiorität über viele.

Müsste nicht in einer Goethe gewidmeten Ausstellung aus Goethes Perspektive sowie aus Sicht einer ursprünglich phänomenologischen Naturbetrachtung gerade einem solchen Weltbild kritisch oder zumindest prüfend entgegengetreten werden? Denn das Maß an jeweiliger ‹Fülle› eines bloß mathematisierten oder technisch erfassten Phänomens ist verschwindend gering gegenüber derjenigen, die sich offenbart, wenn ein Phänomen mit sämtlichen Bewusstseinskräften des Menschen, wie Goethe sagen würde, ergriffen wurde. Es ließe sich weiter entgegenhalten, dass gewisse dogmatische oder metaphysische Voraussetzungen dann in der Naturforschung liegen, wenn diese eine aus der Fülle ‹herauspräparierte› Natur für konkret und real, für eine Natur ‹an sich› hält, somit die Abstraktion vergisst, durch die ihre jeweilige ‹Natur› erst zu einem Gegenstand der Forschung werden konnte.

Die herrschenden Wissenschaften benötigen diese Art der Selbstvergessenheit und Selbstverhülltheit, um innerhalb ihrer ‹Frames› Resultate erzielen zu können. Doch gerade die scheinbaren ‹Erfolge› der quantitativen Wissenschaften verführen dazu, die Wurzel aller Wissenschaften, deren Herkunft und die Frage nach dem Sinn der Ergebnisse für den Menschen vergessen zu machen. Jede ‹objektive› Wissenschaft der Natur ist fundiert in einer ganzheitlichen, noch nicht fragmentarisch heraustheoretisierten Natur. Sämtliche Fragen der Wissenschaften führen immer zurück auf diesen Urboden, den in letzter Konsequenz das menschliche Bewusstsein in seiner Selbstenthüllung und Selbsterkenntnis bildet. Jede Natur, auch diejenige der sogenannten ‹objektiven› Naturwissenschaften, ist Erzeugnis des naturforschenden Geistes. Naturwissenschaft setzt also eine Wissenschaft vom Geiste voraus. Newtons experimentelle Kausaluntersuchung der Phänomene müsste demgemäß als fundiert in Goethes umfassender phänomenologischer Wesensforschung erkannt werden.

Den Siegeszug eines Paradigmas, für das Harald Leschs Erklärung der Licht- und Farbphänomene beispielhaft ist, hatte Goethe gerade aufgrund seiner Auseinandersetzung mit dem Newton’schen Geist vorausgesehen. Für die Deutlichkeit, mit der Goethe das Kommende erkannte, und die Intensität, mit der er dieses empfand, steht sein Kampf gegen dieses Weltbild. In einer phänomenologischen Naturanschauung ist der Geist nicht Geist neben der Natur, er kann auch nicht auf diese reduziert werden, sondern die Natur selbst rückt gleichsam in die Geistessphäre und umgekehrt der Geist in die Sphäre der Natur. Diese Geist-Natur oder den Natur-Geist nennt Goethe auch die ‹höhere Natur in der Natur› (‹Dichtung und Wahrheit›). Goethes ‹höherer› Naturbegriff zielt also nicht auch auf das andere des Geistes, sondern umfasst gleichermaßen die ‹Natur› im engeren, herkömmlichen Sinne – unter bestimmten Bedingungen auch die ‹Natur› entsprechend der neuzeitlichen Naturwissenschaft – und den ‹Geist› in traditioneller Bedeutung.

Zukunftsfähig

Die Methode bestimmt, welches Wirklichkeitsgebiet jeweils eröffnet werden kann und was die Phänomene von sich aus offenbaren. «Denn es ist ein großer Unterschied, von welcher Seite man sich einem Wissen, einer Wissenschaft nähert, durch welche Pforte man hereinkommt», schreibt Goethe einleitend in der ‹Farbenlehre›.

Ein Naturwissenschaftler auf der einen Seite, der zum Beispiel das Licht und die Farben durch deren elektromagnetische Wellennatur zu erklären versucht, und Goethe auf der anderen Seite sehen also nicht auf dieselbe Natur und damit nicht auf dieselben Phänomene, selbst wenn beide vom ‹Licht› oder den ‹Farben› sprechen. Die Frage also, welche der beiden Positionen richtig sei oder in welchen Aspekten möglicherweise beide Ansichten miteinander ‹harmonisiert› oder als ‹komplementär› betrachtet werden können, bliebe daher immer nur ein Streit um Worte, nicht um Sachen, weil beide von verschiedenen Begriffen ausgehen. Goethe würde also von Beginn an diese naturwissenschaftlichen Maßstäbe, mit denen seine Theorien geprüft und infrage gestellt werden, zurückweisen. Die empirische Fülle der Exponate im Schiller-Haus und die Historisierung von Goethes Naturforschung deuten darauf hin, dass das geistige Band und einigende Prinzip, das Goethes Methode in jedem Gebiet seiner Forschung durchzog, nicht erkannt und ergriffen wurde. So zeigt die Ausstellung zu Goethes naturwissenschaftlichem Denken in Weimar, dem Ort seines Wirkens, wie sehr die von ihm in Aussicht genommene neue Naturwissenschaft noch heute eine der Zukunft ist.


Die Ausstellung ‹Abenteuer der Vernunft. Goethe und die Naturwissenschaften um 1800› wurde am 27. August 2019 im Schiller-Museum Weimar eröffnet und ist bis zum 5. Januar 2020 zu sehen.
Titelbild: Ausstellungsplakat

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