Es gibt einen Raum im Herzen …

Für ihren künstlerischen und spirituellen Weg fand Fabienne Verdier ihre Inspiration in China. Jedoch zitiert sie heute häufig Novalis, Goethe, Jakob Böhme, Meister Eckhart usw. Wer sich in das Werk der französischen Künstlerin vertieft, wird Ähnlichkeiten mit der Goethe’schen Methode feststellen. Ihre Werke wurden kürzlich in zwei bemerkenswerten Ausstellungen gezeigt, von denen eine – im Museum Unterlinden in Colmar – bis Mai 2023 verlängert wurde.


Der große Maler Zao Wou-Ki wie der Schriftsteller François Cheng kamen aus China nach Frankreich. Fabienne Verdier hingegen reiste von Westen nach Osten. Nach ihrem Studium an der Kunsthochschule in Toulouse ging sie allein nach China, um bei den letzten großen chinesischen Meistern Kalligrafie zu studieren. In einer Autobiografie1 beschreibt sie diese harten, aber wesentlichen zehn Jahre. Solche kosmopolitischen Persönlichkeiten erreichen eine Synthese, die über kulturelle Grenzen hinausgeht und einen Universalismus erreicht, der das Wesentliche berühren kann.

Zwei kürzliche Ausstellungen, ‹Im Auge des Kosmos› in Saarbrücken2 und ‹Le Chant des étoiles› im Musée Unterlinden von Colmar3, boten die Gelegenheit, tiefer in das Werk von Fabienne Verdier einzutauchen. Die Titel dieser Ausstellungen weisen bereits auf den Kern von Verdiers Forschung hin, der in dem Satz von Novalis zum Ausdruck kommt: «Wir träumen von Reisen durch das Weltall: Ist denn das Weltall nicht in uns?»

Fabienne Verdier, Aakash, 2021, Himmelsgewölbe, Firmament, Leere, Atmosphäre, Telugu (Andhra Pradesh, Indien). Foto: Inès Delieman/Fabienne Verdier/ADAGP, Paris, 2022.

In Resonanz mit Orten und Zeitereignissen

Das Werk von Fabienne Verdier kann tief berühren. Die Kraft der fast überwältigenden, aber immer zentrierten, gehaltenen Bilder und die Schönheit der Materie sprechen weniger den Intellekt als vielmehr den ganzen Menschen an. Jedes Werk erfordert eine meditative Annäherung und erzeugt eine seelische Bewegung: einen Wirbel, eine Wolke, die Fülle eines Kreises oder eine bestimmte kosmische Seelenqualität.

Weit entfernt von der Hybris der Künstler, die den gesamten Raum für ihre Werke beanspruchen, fügt sie sie in das Bestehende ein und bringt damit eine originelle und eminent zeitgenössische Note. Bei der Ausstellung in Colmar muss der Besucher das gesamte Musée d’Unterlinden durchqueren, um Werke zu entdecken, die mit der Sammlung des Museums in Zusammenklang kommen. Die Titel ihrer Werke sind besonders sprechend: ‹So die Nacht›, ‹Sitz der Weisheit›, ‹Hellsehen›, ‹Weiße Energien›, ‹Askese› …

Die Begegnung der Künstlerin mit Matthias Grünewalds berühmtem Altarbild im Unterlinden-Museum in Colmar während der Covid-Pandemie war ein Schock. Besonders beeindruckt hat sie die Auferstehung Christi mit seiner kreisförmigen farbigen Aura. Grünewald hatte das Altarbild ursprünglich geschaffen, um kranken Menschen zu helfen, die an der Mutterkornvergiftung litten. Fabienne Verdier fragte sich, wie man das globale Ereignis der Covid-Opfer darstellen könnte, um den Seelen zu helfen, die Schwelle zu überschreiten. Durch weitere Forschung und persönliche Erfahrungen bemerkte sie, dass jeder von uns seinen eigenen Regenbogen hat. Sie kam zu der Einsicht, dass jeder nach dem Tod zu einem farbigen Kreis im Raum wird und dann zu seinem Stern zurückkehrt. In Zusammenarbeit mit einem Team von Sprachspezialisten fand sie auch heraus, dass viele alte Vornamen eine direkte Verbindung zu Kosmos, Himmel, Nacht und Sternen haben. So schuf sie die Serie ‹76 Rainbows›, den Höhepunkt der Colmarer Ausstellung, in der jedes Bild einen kosmischen Vornamen repräsentiert, und nannte daran angelehnt die Ausstellung ‹Sternengesang› (Le Chant des étoiles).

Fabienne Verdier in ihrem Atelier, Chambly, Foto: Laura Stevens/Fabienne Verdier/ADAGP, Paris, 2022.

Der innere Prozess

Fabienne Verdier hat auf ihrem Weg die Staffelei-Malerei aufgegeben und stattdessen eine neue Technik entwickelt. Dabei arbeitet sie auf große Leinwände am Boden, indem sie vertikal mit riesigen Rosshaarpinseln an der Decke angebunden malt. Diese Technik erlaubt es ihr, den ganzen Körper, den Kopf, das Herz und den Willen in die Malerei einfließen zu lassen. Ähnlich wie beim Rühren der biodynamischen Präparate Hornmist und Hornkiesel, wird der Mensch durch seinen ganzen Körper eins mit der Bewegung und gestaltet das Ätherische zwischen Himmel und Erde. Fabienne Verdier erforschte unter anderem die Wirkung der Musik, die Keimkraft der Knospen und die tellurischen Kräfte, die vom Berg Sainte Victoire ausgehen.

«Wenn ich den Baum male, werde ich der Baum, wenn ich das Wasser male, werde ich das Wasser», schreibt sie in ihrer Autobiografie. In ihrem inneren Vorgehen kann man die vier Stufen des Goe­theanismus wiedererkennen, wie sie zum Beispiel Rudolf Steiner beschrieben hat: Staunen, Ehrfurcht, weisheitsvoller Einklang mit den Weltgesetzen und schließlich Ergebenheit.4 In dem Gesprächsbuch, das 2007 vom Dichter Charles Juliet herausgegeben wurde5, beschreibt sie diesen inneren Weg. Sie beginnt damit, «vor den Türen des Seins» zu «kehren», «aufmerksam, empfänglich für das Lebendige» (S. 55) zu werden. So öffnet sie sich der Gegenwart. «Dann wandere ich in der blauen Stunde des Himmels durch den Garten und gehe auf dem Weg zum Atelier von Stein zu Stein. In der scheinbaren Banalität des Tages schnuppere ich die frische Luft […]. Ich bin in Seligkeit, verweile bei der Betrachtung der Dinge, wie sie sind. » (S. 33) Die Dankbarkeit ist es, die die Kreativität fördert: «Man wird in eine glückselige Erhebung versetzt, in der die Dankbarkeit wieder ‹quillt und überfließt›. Wenn man in solchen Momenten zum Pinsel greift, wird die Tinte allein ihr Schicksal finden.» (S. 66)

Und es ist das Herz, in dem sie schließlich einen neuen Raum der Erkenntnis und der Kreativität entdeckt (S. 58): «Es gibt einen Raum im Herzen, in dem sich die Soheit6 zeigt. […] Ein souveränes Territorium, in dem unsere Lebensimpulse die Materie zum Leben erwecken. Ein Ort des flüchtigen Erwachens für das Erhabene der Natur, nicht für gedachte Schönheit. Eine Insel des Abenteuers, die zu Innerlichkeit jenseits der Gefühle fähig ist, die immanente Wahrheiten berühren kann. Dort sind alle Metamorphosen möglich.»

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Footnotes

  1. Fabienne Verdier, Zeichen der Stille, eine Initiation in China. Edition Spuren, Winterthur 2017.
  2. Die Austellung war bis Februar 2023 zu sehen.
  3. Die Ausstellung wurde bis Mai 2023 verlängert.
  4. Charles Juliet, Entretien avec Fabienne Verdier. Paris, Albin Michel 2007.
  5. Rudolf Steiner, Die Welt der Sinne und die Welt des Geistes. GA 134, Vortrag vom 27.12.1911.
  6. Soheit: eine mögliche Übersetzung von ‹Tahata›, einem Begriff aus dem Buddhismus, der die Form der wahren Wirklichkeit bezeichnet.

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