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Ein sprechendes Bild der Individualität Rudolf Steiners

Alexander Höhne zum Buch ‹Rudolf Steiner – Kindheit und Jugend› von Martina Maria Sam.


Mit ihrem Buch ‹Rudolf Steiner – Kindheit und Jugend› leistet Martina Maria Sam einen wertvollen Beitrag. Ihre Zusammenstellung und sorgfältige Kommentierung der Lebensdaten und Selbstaussagen zu Rudolf Steiners Kindheit und Jugend schaffen eine neue Basis zum Erfassen der Entwicklungsbedingungen der Persönlichkeit von Rudolf Steiner. Im Zentrum dieser Arbeit stehen die vielen vor allem im Vortragswerk verstreuten Einzelaussagen von Rudolf Steiner selbst. Diese werden mit recherchierten historischen Daten und Bildern ergänzt. Auch wenn die Bilder in Druckqualität, Platzierung und digitaler Optimierung nicht immer überzeugen, stellen sie doch wesentliche Einblicke in eine vergangene Zeit und Kulturstimmung zur Verfügung. Gerade wenn man sich mit anderem Bildmaterial aus dieser Zeit befasst hat, wird es leichtfallen können, die teilweise vorhandenen optischen Mängel zu vernachlässigen und sich auf die Bildaussagen einzulassen. Das wird durch die lebendigen und wertschätzenden Zeilen von Martina Maria Sam und die oft wie persönliche Mitteilungen wirkenden Worte Rudolf Steiners weiter erleichtert. So entsteht durchweg der Eindruck, dass die Vermittlung von Erfahrungen und Zugängen über das Wort im Zentrum steht. Und das Wort dient weder bei Martina Maria Sam noch bei Rudolf Steiner primär der Informationsvermittlung. Vielmehr ist das Wort Ausdruck von Verbundenheit, Lebendigkeit und dem Streben zur Entfaltung und Entwicklung einer Menschlichkeit, die nur als Innerlichkeit verwirklicht werden kann. Die Bilder unterstützen dieses Angebot für Begegnung und Vertiefung, sie sind aber nicht das Entscheidende.

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Dennoch sind die Selbstdarstellungen Rudolf Steiners, die diesem Buch zugrunde liegen, keine Selfies, in denen er sich bloß bespiegelt, sondern Recherchen in die Grundlagen der Bedingungen des eigenen Seins.

In ihrer Einleitung ‹Was das Anliegen ist› betont Martina Maria Sam, dass auch dieser Zugang zur Biografie Rudolf Steiners persönlich geprägt ist und immer nur gewisse Aspekte dieser Biografie eines Menschheitslehrers fassen kann. Für ihr Anliegen, «in der Zusammenschau der Aspekte, die sich aber immer weiter entwickeln wird und muss, […] ein sprechendes Bild der Individualität Rudolf Steiners entstehen» lassen zu können, hat sie mit dieser Arbeit nicht nur sich selbst, sondern jedem engagiert Lesenden weitere – und nicht wenige – Mosaiksteine für eine solche Zusammenschau bereitgestellt.

 


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Biografie bedeutet wörtlich Lebensschrift. Es geht in ihr also darum, was ein Leben für andere Menschen bedeutet und hinterlässt und was es in die Welt oder die Kultur an Neuem, Wichtigem und Bleibendem einschreibt. Schon dieser Aspekt der Biografien zeigt, dass das In-Worte-Fassen eigener Erfahrungen, aber auch das Dokumentieren und Beschreiben von allgemein zugänglichen Wirklichkeiten eine Frage des Zugangs und der Beziehung bleibt. Eine Biografie hat nicht die Aufgabe, zu zeigen, wie jemand wirklich war, sondern wie er für mich, für sich oder für eine bestimmte Fragestellung gewirkt hat oder weiterwirkt. Gerade in einem Leben und Lehren, wie es Rudolf Steiner praktizierte, das sich dafür engagiert, andere Menschen oder bestimmte kulturelle Tätigkeiten weiterzuentwickeln, neu zu beleuchten oder in bestimmte Bereiche des Menschlichen zu vertiefen, wird das Bild sehr unvollständig bleiben müssen, wenn man nur auf den Menschen selbst schaut. Dennoch sind die Selbstdarstellungen Rudolf Steiners, die diesem Buch zugrunde liegen, keine Selfies, in denen er sich bloß bespiegelt, sondern Recherchen in die Grundlagen der Bedingungen des eigenen Seins. Und diese Recherchen sind auch für den relevant, der über die Beschäftigung mit ihnen implizit eine Methodik lernt oder zumindest kennenlernt, die auch das eigene Leben befruchten und bereichern kann. So schreibt Martina Maria Sam: «Denn auf der einen Seite stellt sich in dieser Biografie vieles urbildlich hin, was jeder Mensch in seinem eigenen Lebenslauf erleben kann; ja, wie die Autorin öfters an sich und anderen erfahren konnte, kann man an diesem urbildlichen Lebenslauf wie neu erwachen für die eigenen biografischen Erfahrungen.»

Das relativ große Buch (16,3 x 24 cm) bietet auf beinahe 500 Seiten viele Gelegenheiten, das eigene Bild von Rudolf Steiner zu vervollständigen und die Methodik einer Selbstreflexion einzuüben, die auf das Wesentliche zielt. Martina Maria Sam hat mit dieser Arbeit eine von nun an unumgehbare Grundlage geschaffen, sich näher mit der Kindheit und Jugend von Rudolf Steiner, in der Zeit von 1861 bis 1884, befassen zu können. Und das von ihr zusammengetragene Material wird auch denen dienen, die ihr nicht auf dem Weg folgen wollen, Rudolf Steiner sowohl mit einem kenntnis- und methodenreichen Kopfdenken als auch und vor allem mit einem geschulten Herzdenken zu erfassen.


Rudolf Steiner. Kindheit und Jugend, Martina Maria Sam, 488 Seiten, 50 Euro/60 Franken, Verlag am Goetheanum, Dornach 2018

Titelbild: Rudolf Steiner, 1889

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