Die Nachtseite der Erde

1 Das Geheimnis der menschlichen Seele liegt darin, dass sich ihre Weisheitsnatur nicht aus ihrer irdischen Existenz erklärt; der Seele lässt sich am Tag nicht auf den Grund schauen. Um ihre ganze Natur zu verstehen, müssen andere Erfahrungen hinzukommen. Diese bestehen darin, ihr auf ihre Nachtseite zu folgen.


Erst Erfahrungen der nächtlichen Wanderungen der Seele vervollständigen das Bild ihres Wesens. Der Schlaf bringt die Seele in ein anderes, tieferes Verhältnis zur Wirklichkeit. Er bedeutet ein vollständiges Einswerden und Einssein der Seele mit den Geist- und Seelenwesen der Dinge und Wesen, denen der Mensch am Tag begegnet.

Daraus erwächst der Seele eine besondere Urteilskraft, die sich nicht am Dinglichen, an den sinnlichen Spuren orientiert, sondern am Wesenhaften. Die der Seele eigenen Gesten der Nachahmung und Einfühlung beruhen auf der Natur ihres nächtlichen Seins. Das Einssein mit der Wesenswelt im Schlaf setzt sich am Tag fort in der Fähigkeit der Empathie. Diese ist Ursache der erkennenden Fähigkeiten der Seele. Nur indem sie eins wird mit dem anderen Wesen, kann sie es erkennen. Die Nachtwege führen sie in Gefilde, denen sie ihre Weisheitsnatur verdankt. Von ihnen empfängt sie gewissermaßen ihren Goldgrund. Ihre Weisheitsnatur wird ihr Nacht für Nacht eingeschrieben. Die Wege, die sie allnächtlich geht, ihre Nachterfahrungen machen sie erst zu einem vollkommenen Wesen.

Dass wir im Schlaf das Bewusstsein verlieren, das uns über die verborgene Ganzheit der Seele unterrichten würde, zeigt nur, was noch in uns steckt. Verlören wir dieses Bewusstsein nicht, stünden uns alle Geheimnisse offen. Nicht länger wären wir Unwissende, die erst lernen müssen, mit der Vollmacht, die uns gegeben ist, umzugehen. Wir würden die Folgen unseres Denkens und Tuns schauen, weil wir weiterverfolgen könnten, was mit unseren Impulsen im Reich des Schlafes geschieht. Wir schauten die vollständige Wahrheit unserer Motive und Taten, nämlich ihr Weiterwirken in den geistigen Welten. Wir müssten nichts mehr vormachen; die Illusionen, denen wir erliegen, zeigten sich unmittelbar. Die Nacht ist von großer Klarheit. Wir bereiten uns noch vor, diese Klarheit zu schauen, die durch alle Dunkelheit hindurchleuchtet. Wenn uns das Dunkle nicht mehr blendet, wird es transparent. Wir verschlafen dann nicht mehr seinen hellen Grund.

2 Wege der Erkenntnis der höheren Welten beschreiten bedeutet, jenen Wegen bewusst zu folgen, die von der Seele zwischen Einschlafen und Erwachen beschritten werden. Höhere Erkenntnis nimmt sich die Erlebnisse der schlafenden Seele zum Vorbild. Meditationen dieser Art schließen das Bewusstsein für die nächtliche Seite der Seele auf. Die schlafende Seele unterrichtet die wache. Von den Erfahrungen, die auf diese Weise sich einstellen können, seien hier zwei geschildert.

Man kann das Erlebnis haben, in einer besonderen Schule eingeweiht zu werden, wenn man versucht, der schlafenden Seele zu folgen. Es ist die Schule derjenigen Wesenheiten, die mit uns die Erde bewohnen, die Schule der hohen Wesenheiten der Mineralien, Pflanzen und Tiere. Die schlafende Seele hat tiefe Begegnungen mit diesen hohen Wesenheiten. Zeugnisse dieser Begegnungen lassen sich in der Meditation auffinden.

Schon den Mineralien, Pflanzen und Tieren sinnlich zu begegnen, lässt für die feine Empfindung keinen Zweifel offen, in eine besondere Schule einzutreten. Jede Pflanze, jedes Kristall und jedes Tier schaut den Menschen an; ihre Fülle, ihre Macht und ihre Schönheit, ja ihre heilenden Kräfte versetzen dem, der sich ihnen anvertraut, einen ‹heiligen Schreck›. Sie berühren die Seele, aber sie berühren offensichtlich nicht nur die Tagseite der Seele. Ihr weiser Blick dringt tiefer; er weckt uns auf für bisher unbekannte Regionen des eigenen Wesens.

Foto: ‹analog sky›, Fabian Roschka, 2022

Solche Begegnungen mit den Wesen der Naturreiche sind gute Vorbereitungen dafür, ihrer Nachtseite zu begegnen. Ihre Nachtseite ist die geistige Sphäre, in der die schlafende Seele sich mit ihnen vereint. Um von ihr bewusste Erlebnisse zu haben, ist die Meditation eine gute Methode. Sie dient dazu, durch die sinnlichen Erscheinungen hindurchzuschauen. Dazu ruft man die Vorstellungen eines Rosenquarzes, einer Arnika oder einer Kuh hervor. Von der jeweiligen Vorstellung aus lässt man sich weiter führen. Man wünscht, mit der Nachtseite des Wesens bekannt zu werden. In der Stille der Seele kann sich dieses Nachtwesen offenbaren. Es ist leichter, als man glaubt. Mit der Zeit wird man Erlebnisse von der anderen Kuh, von ihrem geistigen Wesen haben. Auch die Arnika und der Rosenquarz werden ihre Nacht-, ihre andere Seite offenbaren. Man wird ihr Bedürfnis wahrnehmen, sich dem Menschen mitzuteilen – denn was sie zeigen, ist bedeutungsvoll.

Solche Erfahrungen verbieten, sich über einen Kristall, eine Pflanze oder ein Tier zu erheben. Denn man erlebt die Würde und Erhabenheit ihrer geistigen Wesenheiten. Es ist erstaunlich, wie sie ihr wahres Wesen verbergen. Indem sie sich tief der materiellen Welt hingeben, täuschen sie über die hohe Geistigkeit hinweg, deren Träger sie sind. Beschämend ist es, wie ungenau wir hinausschauen; wie fahrlässig unser Urteil über diese hohen Wesen ist. Sich ihnen gegenüber zu verschulden, ist im Grunde unverzeihlich. Denn sie sind Götter, die im Irdischen für uns so erscheinen, als entbehrten sie des Göttlichen. Das macht sie wehrlos. Das Verlangen des Menschen nach Herrschaft würdigt sie zu Dingen herab, über die er nach Gutdünken verfügen kann. Er unterwirft sie seinen Bedürfnissen, ohne nach ihren zu fragen. Erst indem er ihrer Nacht- und Wesensseite gewahr wird, wird er so nicht mehr mit ihnen verfahren können. Er erlebt und erkennt ihre Ebenbürtigkeit. Sie nehmen nur andere Wege durch die Erdenentwicklung als er. Eine Ordnung, in der nach über- oder unterlegenen Wesen eingeteilt wird, geht von falschen Voraussetzungen aus. Den einzelnen Wesen wird dabei nicht die nötige Aufmerksamkeit und Achtung zuteil, stattdessen wird die irdische Lebensform zum richtenden Maß erklärt. Damit bringt die Seele dem nächtlichen Wesen der Welt und der Erde nicht die nötige Beachtung entgegen. Diese würde aber dazu beitragen, aus der unmittelbaren Wahrnehmung des natürlichen Zusammenklangs den Wesen der Erde wahrhaftig begegnen zu können. Es verböte sich von selbst, sie zu missachten, zu missbrauchen und zu schädigen. Wir würden beginnen, uns nach ihnen zu richten.

3 Auch die Erde hat neben der bekannten Tagseite eine nächtliche. Um die Erde wertzuschätzen, ist ein Verständnis für ihr ganzes Wesen nötig. Die Meditation ist hier von dem Wunsch getragen, in der Stille der aufmerksamen Seele dem kosmischen Wesen der Erde, ihrer Nacht, zu begegnen. Es wird Geduld nötig sein, man wird sich von einengenden und einseitigen Vorstellungen befreien müssen; schließlich stellen sich aber Erfahrungen ein, durch die sich die ‹Nacht-Erde› mitzuteilen beginnt. Klar steht bald vor dem inneren Auge, dass die Erde den einzelnen Menschen umhüllt wie die Mutter das ungeborene Kind. Die Erde umhüllt und ernährt uns jeden Moment. Jedes ihrer zahlreichen und vielfältigen Wesen trägt dazu bei. Jeder Mensch hat an der unendlichen Güte, Vielfalt und Hingabe der Erde teil. Gaben über Gaben kommen ihm zu; beständig empfängt er Eindrücke, die sich tief in seine Seele und sein Bewusstsein einschreiben, die ihn prägen, verwandeln, die ihn anrühren, auch erschrecken, seine Neugier herausfordern, seinen Natursinn und Forschergeist. Durch alles hindurch spürt er die unendliche Stille und Ruhe, die Harmonie und Lebendigkeit des Daseins. Diese meditativen Erfahrungen versöhnen. An ihnen kann sich der Mensch aufrichten, denn sie zeugen von einer Wirklichkeit, die leicht vergessen geht, die aber von einer Kraft ist, mit der sich viele Widerstände meistern lassen.

Schon ein kurzer scheuer Blick in dieses Geschehen weckt beim betrachtenden Menschen eine tiefe Verehrung für die Erde. Er erlebt, dass die Erde ein bedeutungsvolles kosmisches Wesen ist. Diese Einsichten erleichtern ihm, zu ihr und den auf ihr existierenden Wesen in ein wahres Verhältnis zu treten. Er fühlt, wie wahr die Worte von Arregoces Coronado-Zarabata sind. Nicht uns gehören die Erde und die Wesen, die mit uns die Erde bewohnen – wir gehören ihnen.

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