Faust I+II, Goetheanum Bühne, Dornach, Juli 2020. Foto Lucia Hunziker

Die Figuren leben in uns – weiter

Drei Aufführungszyklen der neuen ‹Faust›-Inszenierung spielten im Juli 2020 im Goetheanum. Bevor das Ensemble im Oktober 2020 wieder auf die Bühne tritt, sind einige Nuancen der gelungenen Neuinszenierung hervorzuheben.


Wenn es europaweit, vermutlich weltweit ein Theaterhaus gibt, in dem trotz Covid-19 aufgeführt werden darf, wird man demütig und dankbar. So erging es mir im Juli am Goetheanum. Die Aufführung des ‹Faust I und II› in neun Stunden erlebten viele als Geschenk. Die außergewöhnliche Weltlage hat die Neuinszenierung begleitet und das «umfassende Innehalten», wie Andrea Pfaehler (Regie Schauspiel und künstlerische Gesamtleitung) die Zeit des Lockdowns nennt, scheint die konzentrierte Kürzung des ‹Faust› gefördert zu haben. Sie spricht von einer «unendlichen Ruhe, die uns künstlerisch sehr gut tut». Konkret bedeutete dies, dass eine geraume Zeit nur einzeln geprobt werden konnte und alle Gruppenproben aussetzen mussten. Es berührte mich umso mehr, wie das Ensemble dann auf der Bühne als Ganzes erlebbar war. So waren die Aufführungen im Juli dicht und gefasst und es konnte einem einleuchten, dass die von Georg Darvas (Dramaturgie) vorgenommene Kürzung versucht, «hervorzuheben und nicht zu streichen», wie Pfaehler es beschreibt.

Individuelle Okulare

Goethes ‹Faust› am Goetheanum zu inszenieren, ist ein Vermächtnis, und Andrea Pfaehlers Mut, sich dieser Aufgabe zu stellen, verdient Respekt. Über eine ‹Faust›-Inszenierung an diesem Ort zu schreiben, ist verfänglich. Allzu schnell werden Urteile gebildet und es kann in diesem Rahmen weder eine Historie der ‹Faust›-Inszenierungen am Goetheanum aufgerollt werden noch eine Auseinandersetzung darüber erfolgen, was Rudolf Steiner zu ‹Faust› gesagt oder geschrieben hat und was in der Rezeption daraus entstanden ist. Stattdessen soll eine leise, persönlich-überpersönliche Nuance besprochen werden, die gleichsam jede und jeden auf sich selbst zurückverweist.


Barbara Stuten, Mephisto (links), Markus Schoenen, Mephisto (Mitte) Bernhard Glose, junger Faust rechts, Walpugisnacht, Foto: Lucia Hunziker

Viele haben als Schülerinnen und Schüler, als Lehrerinnen und Lehrer, als ‹gute Anthroposophen› ‹Faust› gelesen, studiert, gespielt oder vergangenen Aufführungen beigewohnt. Die Texte, Figuren, Hintergründe und tief verborgenen Schichten leben in einigen schon, bevor sie die Neuinszenierung 2020 am Goetheanum sehen. Die Figuren des Werkes leben aber auch im Goetheanum als (Theater-)Ort, in den Biografien der Schauspielerinnen und Schauspieler, und sie sind durch Andrea Pfaehlers Hebammenkunst in diesem Sommer neu geboren worden. Dieses ‹Leben davor› ist eine Realität, die die Aufführungspraxis am Goetheanum prägt. So erkenne ich in Dirk Heinrich (heute alter Faust) ‹meinen› ‹Faust› der Inszenierung von Wilfried Hammacher 2004 wieder, den er damals in voller Länge gespielt hat. Was schwingt vom Alten mit? Wo ist ‹Faust› erneuert? Andere können die Entwicklung von Gretchen (2004 besetzt durch Katja Axe) zur Helena (heute Katja Axe) mitfühlen und so nicht nur in der Schauspielerin und Sprecherin Katja Axe, sondern auch im eigenen Erleben, in den Nachbildern, eine Entwicklung erleben. Kurz: Die Figuren leben auch in den Zuschauerinnen und Zuschauern weiter, werden Okular für ihre Sicht auf die Welt.

Dies birgt zugleich die Gefahr, dass man als Zuschauerin die altbekannten Bilder erwartet, sucht und dann enttäuscht wird. Es gilt also gleichzeitig, diese Bilder in einer neuen Inszenierung immer wieder aktiv loszulassen und neu einzuatmen. Das einstige Gretchen, heute Sprecherin für Martje Brandsma als glänzende eurythmische Helena, tritt schließlich selbst auf die Bühne und in einem leisen Moment der Umwandlung gibt sie den Mantel an die Eurythmistin, die so im 3. Akt abtreten kann. Das ganze Stück lebt von subtilen Inszenierungsmomenten wie dieser Mantelübergabe.

Immer neue Schichten

Für die ‹Faust›-Kennerinnen und -kenner ist es die Chance, neue Schichten dieses Weltendramas zu entdecken, zum Beispiel einen Mephisto zu erleben, der sich nicht anbiedert, sondern in seiner dreifachen Verkörperung durch Barbara Stuten, Markus Schönen und Urs Biehler unglaubliche Nuancierungen an den Tag legt und im ersten Teil eurythmisch verstärkt durch Rafael Tavares noch eine weitere, schäumende, fast unbändige Schicht bekommt. Das Spiel der drei Teufel ist genial; sie umspannen Faust immer wieder durch reine Präsenz, und das Böse glänzt dabei – mit verschiedenen Gesichtern – bis in die letzte Fingerspitze. Ein subtiler Griff und gut besetzt, sodass das Böse insgesamt deutlich stärker wirkt als das Gute. Die Sorge, wieder durch Rafael Tavares bewegt, gesprochen durch Dirk Heinrich, blendet Bernhard Glose, der sonst als junger Faust auftritt, hier aber ergraut erscheint und zu einem stark gegriffenen 5. Akt beiträgt – so betrifft die Sorge gleichsam jede und jeden, vielleicht mehr denn je. Und dann tritt sie wieder auf, Gretchen, die mit ihrer Fürbitte und Liebe Fausts Seele den Aufstieg zu höheren Sphären ermöglicht. Der Chorus Mysticus in der Schlussszene geht mir tief unter die Haut – wollte doch Goethe mit diesem Werk in die verborgensten Tiefen des Menschseins vordringen.

Das Spiel der drei Teufel ist genial; sie umspannen Faust immer wieder durch reine Präsenz, und das Böse glänzt dabei – mit verschiedenen Gesichtern – bis in die letzte Fingerspitze.

Wenn Gretchen am Ende des 5. Aktes auftritt, gespielt durch die 17-jährige Elevin der Jungen Bühne, Ludowika Held, dann erinnert man sich erneut an die starke Verkörperung des Gretchens im ersten Teil – das junge Gretchen wächst über sich und auch über Bernhard Glose als Faust hinaus und ist im Nachklang die eigentliche Hauptfigur des ersten Teils.

Der Eurythmist Marian Schmitz tritt unter anderem als Ariel oder Protheus auf, was für mich zu einem Evidenzerlebnis führt und die Möglichkeiten der Eurythmie (Eduardo Torres, Regie Eurythmie) in vollem Spektrum aufzeigt – im zum Teil etwas harten, kantigen Bühnenbild (Nils Frischknecht) erscheinen die Schleierfiguren und die verschieden beleuchteten Vorhänge mit einer wohltuenden Haptik. Der Minimalismus der Bühnenausstattung im Kontrast zur kunstvollen Kostümierung (Julia Strahl) ist interessant und scheint mir zeitgemäß. Wie wäre es, wenn man noch weiter reduziert hätte und den zum Teil glänzenden Umgang mit Licht noch weiter verfeinerte?

Hier ende ich mit Kritik auf hohem Niveau, denn allein die Realität, dass die Figuren weiter leben (dürfen), individuell in den einzelnen Zuschauerinnen und Zuschauern, aber auch gegenüber den ‹Theatergöttern›, ist hoch anzuerkennen. Es bleibt der Wunsch, dass trotz Covid-19 viele Jugendliche diesen ‹Faust› erleben werden und beginnen können, die verschiedenen Lebensschichten dieses Werkes zu erahnen. – Was schaudert Faust vor den Müttern? Welche mythologischen Tiefen tun sich an einer solchen Schlüsselstelle auf? – Momente weltumfassender Fragen, die in der entstaubten, verschlankten, aber keineswegs banalisierten Inszenierung auf unsere Schülerinnengeneration warten. Wie das Geistige und das Irdische ineinandergreifen, wie Faust dazwischen ringend strebt: Es ist ein Geschenk, dieses ‹Mysterium der Gegenwart› wieder auf ‹unserer Bühne› zu sehen.

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