Die Anfahrt der Seele Resonanzen zwischen Theologie und Anthroposophie

Dass den Reformator Martin Luther auch philosophische Fragen nach einer Erneuerung des Seelenverständnisses umgetrieben haben, hat Christoph Gestrich zu seinem Buch ‹Die menschliche Seele – Hermeneutik ihres dreifachen Weges› inspiriert.


In diesem theologischen Werk findet der Lesende neben Auseinandersetzungen mit der Antike, der Scholastik und Descartes, Karl Barth und Wolfhard Pannenberg auch ein zwanzig Seiten umfassendes Kapitel über Rudolf Steiner, das sich verblüffend organisch in den Zusammenhang fügt. Die Leser erfahren zunächst, wie Luther das auf Aristoteles zurückgehende Seelenverständnis der Scholastik umschmilzt. Die menschliche Seele ist für Aristoteles und Thomas von Aquin ‹Form› des Leibes. Damit ist nun keine allgemeine Form wie eine Gattung oder ein Urbild gemeint, sondern ein jeweils den Leib gestaltendes Prinzip. So ist sie bereits durch sich selbst individuell und individualisiert sich nicht erst durch den Leib. Weil die Seele auf diese Weise wesenhaft auf ihren Leib bezogen ist und sich nicht erst nachträglich mit ihm verbindet, ist sie für Aristoteles nachtodlich nicht vom Leib ‹befreit› wie für Platon, sondern sie befindet sich in einem Zustand, der ihr nicht entspricht. Sie ist als Unsterbliche für einen Leib geschaffen. Der aber ist sterblich. Das ist das Dilemma der aristotelischen Philosophie, wie es Rudolf Steiner nachdrücklich beschreibt.(1)

Der ganze Mensch ist Seele

Luther knüpft an die aristotelische Einsicht in die Bedeutung des Individuellen an, gibt aber den aristotelischen Ansatz von der Seele als Form des Leibes auf. Für ihn wird der ganze Mensch zur ‹Seele›. Aber Luthers Wort vom ganzen Menschen wurde grundlegend missverstanden, als es zur Vorstellung kam, dass der ganze Mensch stirbt, also nicht – wie bei Thomas von Aquin – als vom Leib getrennte unsterbliche Seele auf die Auferstehung am Jüngsten Tag warte, sondern dass er mit der Auferstehung neu geschaffen werde. Das war eine Abschaffung der Seele. Von hier aus haben viele evangelische Theologen den Reinkarnationsgedanken als unvereinbar mit dem biblischen Menschenbild bekämpft.

Dass der ganze Mensch ‹Seele› ist, heißt für Christof Gestrich im Anschluss an Luther hingegen, dass die Seele auf das im Atem lebende Wort bezogen ist, auf Hören und Anreden, auf den Gottesbezug. Sie ist somit weder ein Urbild, das sich Abbilder schafft, noch eine Form, die zu ihrer Vollständigkeit einen stofflichen Leib bräuchte. Jede einzelne Menschenseele gründet statt dessen individuell in der Menschheitsgeschichte: «Die Seele sollte nicht mehr länger als übersinnliche Sondersubstanz gedacht werden. Vielmehr soll nun gedacht werden, dass der Mensch mit Leib und Seele weiter reicht, als seine irdischen Lebensjahre reichen. Die Seele selbst geht einen Weg durch drei verschiedene Dimensionen (Anfahrt, Biografie und Ausfahrt). Sie ist in innerer Sukzessivität ausgespannt vom ‹ersten Adam› bis zum ‹zweiten Adam› (Christus).»

Während Aristoteles der Seele das vorgeburtliche Dasein genommen hatte, spricht Luther es ihr also erneut zu, aber ohne deshalb in den Platonismus zurückzufallen, dem es schwerfällt, das Individuelle zu denken. Von Luther ist folgendes Wort überliefert: «Als wenig die kinder wissen im mutterleib von ihrer anfart, so wenig wissen wir vom ewigen leben.»(2) Man verfehlt diesen Satz, wenn man ihn agnostisch liest. Sein Fokus ist die verblüffende Parallele zwischen dem Vorgeburtlichen und dem Nachtodlichen.

Christof Gestrichs Seelenbegriff gehört dennoch nicht in die Begriffswelt von Rudolf Steiners Wesensgliedern. Sein Pendant in Steiners Grundlagenwerk ‹Theosophie› wäre die dort im Wiederverkörperungskapitel dargestellte Auszeichnung des Menschen, ein biografisches Wesen zu sein. Gestrich stellt dies dar und kommentiert Steiners damit verknüpften Gedanken von der Wiederverkörperung: «Zum Vergleich: Im biblischen Denken würde die Schlussfolgerung eher lauten: Es muss die Arbeit Gottes an mir schon vor meiner Geburt begonnen haben und auch nach meinem Tod noch weitergehen.»

Das, was bei Steiner an die Stelle der philosophischen und theologischen Rede von der Seele tritt, ist das Ich. Gestrichs leichtes Befremden darüber, dass für Steiner die Seele erneuert wird, während der Geist bleibt, ließe sich von hier aus vielleicht mit einem Wort der ‹Geheimwissenschaft› zwar nicht lösen, aber produktiv machen: «Der Gott, der im Menschen wohnt, spricht, wenn die Seele sich als Ich erkennt.»


(1) Rudolf Steiner, Anthroposophie, Psychosophie, Pneumatosophie. GA 115, Vortrag vom 12. und 13. Dezember 1911. Vgl. dazu Jörg Ewertowski, Anthroposophie als Geisteswissenschaft. Rudolf Steiners Geistbegriff vor dem Hintergrund von Aristoteles, Kant, Brentano und Dilthey, in: Uhlenhoff, Rahel (Hg.), Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart. Berlin 2011, S. 221 bis 226.
(2) Weimarer Ausgabe‚ WA TR 3, 276 Nr. 3339.

Buch Christof Gestrich, Die menschliche Seele – Hermeneutik ihres dreifachen Wegs, Mohr Siebeck, Tübingen 2019, ISBN 978-3-16-156383-6

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