Das Wesen unserer Sinne

Den ersten Band von Karl Königs ‹Die zwölf Sinne des Menschen› wurde hier schon besprochen. Jetzt folgt der Hinweis auf den letztjährig erschienenen zweiten Band seines Gesamtwerks.


War der erste Band mehr der Sinneslehre Rudolf Steiners und dem Kreis der Sinne als Gesamtheit gewidmet, sind es hier im zweiten Band mehr die einzelne Sinne betreffenden Studien Karl Königs, die als Frucht einer lebenslangen Beschäftigung mit diesen versammelt sind. Es spricht daraus nicht nur der treue Schüler Rudolf Steiners und der kundige Arzt, sondern mehr noch ein liebevoller Umgang mit behinderten Menschen und dem Menschenwesen als solches. Da manches Fragment bleiben musste, wird diesem Band noch ein Aufsatz über das Körperschema von Königs Kollegen und Mitbegründer des Camphill-Kinderdorfes am Bodensee, Georg von Arnim, hinzugefügt, und zudem ein Aufsatz des Herausgebers Richard Steel über die Zwölfheit der Sinne. An der Sinneslehre wird noch immer weiter geschrieben, so auch hier. Es sind zuletzt fast noch 50 Seiten an Notizen und Skizzen von Karl König mit aufgenommen worden, die sonst nirgends publiziert sind.

Leibessinne als Forschungsgegenstand

Man liest in mehr philosophischer Darstellung öfters von der Erweiterung der Sinneslehre durch Rudolf Steiner, da er von einem Sprachsinn, einem Gedankensinn und einem Ichsinn redet. Natürlich liegt hier ein geistig hochinteressantes Feld zur weiteren Forschung offen. Ja, wie schon die Engel uns im Hören über unsere erworbenen Wesensglieder hinausführen, ist eine Herausforderung, wodurch man – wenn das wissenschaftlich nachvollziehbar dargestellt werden würde – eine entsprechende Kulturwende herbeiführen könnte. In den Bereich der Erzengel weist uns der Sprachsinn, so Rudolf Steiner. Der Bereich der Archai ist wohl der Gedankensinn und in den Bereich der Geister der Form führt dann der Ichsinn. Nicht weniger tief sind die Blicke, die wir mit den unteren Sinnen in die Welt tun können. Für das Verständnis des Menschenwesens sind sie unumgänglich und für das Verständnis der Inkarnation entscheidend. Die Heilpädagogik hat als Voraussetzung, dass das geistige Wesen des Menschen unangetastet und ‹unbeeinträchtigt› sei. Es ist nur den Schwierigkeiten ausgesetzt, in einen Menschenleib zu inkarnieren. Da sich die Inkarnation besonders durch die unteren Sinne vollzieht (was schon ein Thema für sich darstellt), gilt diesen Sinnen das besondere Interesse der Heilpädagogin und des Arztes. Karl König widmete ihnen vier Aufsätze, die den Hauptbestand dieses zweiten Bandes ausmachen. König erarbeitete sich seine Einsichten immer vor dem Hintergrund des allgemeinen Menschenwesens. Diese ‹Inkarnationsprobleme› stellen uns weniger verhüllt dar, was sonst im sogenannten Normalen lebt.

Organe der Sinne

Die Darstellung der unteren Sinne fängt damit an, auf die physischen Organe dieser Sinne hinzuweisen, mit denen sie aber nicht einfach ganz zu identifizieren sind. Für den Tastsinn ist es das Netz der Druckpunkte, das nicht nur durch die Haut ausgebreitet ist, sondern sich auch im Innern fortsetzt. Ebenso erweitert der Tastsinn sich nach außen, beispielsweise in einen Stock, mit dem wir gehen. Der Lebenssinn hat im sympathischen Nervensystem (Sympathikus) sein Organ. Die Muskelspindeln (Propriorezeptoren) sind das Organ für den Bewegungssinn. Für den Gleichgewichtssinn sind es nicht nur die drei Halbbögen (Labyrinth) hinter dem Ohr, sondern zudem die Kalkkristalle im anschließenden Utriculus, die den Otolithen in den wirbellosen Tieren entsprechen. So haben wir sowohl im Letzteren einen ‹Schweresinn› wie im Ersteren, nach Karl König, einen ‹Leichtesinn› oder den eigentlichen menschlichen ‹Raumsinn›. Ohne im ruhenden Haupt verankert zu sein, könnte dieses Organ nicht zusammen das innere und äußere Gleichgewicht anzeigen. Ganz plastisch werden diese vier Organe beschrieben. König verbindet sie mit vergleichbaren Sinnen im Tierreich, was die Betrachtung lebendig macht.

Grunderlebnisse der unteren Sinne

Auf dieser Grundlage baut König nun ein Verständnis dafür auf, was der Umgang mit diesen Sinnen im Normalzustand und im Falle einer Störung oder Behinderung für die Seele bedeutet. Die Haut enthält nicht nur das Organ des Tastens (Netz der Druckpunkte), sondern es treten gerade an ihr Phänomene der Angst wie Schweißausbrüche, Zittern, das Sträuben der Haare und die Gänsehaut auf, die ihr zuzuordnen sind. Dagegen ist das Berühren als solches beruhigend. Es führt nämlich in tiefster Form auf die Sicherheit des Gottgeborgenseins zurück. Im Zweifel lebt dagegen die Angst des sich Losgerissen-Habens von der Gottheit. In der dunklen Willensberührung des Tastens wird sie wie geheilt. Im heilpädagogischen Bereich sieht man Kinder, denen die Sicherheit in ihrem Leib, namentlich in der Erfahrung ihrer Haut, verloren gegangen ist und die, sich nun mehr im Raum der Umwelt erlebend, ängstigen müssen. Therapeutisch sucht man das durch eine gesundende Verankerung im Leib und in der Haut zu heilen.

Im Lebenssinn haben wir ein dazu polares Erleben in den Seelentiefen. Man erlebt sich in sich im Wahrnehmen der Lebensfunktionen, im Wesentlichen deren Störungen im Leiden und deren Harmonie im Behagen. Der Lebenssinn erlaubt einem das Erleben von sich selbst im Leibe, wie in einem den Raum erfüllenden selbständigen Dasein. An den entgegengesetzten Erscheinungen von Furcht und Scham, die sich unmittelbar in den Lebensfunktionen (des Parasympathikus und des Sympathikus) ausdrücken, entwickelt Karl König, wie es das Ich ist, das sich hier mitteilt. Ist der Lebenssinn gestört, dann mag die gesunde Identifikation von Körper und Geistseele behindert sein. Die Sicherheit der Erdenexistenz geht verloren und führt zu autistischen Arten von Störungen und Schwermut.

Karl König: Werkausgabe Abteilung 8, Teil II, Die zwölf Sinne des Menschen. Sinnesentwicklung und Leibeserfahrung. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2021.

Im Tastsinn erleben wir den Weltengrund, im Lebenssinn unser Dasein, im Eigenbewegungssinn uns selbst, aber nun erst als Seele, indem wir uns vom starren Wandern durch den Raum befreien und verwandeln, was unsere Hände ergreifen. Wir prägen unserem Dasein den Stempel der Seele auf. Ein Freiheitsgefühl erleben wir im Bewegungssinn, sagt Rudolf Steiner. Karl König entwickelt, wie sich hier das Bewegungserlebnis und der Ausdruck von Freude zur Mimik und Kunst erweitern. Gelähmt sein lässt den Bewegungssinn sich nicht entfalten und daher die Freude nicht entzünden. Spastische Kinder haben deshalb oft Schwermut und Trauer in ihren Seelen. Falls Eurythmie hier für den Bewegungssinn wenig tun kann, so ist das Umgeben mit freudigem Lächeln immer noch hilfreich.

Schafft der Bewegungssinn das Freiheitsgefühl, so der Gleichgewichtssinn das Sich-als-Geist-Fühlen und damit die Frucht einer selbst erworbenen inneren Sicherheit. Die Aufrichtekraft entreißt uns der Erde, und wir stellen uns als Ich der Welt gegenüber. Mit dieser abgerungenen Aufrechte und dem freien Gebrauch der Hände geht die Entfaltung des Denkens und eine sich vergeistigende Mimik einher. Bei Krankheiten wie cerebellarer Ataxie oder Epilepsie sind nicht die Muskeln das Problem, sondern das geschädigte Gleichgewichtsorgan. Deshalb kann man sich zeitweise nicht aufrecht halten. Beim Downsyndrom ist das Einleben in die Gleichgewichtslage zumindest erschwert. Bei diesen Kindern zeigt sich dementsprechend eine Mühe, sich auszudrücken.

Die Heilpädagogik setzt voraus, dass das geistige Wesen des Menschen unangetastet und ‹unbeeinträchtigt› sei.

Der plastischen Darstellung Karl Königs können wir entnehmen, wie willensartiges Seinsvertrauen, lebendiges Selbstgefühl, mehr seelisches Freiheitsgefühl und noch geistigeres Selbstbewusstsein auf der Grundlage der unteren Sinnesbetätigung ruhen. Ein Blick in die Schwierigkeiten der Entwicklung erhellt hier die sonst ziemlich undifferenzierten Seelentätigkeiten im alltäglichen Leben. So kann die Lektüre dieser schönen Ausgabe von praktischem Wert in der Erziehung und Lebensgestaltung sein.

Das Bild des Selbst und das Bild des andern

Eine anregende einzelne Bemerkung Karl Königs lautet, dass gerade durch den zusammenfassenden Raumsinn (Gleichgewichtssinn) die Seele sich in die Gestalt und Form ihres Leibes einlebt. Georg von Arnim führt aus, dass wir da nicht an ein ‹Haben des Leibes› wie ein Verfügen über einen gefüllten Raum zu denken haben, sondern an ein Bewusstsein seines eigenen Spielraumes. Werden die Sinneserlebnisse mit den Leibesverrichtungen zuerst nur erlebt und in Gewohnheiten geübt, vollzieht sich bei der Geburt des Ätherleibes um das siebte Jahr herum ein Wandel. Die Möglichkeiten des Leibes werden jetzt in dem zusammenfassenden ‹Körperschema› mehr bewusst, und zwar als eine innere Spiegelung im freieren Teil des Ätherleibes. Sie ist nicht geometrische Raumgestalt, sondern das einheitliche Selbsterleben des ‹Ich-Kann› im Raum. Anders gesagt: Das Leben mit den vier unteren Sinnen hat sich zu einer viergliedrigen Menschengestalt verdichtet, in der wir tagsüber uns unserer selbst bewusst sind. Wie ein Kind dieses Körperschema bildet, wird Georg von Arnim zum diagnostischen Instrument für die Inkarnationsentwicklung.

Richard Steels Beitrag im Buch schließt den Kreis des vollständigen Organismus der Sinne unter anderem mit der Betrachtung des Ichsinns als ‹Krönung des Menschenwesens›. Ergibt sich aus den vier unteren Sinnen ein Bild des eigenen Seins und aus der Betätigung der vier mittleren Sinne (Geschmack, Geruch, Seh- und Wärmesinn) die Sicht auf die Umwelt von uns aus, so bringen die vier geistigen Sinne (Gehör, Sprachsinn, Gedankensinn und Ichsinn) die geistige Seite der Welt an uns heran. Der Ichsinn vermittelt uns den anderen Menschen als Ichwesen, im Gegensatz zum Gleichgewichtssinn, der uns die Gestalt unseres Selbst erleben lässt. Nun ist ein nicht geringes Geheimnis, dass das Organ des Ichsinns eben die eigene Gestalt sei. So schließt sich tatsächlich in diesem herausfordernden Werk der Kreis. Damit möchte das Buch also den an diesem Kapitel der Anthroposophie Interessierten empfohlen sein!

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