Das Wesen der Versöhnung

1 Unversöhnt mit sich zu sein, ist ein bekannter Zustand. Er bezeichnet das übliche Verhältnis, in dem wir zu uns stehen. Eigentlich sollten wir ihn nicht hinnehmen. Aber die Schleier, mit denen wir vor uns selbst verborgen sind, sind schwer zu durchdringen und zahlreich. Unser Wissen über uns ist begrenzt. Mein Anfang, die Wege, die ich schon gegangen bin, die Erfahrungen, die ich schon gemacht habe, sind nur schwer zu ermitteln. Das berühmte ‹Erkenne dich selbst› erinnert doch zuerst an einen Mangel, nämlich an unser Nichtwissen. Selbsterkenntnis wäre ein Weg der Versöhnung mit sich, mit seiner Herkunft, seiner vollständigen Wesenheit. Wir stehen dann in unserem Licht. Wir schauen uns ganz. Doch liegen Widerstände auf den Wegen, die uns mit uns versöhnen. Wir scheuen uns noch, sie zu gehen.

2 Diese Scheu liegt darin, dass wir nicht nur lichtvolle Wesen sind. Wir tragen dunkle, mitunter sehr dunkle Anteile in uns. Abstand zu ihnen einnehmen zu wollen, ist verständlich. Die ehrliche Selbstschau fördert eine ganze Reihe solcher Anteile zutage, die ohne Worte abstoßend, hässlich und grausam sind. An ihnen, diesen Schatten oder Schattenwesen, ist kein Vorbeikommen. Um nur einige zu nennen: Stolz, Eifersucht, Hochmut, Ruhmsucht, Neid und Verächtlichkeit. Sie mögen Abneigung hervorrufen. Man hat längst seine Meinung über sie. Man verdammt und ignoriert sie. Dennoch sind sie unser Interesse wert. So erweist sich der Neid, indem man ihn genauer anschaut, als ein faszinierendes Wesen. Man neidet einem anderen Menschen, was man selber gerne hätte. Man gönnt ihm nicht sein Glück, seinen Erfolg, seinen Einfluss, seinen Reichtum, seinen Ruhm, weil er etwas verwirklicht, nach dem man selbst hungert. Im Neid offenbart sich ein Unglück, eine Unzufriedenheit, die man sich nicht zugesteht. Er ist Zeichen eines uneingestandenen Mangels. Man leidet darunter, ohne es zu merken. So oder ähnlich ist es auch mit den Geschwistern des Neids. Sie verweisen auf einen Mangel, auf eine unversöhnte Seelenlage. Das macht ihre Faszination aus. Sie enthalten Geheimnisse, um die man wissen möchte.

Die Beschäftigung mit ihnen lohnt aus einem weiteren Grund. Die genaue seelische Wahrnehmung fördert die unerwartete Beobachtung zutage, dass unsere Aufmerksamkeit die Schattenwesen verwandelt. Unser Interesse für sie bewirkt, dass die starren Masken, die sie tragen, Sprünge bekommen. Ihre dunkle, abstoßende Erscheinung wird zusehends durchlässiger. Hinter den dunklen Schleiern tritt ein erster lichter Schimmer hervor. Stolz, Eifersucht, Hochmut sind nicht bloße Schatten. Sie sind mehr, viel mehr, als wir bisher glaubten. Die Meinung, die wir über sie hatten, stellt sich als eng und begrenzt heraus. Sie haben eine Geschichte, einen Ursprung. Sie haben auch Licht. Sie nur über ihr Schattensein zu definieren, ist unzureichend. Schließlich begreift man, dass sie gefallene Wesen sind. Und man erkennt, dass man selbst der Grund ihrer traurigen Existenz ist. Sie sind meine Geschöpfe. Ich habe sie offensichtlich in den Abgrund gestoßen, in dem sie nun ihre Existenz fristen. Meine Mängel, auch meine Wunden zwingen ihnen ihre Existenz auf. Wir sind die Ursache der Schatten. Das heißt aber auch, dass wir es in der Hand haben, sie aus ihrer unglücklichen Lage zu befreien.

Augenscheinlich haben die Schattenwesen ihren Ursprung in Ereignissen, durch die wir verwundet wurden. An den Schatten sind Zeichen unverheilter Wunden. Wer ohne Wunden bliebe, hätte keine Schatten, er wäre ohne Niedertracht, Angst und Wut. Aber so eine Existenz ist uns vorerst nicht vergönnt. Wir sind ausersehen, verwundet zu werden.

Jasminka Bogdanovic, Fraktal 0930, 2022, Buntstift/Bleistift auf Papier, 17,5 × 23,5 cm

Die Götter haben uns zu verwundbaren Wesen gemacht. Allerdings sind für die Götter die Wunden nicht das, was sie für uns sind. Die Wunden sind für sie voller Licht. Sie schauen in ihnen besondere Organe, kosmische Organe, durch die besondere Entwicklungen möglich werden. Die Wunden sind Seherorgane, die noch in der Zukunft ihre wahre und eigentliche Aufgabe erfüllen werden.

Das wollen uns die Götter sagen, dass wir durch unsere Wunden sehend werden. Wir erlangen eine Sensibilität, die nur so möglich wird. Sinne werden uns geschenkt, die hohe Begabungen darstellen. Die Schattenwesen verbergen die höhere Natur der Wunden. Sie offenbaren uns nur so viel, wie wir von der Wahrheit der Wunden ertragen können. Das Licht im Abgründigen und Verachteten schauen zu wollen, ist der Schlüssel dafür, die Weisheit der Schatten zu erkunden. Man muss sich schon zumuten, vor dem Zerbrechlichen, Verwundeten, Bösen nicht zurückzuschrecken und auch dort weiterzufragen und weiterzuforschen, wo die hellen Wege aufhören. Bedeutsame Seelengeheimnisse liegen dort, wo die Finsternis wieder zu leuchten beginnt.

An den Schatten sind Zeichen unverheilter Wunden. Wer ohne Wunden bliebe, hätte keine Schatten.

3 Ein innerer Weg führt zum Wesen der Versöhnung. An ihm ist nichts Äußerliches. Der Schlüssel zur Versöhnung liegt in inneren Welten. Selbsterkenntnis kann nach den lichten und den dunklen Seiten der Seele betrieben werden. Beide hängen aneinander, sie tragen und bedingen sich. Deshalb geht man, wenn man ins Licht geht, immer auch in sein Dunkles und umgekehrt. Beide Seiten liegen miteinander nicht unbedingt im Streit. Sie haben sich nötig. Sie dienen sich. Die Existenz der lichtvollen Wesen unserer Seele und die Existenz der dunklen Wesen stellen ein Geflecht dar, dem mit moralischen und einseitigen Urteilen nicht beizukommen ist. Es ist immer ein Zusammenspiel von Licht und Finsternis. Sich zu diesem Zusammenspiel zu erheben, ist Voraussetzung dafür, die Wahrheiten von Licht und Finsternis zu begreifen.

Indem man sich auf die Spur des eigenen Wesens begibt, stößt man auf Aspekte der Persönlichkeit und Individualität, die man mit den Namen Ego, Person, Individualität und Höheres Selbst belegen kann. Diese Wesensaspekte sind durchweg faszinierende Wesenheiten. Sie bilden das geistige Wesen des Menschen. Sich mit ihnen zu befassen, ist ein inneres Abenteuer. Jede verbirgt ihr vollständiges Wesen hinter einem Schleier. Man kann vor diesen Schleier mit dem Wunsch hintreten, ihnen begegnen zu wollen. Man wünscht, dass sich das Wesen des Ego, der Person, des Ich oder des Höheren Selbst zeigen möge. Man bittet darum. Wünsche in diese Richtung ausgesprochen, verfehlen ihr Ziel nicht. Denn diese Wesen haben ein Interesse, von uns gesehen und erkannt zu werden. Sie leben hinter dem Schleier unseres Bewusstseins wie in einer nicht selbst gewählten Verbannung. Wir sind es, die ihnen dazu die Erlaubnis erteilen, indem wir dem Schleier seine Undurchlässigkeit nehmen.

Jede dieser vier Wesenheiten ist sehr eigen. Jede erfüllt für den Menschen bestimmte charakteristische Aufgaben. Vom Ego geht eine unerschütterliche Kraft aus, uns mit unserem irdischen Schicksal zu vereinen. Das Ego verweist auf unsere unmittelbaren Bedürfnisse, unsere Wünsche und Begehrlichkeiten. Ihm folgend werden wir irdisch. Wir erweisen uns als lustvolle, leidenschaftliche Wesen. Das Ego dient unserer Bedürfnisbefriedigung. Dank ihm erfahren wir uns als körperliche Wesen, deren Heimat die Erde ist. Das Ego ist nicht mit Egoismus gleichzusetzen. Es verleiht Beharrungsvermögen. Dank ihm kann man seinen Zielen folgen. Verlässlichkeit und Treue sind Tugenden des Ego. Es hat eine reine und kraftvolle Seite. Es darf nicht mit dem Bedürfnis verwechselt werden, das sich in egoistischen Handlungen äußert. Diese sind ohne das Ego nicht möglich, aber es ist durch diese nicht hinreichend charakterisiert. Das Ego ist mehr. Ohne das Ego können wir nicht für uns und nicht für andere eintreten, wir entwickeln keine Widerstände. Das Ego befeuert den Willen.

Die Person ist das Bild unserer irdischen Existenz. Sie ist aber auch das Bild, das wir uns von einem anderen Menschen machen. Der andere Mensch erscheint als Person. Er ist an einem bestimmten Ort geboren, ist ein körperliches Wesen, trägt einen Namen, ist einem Schicksal unterworfen, hat Begabungen und Fähigkeiten. Die Person ist nicht von seinem Schicksal zu trennen. Die Person besteht zwischen Geburt und Tod. Davor ist sie zwar veranlagt, aber nicht inkarniert, danach vergeht sie unweigerlich und kehrt nie mehr in die irdischen Verhältnisse zurück. Die Person gehört mit dem Tod der Vergangenheit an. Die Person ist dennoch ein Bild der menschlichen Individualität. Sie nimmt dieses Bild an und legt es wieder ab. Die Individualität leuchtet in jeder Person. Sie lebt in ihren Äußerungen, ihren Gesten, ihrem Verhalten, der Stimme, dem Blick.

Jasminka Bogdanovic, Fraktal 0725, 2022, Buntstift/Bleistift auf Papier, 17,5 × 23,5 cm

Die Individualität des Menschen überragt das Ego und die Person. Doch durch die beiden findet sie zusammen. Sie lebt in den Impulsen des Ego wie in der Person. Die Individualität ist aber genauso die höhere Hülle und Quelle des Ego und der Person. Mit unserem irdischen Bewusstsein können wir der Individualität nicht auf allen ihren Wegen folgen. Im Schlaf und nach dem Tod flieht sie unserer Wahrnehmung. Die Individualität hat ein Dasein, von dem der irdische Mensch ausgeschlossen ist. Für das Ego und die Person gilt das nicht. Mit ihnen sind wir in ruhigen, übersichtlichen Gewässern. Mit dem Wesen der Individualität stehen wir vor dem Geheimnis unserer selbst. Das Thema der Versöhnung bekommt hier seine besondere Brisanz. Da wir uns selbst eine unbekannte Größe sind, fühlen wir uns halb, unvollkommen und klein. Das ist eine Wunde, vielleicht die erste. Damit ist für einen Abgrund gesorgt, der durch uns hindurchgeht. Er will überbrückt und der Schmerz, den er verursacht, will gelindert werden. An dem Wesen der Individualität geht auf, worin die große Arbeit des Menschen an sich selbst besteht. Es zeigt sich die Wunde, mit der wir, aus welchen Gründen auch immer, gezeichnet sind.

Unser göttliches Wesen, das Höhere Selbst, ist augenscheinlich ein Aspekt unserer Individualität. Im Höheren Selbst erscheint ein Wesen, das die Individualität überragt. In ihm ist die Individualität von einem überindividuellen kosmischen Dasein und Leben durchdrungen. Das Selbst ist eins mit der göttlichen kosmischen Welt und Schöpfung. Unserem ans Irdische und Leibliche gebundene Bewusstsein muss das Selbst als unerreichbar erscheinen. Das Selbst entzieht sich jeder Beschreibung und Darstellung. Wir können es nur in Momenten vergegenwärtigen, die wie eine Gnade über uns kommen. Diese besonderen Momente weisen auf Zustände vollständigen Einsseins mit dem Kosmos. In ihnen zeigen sich Vorahnungen von Daseinsformen vollständigen Versöhntseins.

Das Licht im Abgründigen und Verachteten schauen zu wollen, ist der Schlüssel, um die Weisheit der Schatten zu erkunden.

4 Wir werden als Wesen geboren, die verwundbar sind. Die Wunden verdanken wir den Göttern. Sie haben uns mit diesem Makel versehen. Von ihnen stammt, dass wir Schmerzen empfinden, dass wir Erniedrigung und Verzweiflung erfahren und unter Ängsten leiden. Wir sind mit Wunden gezeichnet, doch die Götter sehen das anders. In ihren Augen ist jede Wunde ein Weg, der noch nicht gegangen wurde, noch gegangen werden kann. Sie prüfen uns damit. Sie tun es aber mit Bedacht, damit wir die noch ungegangenen, aber längst veranlagten Wege finden. Jeder Mensch geht sie für sich, aber nicht nur. Wir gehen die neuen Wege auch immer für andere Menschen. Letztendlich gehen wir sie auch für die Götter. Was uns mit unseren Wunden versöhnt, strahlt hinauf bis in die geistigen Welten.

Leid und Ängste sind ungeliebte Störenfriede, die man am liebsten eliminieren möchte. Aber das lassen sie nicht zu. Denn sie stehen in einem höheren Auftrag. Man kann empfinden, dass sie Botschaften haben. Ihre Fragen sind zahlreich, hier nur drei: Was kannst du tun, um aus den leidigen Zuständen der Entzweiung, der Verwundbarkeit, der Angst herauszukommen? Wie willst du die Ganzheit deines ursprünglichen Wesens erreichen? Wie möchtest du die Schatten in deiner Seele verwandeln und ins Licht setzen? Diese Fragen richten sich an uns durch das Leid, das uns widerfährt. Das Leid ist allemal nicht gegen uns, auch wenn es so erscheinen mag. Es möchte etwas von uns, dem wir noch auf die Schliche kommen müssen. Es winkt uns auf Wege, die uns noch bevorstehen zu gehen, auf Wege der Versöhnung mit uns selbst.

Die Götter belassen es nicht dabei, uns Wunden zuzufügen. Wir sind zu wichtig, als dass sie uns ins Verderben rennen ließen. Sie sorgen für das Licht, für die Zuversicht und Gewissheit auf Heilung und Rettung. Immer liegt in jeder Wunde die Kraft ihrer Linderung. Keine Finsternis kann ohne Licht sein. Das ist das Vermächtnis der Götter an uns. Leid, selbst das schlimmste, ist eine Vorahnung von Wachstum und Reifung. Die Wege, die aus ihm herausführen, laufen wie Bahnen aus Licht, das genau genommen Götterlicht ist, neben uns her. Sie sind da, ob wir sie sehen oder nicht. Diese Wege zu sehen, ist zugegeben eine noch seltene Kunst. Dass sie schwer sein mag, heißt nicht, dass man sie nicht erlernen kann. Auch hier kommt es darauf an, was ich erwarte und mir zutraue. Erwarte ich Lösungen, werden sie kommen. Traue ich mir diese Kunst zu, werde ich sie beherrschen.

Wesensbegegnungen mit der Versöhnung sind rar. Sie lassen sich aber herbeiführen. Am Anfang steht der Wunsch nach der Begegnung mit dem Wesen der Versöhnung. Man kann dieses Wesen in seinem Inneren, in der Stille der Seele aufsuchen. Man kann es bitten, sich zu offenbaren. Gelingt es, wird offenkundig, dass es die Seele mit besonderen Kräften erfüllt. Die Wesenheit der Versöhnung stiftet etwas, das man noch nicht kennt. Sie erfasst die Seele wie aus den Weiten des Kosmos. Sie ist unergründlich. Es zeigt sich, dass die Versöhnung ein Engelwesen ist, das ein Band trägt, nach dem wir uns schon lange sehnen. In diesem Band ist alles in eins verwoben. Streit, Trennung sind unmöglich. Alles und jedes findet Erfüllung, denn es ist vom Ozean des ursprünglich Einen umfangen, behütet und getragen.

Das Wesen der Versöhnung ist eine Heilerin. Es zeigt, dass wir mit unserem wahren Wesen nicht im Streit stehen müssen. Es verleiht den Glauben an die heilenden Kräfte des Schicksals. In ihm wird die Seele leicht. Sie vergisst die Schuld. Sie vergisst, was ihr oder anderen angetan wurde. Denn Schuld und Leid sind nicht dazu bestimmt, die Zeiten zu überdauern. Das Wesen der Versöhnung schärft den Blick dafür, dass im Leiden eine Kraft der Zukunft liegt. Durch Leid werden wir hellsehend. Wir lernen uns anders schauen. Und wir werden mitfühlend für das, was um uns ist, in einer Weise, die nur Leiderfahrungen stiften können. Von dem Wesen der Versöhnung geht die Botschaft aus, dass Leid verwandelt. Sie sagt, dass Leiden die Quelle von Liebe ist.


Titelbild Jasminka Bogdanovic, Fraktal 0104, 2022, Buntstift/Bleistift auf Papier, 17,5×23,5 cm

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